Zeitloser Shakespeare
Schauspiel Essen entsetzt mit dem „Jago-Prinzip“
Ein alter Bösewicht:
g.wasa - Detmold. - Fragt man nach dem größten Schurken der Theatergeschichte, wird man häufig Jago aus Shakespeares “Othello” genannt bekommen. Wobei der seine Spitzenposition nicht allein seiner abgrundtiefen Schlechtigkeit verdankt, sondern mindestens ebenso sehr seiner kalt sezierenden Intelligenz, seinem ausgeprägten Vermögen, sich in das Gefühlsleben anderer einzufühlen, seiner manipulativen Rhetorik – kurz: seinem Talent, dem Bösen auch tatsächlich zum Durchbruch zu verhelfen, es zur Wirkung zu bringen.
Als am Schauspiel Essen der „Othello“ auf den Spielplan sollte, hat man sich gefragt:
Was wäre, wenn ein solcher Jago nicht mehr auf die Kommunikationsstrukturen von 1604 beschränkt bliebe, sondern die heutigen Medien zu seiner Verfügung hätte?
Ein neues Stück:
Anstatt über die politische (Un-)Korrektheit von „Blackfacing“ zu diskutieren, hat man sich auf diese Frage konzentriert – mit dem Ergebnis, dass ein völlig neues Stück entwickelt wurde, das im Jahre 2 nach der Gründung von Pegida spielt. Schauplatz ist nicht die venezianische Militärkolonie auf Zypern, sondern ein kleiner engagierter Fernsehsender in Essen. Othello, der hier Ulrich Sonntag heißt, ist Chefredakteur anstatt Feldherr (und es ist völlig egal, ob der schwarz oder weiß ist); und Auslöser von Jagos Rachefeldzug ist nicht eine Beförderung zum Leutnant, sondern die Besetzung der Stelle des Chefs vom Dienst (wobei nicht völlig egal ist, dass es eine Frau ist, die den Posten bekommt, der „eigentlich“ Nick Walter zugestanden hätte).
Das Prinzip Jago und die neuen Medien:
Was geblieben ist, ist „das Prinzip Jago“: das gekonnte Intrigieren, das geniale Manipulieren von Menschen, jetzt unter Einsatz eines Fernsehsenders und der sogenannten sozialen Medien. Nick Walter twittert unter dem Namen „Jago“, initiiert mit Hilfe von ein paar wenigen Ausländern einen Flashmob auf dem Kennedyplatz (gleich neben dem Essener Theater) und manipuliert die Berichte darüber so gekonnt, dass in Essens Innenstadt bald bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen. Die Schuld schiebt er der Geliebten des Chefredakteurs (Twittername: Desdemona) in die Schuhe. Mit dem Ergebnis, dass „Othello“ erst „Desdemona“ umbringt und dann sich selber. Und mit dem Ergebnis, dass die Redaktion völlig umgekrempelt wird. Galt hier anfangs das klassische eherne Prinzip guten Journalismus‘ der wahrhaften, auf gesicherten Fakten basierten Berichterstattung, so herrscht am Ende das ungeschriebene Gesetz der neuen Medien: Schnelligkeit geht vor Korrektheit, Sensation schlägt Wahrheit. Vorher war das Bestreben „Wirklichkeit = Wahrheit = Nachricht“, jetzt: „richten wir unsere Nachrichten nach den Wünschen der Menschen“.
Gleichzeitig ist die politische Ausrichtung des Senders gekippt: am Anfang links-liberal, im Zweifel eher ausländerfreundlich, in jedem Fall gegen rechts. Am Schluss ist die ursprünglich als Beelzemaid verteufelte Pegida-Demagogin politische Redakteurin des Senders, aus der anfänglich bunten Journalistenfamilie wird eine einheitlich AfD-blau uniformierte Truppe, und die engagierte Journalistin Susanne Weibel (die stark an Hanne Holm aus „Borgen“ erinnert) wird zur neuen Chefredakteurin befördert, die sich wohl oder übel dem „Zeitgeist“ anpasst („schließlich hab ich Familie und muss ein Haus abbezahlen“).
