Die Sache mit dem "Clou":

Gelungene Inszenierung von Hubs erotischem Drama „Imago“

Vieldeutige Imago:

WaSa   -     Was ist ein Schmetterling? Die meisten Menschen denken an einen farbenprächtigen Tagfalter, der im Sommer als lieber Gast durch den Garten gaukelt, als „Edelstein der Lüfte“ gepriesen und von Goethe wie von Bushido besungen wurde. Für den Zoologen ist der Schmetterling eine Art mit vier Entwicklungsstufen: einem winzigen Ei, einer – aufgrund ihrer Gefräßigkeit herzlich unbeliebten – Raupe und einer unscheinbaren Puppe. In diesen drei Stadien vollzieht sich die Entwicklung; und erst dann schlüpft die Lebensform, die das Image dieses Tieres ausmacht – die als „Imago“ bezeichnete Endform, die ihr Leben damit vertändelt, von Blüte zu Blüte zu flattern, mal hier, mal dort zu naschen, Sex zu haben, um schließlich mit der Eiablage den Zyklus neu zu starten. In Thomas Manns „Doktor Faustus“ wird eine nackte Imago – die „Hetaera Esmeralda“ – zum Inbegriff der Verführung (ja: eine Imago - laut Duden ist das Wort weiblich).

Hatte Ulrich Hub bei der Titelwahl für sein Stück eine solche flatterhafte Verführerin im Sinn? Oder doch – wie es das Lemgoer Programmheft nahelegt – den Imago-Begriff der Psychologie, der „das innere, meist unbewusste Vorstellungsbild von einer bestimmten Person bezeichnet, das auch nach der realen Begegnung mit dieser Person in der Psyche fortlebt“ (Wikipedia)? Oder etwas ganz anderes? Das Programmheft zitiert die Wikipedia-Übersicht über insgesamt neun Imago-Begriffe (von denen vor allem die Bedeutung „römische Ahnen-Maske“ noch Interpretations-Potential böte).

 

Die Lemgoer Theatermacher spielen mit der Mehrdeutigkeit des Begriffs (und des Stücks?). Die Inszenierung will ausdrücklich „keine fertigen Antworten liefern“ - Warum eigentlich nicht? Schließlich ist die Geschichte denkbar einfach:

Eine einfache Geschichte:

ER ist Ehemann einer abwesenden (vermutlich erfolgreichen) Karrierefrau, kümmert sich um Kind und Haushalt und hat nebenbei schriftstellerische Ambitionen (bringt aber wohl nichts zu Papier). SIE ist eine Freundin des Hauses, eigentlich der Ehefrau, offenbar Single (wenn auch sicher nicht aus Überzeugung).

 

SEIN Eheleben ist von den Ermüdungserscheinungen geprägt, die man aus 137 anderen Stücken kennt. ER leidet darunter, während seine Ehefrau die Abwechslung außerhalb der Ehe sucht, wie man es schon in 173 Romanen gelesen hat. Das Besondere hier: ER fotografiert seine Frau heimlich bei ihren (außergewöhnlichen?) Praktiken mit wechselnden Liebhabern.

Und nun quält / vergnügt ER sich damit, diese Fotos mit IHR, der gelegentlichen Besucherin, gemeinsam anzusehen, sie zu diskutieren, über das Warum, das Wie, über die Folgen zu spekulieren. Und das wieder und immer wieder, genauer gesagt: fünf mal. In allen fünf Akten, aus denen „Imago“ (ganz wie in der klassischen Theatertradition) besteht, kommt SIE auf Besuch; man sitzt in der gemütlichen Wohnküche, trinkt Wein, und dann geht’s um die Fotos ...

 

Eine einfache Episodengeschichte, also. Oder? Natürlich entwickelt sich zwischen den beiden eine erotische Spannung, aber die macht sich fast mehr über die Kleidung bemerkbar als über die Dialoge: ER trägt im ersten Akt T-Shirt und Pulli, im zweiten T-Shirt und danach nur noch Unterhemd (wie erotisch ist Unterhemd??). Einmal – da ist SIE aber noch nicht da – darf er seinen wohlgeformten Oberkörper auch ganz ohne zeigen (die Jeans bleiben immer an). SIE weist gegen Ende sogar darauf hin, wie sie sich immer mehr aufgedonnert habe: auf die hochgeschlossene Bluse folgt ein angedeutetes Dekolletée; dann hohe Stiefel zu sexy-engen Leggins, die ihre hübschen Beine gut zur Geltung bringen und schließlich kniefreier Rock ... also auch nichts, was den Rahmen des gutbürgerlichen Schicks und des braven Schicklichen sprengen würde ...

