Weihnachten auf dem Herren-Klo

Lemgoer Kultur-Bahnhof erzittert unter Lachsalven

 

 

WaSa. Lemgo.  -   „Lachen ist die beste Medizin“ – wenn diese alte Volksweisheit tatsächlich stimmt, dann müsste jeder Arzt im Umkreis von 111 Kilometern um Lemgo seinen Patienten per Rezept einen Besuch im „Kultur-Bahnhof“ der alten lippischen Hansestadt verordnen. Hier spielt nämlich die freie Theatergruppe „Stattgespräch“ Jan Ericsons Komödie „Herren“; und wer es während der zwei-ein-halb-stündigen Vorstellung schafft, einmal vier Minuten lang nicht zu lachen, der muss schon recht abgestumpft sein!

 

Kein Wunder, dass sich dieser Spaß zum größten Dauerbrenner des kleinen Privattheaters entwickelt hat: Die 70. Vorstellung steht unmittelbar bevor; und seit der Premiere im Herbst 2005 wird dieser Publikumsmagnet „alle Jahre wieder“ auf die Bretter geholt – sinnigerweise zur Weihnachtszeit, handelt es sich doch um ein Weihnachtsstück.

 

Ein Weihnachtsstück??? – fragt sich der Besucher, je nach Befindlichkeit amüsiert oder peinlich berührt. Denn in seinem Theatersessel sieht er sich einem halben Dutzend Klo-Kabinen gegenüber, einzelne davon mit einladend geöffneter Tür und freiem Blick auf die weiße Schüssel. Der Stücktitel bezeichnet also nicht das Personal, sondern (zunächst mal) die Örtlichkeit ... Die Berieselung mit schmalziger Musik lässt vermuten, dass wir uns auf einer Kaufhaus-Toilette befinden; das Liedgut („White Christmas“) zeigt dann: Es ist (doch) Weihnachten! Und zwar Heiligabend, kurz vor Kassenschluss. Die Musik verklingt, eine freundliche Lautsprecherstimme verabschiedet die Kunden in die Feiertage, nicht ohne sie für Montag zu Umtausch und neuen Sonderangeboten einzuladen. Die Putzfrau macht ihre letzte Runde, provoziert dabei mit ihrem bizzaren Verständnis von Hygiene die ersten Lachsalven, und schließt dann ordentlich ab – wobei sie geflissentlich übersieht, dass im letzten Moment noch drei Herren von ihrem drängenden Bedürfnis in die Kabinen getrieben worden sind.

 

Zum Glück (für die Zuschauer) entstand das Stück Mitte der 80er Jahre, als noch nicht jeder ein Handy mit sich trug, mit dem man jederzeit Hilfe herbeitelefonieren könnte. Und deshalb sehen sich die drei jetzt gezwungen, Weihnachten gemeinsam auf dem Klo zu verbringen. Allein die Schadenfreude (die ja angeblich die schönste Freude ist) versetzt das Publikum schon in eine heitere Grundstimmung. Und auf dieser Basis wird während der nächsten 150 Minuten ein Feuerwerk von Vergnügen, Spaß und Witz abgebrannt, das gespeist wird aus Situationskomik, Ungeschicklichkeiten, Mißverständnissen, Konkurrenzgebaren und Boshaftigkeiten, die alle hier nicht beschrieben werden können und auch gar nicht sollen – da müssen Sie schon selbst hingehen und sich das ansehen und anhören!

 

Und keine Angst: die Geschichte beschränkt sich beileibe nicht auf banalen Spaß und ordinären Klamauk. Zum Scherz hinzu kommt durchaus die tiefere Bedeutung. Dafür sorgt schon die Personenkonstellation. Zur unfreiwilligen Toiletten-Weihnachtsfeier treffen nämlich Vertreter der unterschiedlichsten Hierarchiestufen aufeinander: da ist der Lagerarbeiter Dahlmann (Stephan Gottwald): respektlos und lebenspraktisch; dann der Verkäufer Riemer (Markus Mogwitz): ein beflissener A...kriecher, der auch mal eine fulminante „Ferdinand, der pazifistische Stier“-Show abliefert, Und schließlich der Geschäftsführer im feinen Maßanzug: eine Paraderolle (mal wieder) für Frank Wiemann. Alle drei sind nicht die einfach strukturierten Typen, wie sie in einem platten Boulevard-Schwank zu Hause wären.

Nein, die drei Vollblutschauspieler von „Stattgespräch“ bringen gekonnt drei Charaktere auf die Bühne, die – ja, sicher! – einen Lachsturm nach dem andern auslösen; die aber auch immer wieder Anlass geben zum Innehalten, zum Nachdenken, für ein Aha-Erlebnis. Und sei es nur äußerlich, in der Pose: wenn der einfache Lagerarbeiter plötzlich als Denker à la Rodin auf der Bühne sitzt. Er ist aber auch derjenige, der Zeitung liest (und zwar nicht etwa die mit den vier Buchstaben, sondern immerhin das Lokalblatt). Und er ist der Einsame unter den dreien: der Geschiedene, den die Erkenntnis trifft: „Das ist das erste Mal seit Jahren, dass ich an Weihnachten in Gesellschaft bin“. Dass allerdings die beiden andern von ihren Familien offenbar nicht so sehr vermisst werden, dass die sie suchen lassen würden, diese Erkenntnis muss der Zuschauer schon selbst gewinnen.

 

In der Person des Geschäftsführers Bruns wird das Stück zur Versuchsanordnung über das Verhalten von Führungskräften in Extremsituationen. Wiemann verleiht ihm sehr schön ein paar Tics und Macken (z. B. das schon zwanghafte / zur Perfektion getriebene Spiel mit dem schicken Herren-Täschchen), zeigt aber vor allem eine vielschichtige, vielleicht auch nur: gespaltene Persönlichkeit. Dieser Manager hat sehr wohl gelernt, wie wichtig logisches Denken und besonnenes Überlegen ist – zeigt aber deutliche Defizite bei der praktischen Umsetzung. Einerseits ist er in der Kommunikation mit seinen Untergebenen geradezu autistisch und rettet sich nur mit Mühe in Allgemeinplätze („So jung kommen wir nicht mehr zusammen“), wobei auch hier seine Variationsbreite sehr begrenzt ist („Ein schöner Baum. ... Wirklich, ein schöner Baum!). – Andererseits beherrscht er meisterhaft das Prinzip „teile und herrsche“ und weiß seine zwei Leidensgenossen perfekt gegeneinander auszuspielen ....

 

Nur gut, dass die beiden auch noch den einen oder andern Trumpf in der Hinterhand haben ...

 

Doch das, wie gesagt, müssen Sie sich selber ansehen! Vielleicht stimmts ja doch, dass Lachen gesund ist. Und vielleicht wünschen Sie Ihren Lieben für’s Neue Jahr nicht nur Gesundheit, sondern schenken sie Ihnen auch – wenn schon der Arzt kein Rezept schreibt. Bis Silvester wird „Herren“ noch gespielt. Und ein paar wenige Karten soll’s angeblich noch geben.

 

 

 

 

 

Herren

Eine Komödie für drei Herren und eine Fleischwurst

von Jan Ericson

(deutsch von Marianne Weno und Michael Günther


Regie: Frank Wiemann

Bühne: Lars Wiedemann


Karl-Heinz Bruns, Geschäftsführer:   Frank Wiemann

Stefan Riemer, Verkäufer:            Markus Mogwitz

Reinhard Dahlmann, Lagerarbeiter:       Stephan Gottwald

Putzfrau & Souffleuse:   Doris Weiß