Einwände:
Diese politische Wende ist die gravierendste Schwachstelle des Stücks. Ist es wirklich so einfach, eine ganze Redaktion umzukrempeln? Nein doch – hofft man. Oder? Dass ein Journalist ein Kind entführt, um Stimmung zu machen – ist das nicht Verschwörungstheorie? Wird mit dieser (überspitzten???) Darstellung einer kleinen manipulativen Journalisten-Clique nicht das Geschäft von Pegida („Lügenpresse!“) betrieben? „Euer Stück ist auch demagogisch!“ konstatierte im anschließenden Publikumsgespräch ein Journalist aus den Reihen der Zuschauer.
Gegenüber diesem Vorwurf wiegen die anderen Mängel des Stücks weit weniger schwer: die allzusehr übertriebene Hektik, welche (gelegentlich in Verbindung mit allzuschnellem und undeutlichem Sprechen) zu Unverständlichkeit führt; einige gut gemeinte aber im Handlungsablauf unnötige Einblendungen von Flüchtlings-Interviews; ein gelegentliches Durcheinander in den zeitlichen Abläufen von Videoeinspielungen und analoger Bühnenhandlung (erst bringt sich – im Video – Othello selbst um, und dann erst erschlägt er – auf der Bühne – Desdemona; der Helfershelfer verfolgt – im Video - das Kind und bekommt danach erst – real - den Auftrag dazu; aber vielleicht waren das – in einem fremden Haus, mit einer fremden Anlage – nur technische Versehen).
Aktualität:
Viel erwähnenswerter als diese kleinen Mängel ist die Aktualität des Stücks – noch nicht einmal so sehr die Tagesaktualität, wenn in einer Nachrichtensendung über den Terroranschlag von Manchester vom Vortag berichtet wird. Noch viel frappierender ist, wie die Autoren und Macher des „Prinzips Jago“ aktuelle Strömungen sozusagen vorweg genommen haben. Das Stück hatte am 1. Oktober 2016 Premiere – als es entstand, hätte es kaum jemand für möglich gehalten, dass sich ein Donald Trump mit Hilfe des Nachrichten-Machers(!) Stephen Bannon ins Weiße Haus twittern könnte. Petra Bolz, die AfD-Politikerin im Stück, sieht aus wie eine Zwillingsschwester von Alice Weidel, die erst kürzlich, nach dem Rückzug Frauke Petris, als neue AfD-Hoffnungsträgerin ins Licht der Öffentlichkeit trat ….
Frappierend schließlich – wenn für Anhänger des Theater-Übervaters auch nicht überraschend -: die Aktualität Shakespeares. So neu das Stück auch wirkt – bei genauerem Hinsehen erkennt man, wie eng es an die Vorlage angelehnt ist. Immer wieder sind haargenau passende Originalzitate eingebaut, die noch nicht einmal aus „Othello“ stammen müssen. Wenn allerdings Mirandas begeistert-naiver Ausruf aus dem „Sturm“ zitiert wird, dann wirkt das an dieser Stelle nur noch zynisch:
“How beauteous mankind is!
O brave new world,
That has such people in ’t!”
Beim NRW-Theatertreffen 2017 in Detmold:
Schauspiel Essen:
Das Prinzip Jago (Uraufführung)
nach Motiven aus „Othello“ von William Shakespeare
von Volker Lösch, Oliver Schmaering und
Ulf
Schmidt
Mitarbeit: Vera Ring
Inszenierung: Volker Lösch
Bühne und Kostüme: Carola Reuther
Videografie: Daniel Frerix
Dramaturgie: Vera Ring, Ulf Schmidt
Nick Walter: Stefan Diekmann
Ulrich Sonntag: Thomas Büchel
Anja Luhmann: Jaëla Carlina Probst
Susanne Weibel: Ines Krug
Ben Sützl: Thomas Meczele
Petra Bolz: Silvia Weiskopf
Frank Baecker: Jan Pröhl
Christoph Arnheim: Alexey Ekimov
Kamerateam: Linus Twardon, Aless Wiesemann
Lara:
Frida Lina Büchel
Einsatzleiter: Kalle Spies