Mehr Utopie wagen!

g.WaSa     -     Utopien sind in unserem Politikbetrieb gar nicht gut angesehen! Wer einen ungewöhnlichen Vorschlag macht, kann ziemlich sicher mit der Antwort rechnen: „Das ist utopisch!“ – womit gemeint ist: „So was haben wir ja noch nie gemacht, und wer so etwas vorschlägt, kann ja nur ein vollkommen realitätsferner Phantast sein!“

 

Dabei war „Utopie“ mal die Beschreibung einer Gesellschaft, die ihr Zusammenleben und ihre Entwicklung auf ideale Weise gestaltet – um so viel besser als die eigene Gesellschaft, dass der qualitative Unterschied der Utopie zur aktuellen schnöden Realität unverkennbar ist, aber im günstigeren Fall doch so nahe, dass man mit einiger Kreativität und Anstrengung die utopischen Verhältnisse auch bei sich schaffen könnte. 

 

Thomas Morus: Utopia (1516)

Max Horkheimer  drückt das so aus: die Utopie sei „die Kritik dessen, was ist, und die Darstellung dessen, was sein soll“ und beschreibt damit genau das, was Thomas Morus mit seinem „Utopia“ beabsichtigte. Und für Ernst Bloch, den Philosophen des „Prinzip Hoffnung“  bedeutete Utopie „Denken nach Vorn“, ein Denken (oder auch: „Träumen“), das einer bewußt gestaltenden, umgestaltenden Phantasie“ bedarf. Wenn eine erträumte ideale Gesellschaft „Nicht“ ist, so ist die Utopie „Noch Nicht“ und es ist Aufgabe von uns Menschen, sie zur existierenden Gegenwart zu machen.

 

Doch dazu muss sie zunächst einmal formuliert, überhaupt erst einmal gesehen werden: Es bedarf der Vision einer besseren Zukunft! Durch Konkretisierung wird die Vision zur Utopie – die dann (vermutlich in den meisten Fällen: durch harte Arbeit) zur Realität verwirklicht werden kann. Das das möglich ist, hat – zumindest im kleinen Maßstab – beispielsweise Robert Jungk mit seinen „Zukunftswerkstätten“ gezeigt.

 

Und wem fallen nicht genügend Visionen ein, deren wir dringend bedürften?!  Die Vision einer klimaneutralen Energiewirtschaft. Die Vision einer an Gesundheit  und Nachhaltigkeit orientierten Lebensmittelwirtschaft. Einer gerechten Verteilung von Einkommen und Gütern. Einer (z. B. in Bezug auf Religion) toleranten Weltgemeinschaft. Eines Gesellschafts- und Wirtschaftssystems ohne zerstörerisches Wachstum  ... Frieden .... Freiheit ... Gerechtigkeit ...

 

Unsere Kanzler und ihre Utopien

Doch seit Willy Brandts Vision „mehr Demokratie wagen“ ist es in der deutschen Politik schlecht bestellt um die Vision. Und dementsprechend noch schlechter um die Utopie. War da noch was ... ach so, ja: Verwirklichung ...

 

Von Brandts Nachfolger als Kanzler, Helmut Schmidt, ist die Aussage überliefert „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“.

 

Dessen Nachfolger wiederum hatte zwar eine Vision („Blühende Landschaften“), doch dachte er gar nicht daran, diese zur Utopie zu konkretisieren, geschweige denn dass er fähig gewesen wäre, sie zu verwirklichen. Vielmehr erwartete er wohl, die Landschaften würden von alleine blühen. Da hat er Blochs „Prinzip Hoffnung“ gründlich missverstanden!  Im übrigen frage ich mich, ob während der langen Kanzlerjahre Helmut Kohls das Wort „Utopie“ überhaupt im Duden stand.

 

Gerhard Schröder ließ sich dann gern „Autokanzler“ nennen. Utopie einer autofreien Gesellschaft? Oder auch nur eines umweltverträglichen Verkehrssystems? Oh weh! „Basta!“ anstelle phantasievoller, „ergebnisoffener“ Diskussionen!

 

Und unsere gegenwärtige Kanzlerin? Der wird gerne eine Politik des ruhigen Abwartens vorgeworfen. Mal sehen was kommt. Und wenn die Probleme dann kommen, dann ist ihre Politik „alternativlos“. – Weniger Utopie ist kaum vorstellbar!

 

So beherrscht also das „Muddling Through“, das „Weiter so“ unsere Politik! Man wurstelt sich weiterhin so durch. Man spart hier ein paar Tonnen CO2 und installiert dort neue Stromtrassen. Nehmen die Autos überhand, baut man für sie neue Straßen und Parkhäuser. Man bemüht sich (hoffentlich), möglichst viele Flüchtlinge aus dem Mittelmeer zu holen und streitet sich dann um Verteilungsquoten ...

 

Vision, gar Utopie einer wachstumsfreien Gesellschaft? - Tagtäglich wird (längst auch von den Grünen) weiteres Wachstum gepredigt, weil wir ohne Wachstum in Zukunft unsere Schulden nicht mehr zurückzahlen und die Reichen nicht mehr immer reicher machen können. Wachstum ist alternativlos! Da sind auch all die hochqualifizierten und gut bezahlten Regierungsbeamten, die zahllosen Wissenschaftler in Staatsdiensten nicht fähig, sich mal gründlich Gedanken um Alternativen zu machen.

 

Wer die Idee (Vision) einer wachstumsfreien Gesellschaft auf die Tagesordnung setzt, gilt schnell als „Utopist“. – Eben!

 

Vision anno 2015: "Wahlurnen in Supermärkten"

Reicht ein Bild vom Garten Eden als Utopie? - In der Christuskirche zeigen 19 Künstler ihre Utopien

Gestern habe ich in der Zeitung gelesen: „Parteien wollen Wahlen wieder attraktiver machen“. Die Wahlbeteiligung, richtiger gesagt: die Nicht-Wahlbeteiligung, zuletzt bei der Landtagswahl Bremen bei ziemlich genau 50 %, bereitet Sorgen. Und da gibt es dann so geniale Ideen, wie: Wahlurnen auch in Bahnhöfen und Supermärkten aufstellen. Oder die Briefwahl vereinfachen.

 

Mag sein, dass Ihr so den Wahlvorgang ein bisschen „attraktiver“ macht. Aber wirklich helfen würde: die zu wählenden Parteien attraktiver machen! Werdet  unterscheidbar!  Definiert (und löst!) Probleme, anstatt an den Symptomen zu kurieren! Formuliert Ziele! Gestaltet die Zukunft!

 

Wohlfeile Forderungen, ich weiß. Dahin zu kommen ist schwer, ist ein langer Weg.

 

Vielleicht wären ja Utopien ein Anfang!