Dürrenmatt'sches Highlight bei "Figura magica"
Detmolder Puppenspieltage für Kinder und Erwachsene
(3) Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht,
wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.
(8) Je planmäßiger die Menschen vorgehen,
desto wirksamer vermag sie der Zufall zu treffen.
(16) Der Inhalt der Physik geht die Physiker an,
die Auswirkung alle Menschen.
(Friedrich Dürrenmatt:
21 Punkte zu den „Physikern“)
g.WaSa - Detmold. Was gäbe es Aktuelleres als das Elend schiffbrüchiger Flüchtlinge? Und was wäre ernster zu nehmen als die unkontrollierte Verbreitung von Atomwaffen?
Und doch begegnen uns diese beiden ernsten, ja tragischen Probleme dort, wo wir normalerweise das lustige Kasperle erwarten oder den drolligen Kater Findus, einen putzigen Bären, einen niedlichen Frosch oder allenfalls den freundlich-abstinenten Piratenkäpt’n Sharky: nämlich auf einer Puppenbühne, aktuell während der "figura magica", der jährlichen Puppenspielreihe im Detmolder Sommertheater, in zwei kurzen Stücken: „Der Gerettete“ und „Der Erfinder“.
Zweite Überraschung: Diese so aktuellen Stücke sind 67 Jahre alt! Friedrich Dürrenmatt, dieser Meister hintergründig-ätzender Gesellschaftskritik, hat sie 1948 für das Basler Kabarett „Cornichon“ geschrieben. Drei Jahre nach den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki und als der atomare Rüstungswettlauf noch in seinen frühesten Ansätzen steckte, hat Dürrenmatt – quasi im Vorgriff auf seine „verrückten“ „Physiker“ (1962) – schon mal einen ebenso genialen wie verrückten „Erfinder“ mit seinen „Mini-Atombomben“ auf die Menschheit losgelassen. Heute weiß man von folgenden Staaten sicher, dass sie Atomwaffen besitzen: USA, Russland, Großbritannien, Frankreich, China, Israel, Indien, Pakistan, Nordkorea … insgesamt mehr als 16.000 Atombomben. Die mühsamen Verhandlungen um einen Atomwaffenstopp im Iran sind noch in frischer Erinnerung. Und was an waffenfähigem Plutonium aus Beständen der ehemaligen Sowjetunion durch die Welt vagabundiert, mag offenbar keiner so genau wissen …
Auch das Schicksal des „Geretteten“, des vom Versinken bedrohten Flüchtlings, war für Dürrenmatt damals ganz aktuell: 1947 hatte die „Exodus“ die Weltöffentlichkeit bewegt: ein ehemaliger Vergnügungsdampfer, jetzt vollgestopft mit jüdischen Exilanten, die von den Engländern daran gehindert wurden, ihr „gelobtes Land“ Palästina zu erreichen (Leon Uris hat 1958 einen Bestseller darüber geschrieben). Und zweifellos ist in diese Szene, in der das Flüchtlingselend auf ordnungsgemäße Bürokratie trifft, auch das schlechte Gewissen des Schweizers Dürrenmatt eingeflossen, dessen Heimatland ja gegenüber Flüchtlingen aus Nazideutschland eine ziemlich unrühmliche Rolle gespielt hatte.
Durch einen glücklichen Zufall ist der Puppenspieler Stefan Maatz auf diese vergessenen frühen Werke des großen Schweizer Dramatikers gestoßen. Und zum Glück hat er das Potential dieser zynisch-humoristischen Kabinettstückchen für das Puppentheater erkannt.
Und so kommen wir – leider nur ein paar Dutzend – Besucher der Eröffnungsveranstaltung der diesjährigen „figura magica“ in den Genuss einer ebenso unterhaltsamen wie nachdenkenswerten Vorstellung!