Zugegeben – die erotische Entwicklung kulminiert tatsächlich in einer Vergewaltigung (oder doch nur dem Versuch?), natürlich am Ende des dritten Aktes, also dort wo nach klassischer Dramenlehre die Peripetie liegen soll, der Höhe- und gleichzeitige Wendepunkt des Dramas. Aber hier? Hier gehts einfach weiter wie gehabt. Der Zuschauer darf IHM und IHR noch mal zwei Akte lang beim Bilder gucken zuschauen und beim diskutieren zuhören. Natürlich folgt man diesen Diskussionen sehr wohl mit Interesse – bei diesem Thema! Aber unter dramatischem Spannungsbogen stellt man sich was anderes vor!

 

Und deshalb hat man als Zuschauer eigentlich nur zwei Möglichkeiten: man ärgert sich über den schlichten, langweiligen Aufbau dieses Stückes. Oder man wartet gespannt auf den „Clou“ der Geschichte, das besondere Ereignis, die überraschende Wendung, die dem Ganzen dann einen neuen Sinn, eine tiefere Bedeutung verleiht

 

 

Der "Clou" ...

So viel sei verraten: Dieser „Clou“ kommt tatsächlich – allerdings muss man verdammt gut aufpassen, um ihn nicht zu verpassen! Da mag der Regisseur hinterher auf den einen oder anderen Hinweis aufmerksam machen, der im Stück verborgen sei – aber über die Relevanz dieser Hinweise ließe sich streiten, und vor allem gibt es auch gegeteilige Hinweise ...

Mittelprächtiges Stück - prächtige Inszenierung

Sei’s drum – es ist ja nicht das erste Mal, dass wir die Stückwahl des Lemgoer Privattheaters nicht so ganz gelungen finden. Und es ist erst recht nicht das erste Mal, dass wir von dem begeistert sind, was die Theater-Enthusiasten rund um Frank Wiemann dann doch noch aus der Vorlage gemacht haben!

 

Auch diesmal wieder: dickes Lob! Lob für die einfachen aber aussagekräftigen Kostüme (siehe oben); für das (wieder einmal – wie sollte das bei Markus Mogwitz auch anders sein?) liebevoll gestaltete Bühnenbild, das den Protagonisten („ER und SIE“ so wie „DU und ICH“) einen charakteristischen Rahmen gibt. Und natürlich für die Darsteller, Stefanie Schöpe und Thorsten Böhner, die diese schillernden Persönlichkeiten hervorragend verkörpern und diese – gewiss nicht immer einfach zu spielenden! – Szenen gekonnt auf die Bühne bringen.

Und schließlich die Regie: wie man es von Frank Wiemann gewohnt ist: sehr sorgfältig, detailverliebt, den Darstellern gerecht werdend. Eigentlich kann man ihm nur vorwerfen, dass er sich nicht getraut hat, stärker in den Stücktext einzugreifen. Was sollte uns beispielsweise gleich am Anfang die langatmige Erzählung über ein Weingut sagen? Was hat SEINE plötzliche (eingebildete? gespielte?) Blindheit gegen Ende zu bedeuten? Und erst die Dialogtexte! Mal hölzern, mal gestelzt! Zwar erwachsen daraus gelegentlich prächtige Blüten („Ich befinde mich am ultimativen Tiefpunkt meines Lebens - und den lasse ich mir von dir nicht versauen“), aber es dominiert die gemeine Stilblüte – durchaus mal so kitschig, dass es schon wieder schön ist („Rein und weiß liegt sie im Mondlicht vor mir“). Aber wer sagt schon, wenn er eine Bettgeschichte erzählt: „Ein Beben lief durch ihren Körper“? Und wo ein Normalmensch einfach fragen würde: „Hat's geklappt?“ heißt es hier: „War dein Experiment von Erfolg gekrönt?“ – So redet doch kein Mensch!

 

Aber so steht’s nun mal im Text und so soll‘s dann halt auch bleiben. Nur den „Clou“, lieber Frank Wiemann, den sollten Sie vielleicht noch ein bisschen stärker herausarbeiten.