Die Dramaturgie ist zwar ein bisschen verwirrend: Zunächst befinden wir uns offensichtlich bei der Abendunterhaltung auf einem Kreuzfahrtschiff. Boris Weber spielt als Harald-Juhnke-Double den Conférencier („Barfuß oder Lackschuh“) und versetzt das vergnügungssichtige Publikum schon mal in Angst und Schrecken („blinder Steuermann“ …); ein mit Taschenlampe beleuchtetes Modellschiff (ein schönes Spiel mit den begrenzten Möglichkeiten!) scheint dann in schwere See zu geraten, und kurz danach sehen wir die beiden Protagonisten des Abends als Schiffbrüchige in einer alten Badewanne … Es sind die Puppenspieler, die nicht mehr dazu gekommen sind, dem feinen Kreuzfahrt-Publikum ihre fleißig geprobten Stücke vorzuführen. Also spielen sie für die Fische (und damit auch: für uns). – Zwei kleine Sternstunden des typisch dürrenmatt‘schen schwarzen Humors.
Vor allem, wie er die (schweizer?) Bürokratie auf seine satirische Schippe nimmt, ist zum Totlachen! Da zieht die Besatzung der „Arche“ einen Ersaufenden im letzten Moment aus dem Wasser – und dreht ihn dann durch die Mühle eines „Amtes für Schiffbrüchige“ („Politik bedeutet: Menschen übersehen“), so lange, bis dieser „Armin Schlucker" lieber wieder zurück zu den Haifisch en springt. Spätestens da lacht keiner mehr, sondern denkt womöglich an die annähernd 3000 Flüchtlinge, die von Januar bis August 2015 im Mittelmeer ertrunken sind, nach den 3500 im Gesamtjahr 2014 (NZZ, 28.08.15)
Besonders frappierend ist in dieser Szene das Miteinander, das Gegeneinander von Puppe und Mensch: die von Stefan Maatz in Bauchrednermanier geführte lebensgroße Puppe bleibt als der „Gerettete“ typenhaft, Teil einer (dem Namen zum Trotz) anonymen Masse, die man gar nicht so genau kennen möchte …. dagegen steht Boris Weber als menschliche ( ! ? ) Verkörperung des Bürokraten, des selbstmitleidigen Beamten („Seit 15 Jahren rackere ich mich ab im Dienste des ‚Amts für Schiffbrüchige‘ – was sind dagegen die 24 Stunden, die Sie im Wasser verbracht haben“).
Zur Erinnerung: verfasst wurde das 1948. Der aktuelle „SPIEGEL“ beschreibt, wie Flüchtlinge im heutigen Deutschland unter Bürokratie leiden, wie sich freiwillige Helfer von Behörden ausgebremst fühlen:
„Auf eines können sich die Flüchtlinge verlassen, sobald sie die erste Bleibe gefunden haben: Der Brief über den Rundfunkbeitrag kommt sofort.“ (SPIEGEL 36/2015, S. 22)
Alles andere wäre denn ja auch allzu märchenhaft. – So märchenhaft, wie man es üblicherweise vom Puppentheater erwartet – und erwarten darf! Zumindest, wenn man noch Kind ist!
Und ja – natürlich erfüllt „figura magica“ auch 2015 wieder diese Erwartungen: auch wenn’s dieses Jahr kein Kasperle gibt – aber für die kleinen Theaterbesucher ist gesorgt: Der Kater Findus, der Feuerdrache und Schwester Frosch - sie alle kommen und bevölkern an den Folgetagen die Bühne des Sommertheaters.
Dem Vernehmen nach ist die Resonanz erheblich größer, als beim doch enttäuschend schwach besuchten Erwachsenenstück: die Vorstellungen sind zu einem guten Teil ausgebucht – dank Kindergärten, aber auch dank Eltern, Großeltern und Tanten, die dem Nachwuchs einen kindgerechten Einstieg in eine Karriere als Theaterbegeisterte gönnen.
Fazit also:
Erwachsene, die (bei aller Nachdenklichkeit) begeistert feststellen, dass Puppentheater nicht nur etwas für den Nachwuchs ist. Und vor allem: glückliche Kinder, die auf unterhaltsame Weise ans Theater heran geführt werden.
Mit der Institution der jährlichen Puppenspieltage schließt das Sommertheater dankenswerterweise eine Lücke in der vielseitigen Detmolder Theaterlandschaft.