Peer Ciulli und die Räume der Phantasie

Theater an der Ruhr bei den NRW-Theatertagen 2017 in Detmold

Peer Gynt – ein Rückblick

g.Wasa     -    Detmold.     -     Vor Jahren hat das Landestheater Detmold den Peer Gynt von hinten her gespielt: hat mit dem 5. Akt, mit dem alten Peer Gynt begonnen – ein intelligentes, überzeugendes Konzept, geht es am Schluss doch um die entscheidende Frage, was für ein Leben dieser „nordische Faust“ (???) geführt hat: War er „er selbst“? Also eine Persönlichkeit? Oder war er nur „sich selbst genug“? Wie ein Troll? In den Worten des Knopfgießers: War er ein blinkender Knopf am Frack der Welt, der es wert ist, weiter zu existieren, sei es als Seliger im Himmel, sei es als großer (unbedingt: großer!) Sünder in der Hölle? Oder war er unnütz, wie ein Knopf ohne Öse, nur dazu gut, zusammen mit Hinz und Kunz wieder eingeschmolzen und zu neuen (dann vielleicht brauchbareren) Knöpfen verarbeitet zu werden? Diese Frage wurde im Rückblick untersucht, in Rückblenden auf die ersten vier Akte, mit zwei zusätzlichen Darstellern für den jungen und den erwachsenen Peer.

 

(Foto: Theater an der Ruhr)

An diese Konstellation, an den Rückblick des Greises auf ein bewegtes Leben, denkt man in der Aufführung dieser ganz besonderen „Peer Gynt“-Inszenierung, die das Landestheater Detmold jetzt zu den NRW-Theatertagen 2017 geholt hat. Gemacht hat diese Inszenierung Roberto Ciulli, der große alte (inzwischen über 80jährige) Mann nicht nur vom „Theater an der Ruhr“ sondern auch vom Theater im Ruhrgebiet, im ganzen Land. „Gemacht“ heißt: Ciulli zeichnet zusammen mit seiner Vertrauten Maria Neumann verantwortlich für: „Regie, Raum und Dramaturgie“. Ach so ja: und außerdem spielen die beiden sämtlich Rollen dieses Riesenstückes. Von den mindestens 75 Personen, die sich aus dem Rollenverzeichnis herauslesen lassen, haben die beiden etwa ein Dutzend herausdestilliert, um ihnen Leben zu verleihen. Zusätzlicher Darsteller zur Verkörperung des Jüngeren bedarf es hier nicht. Allenfalls mag man an einer Stelle des Abends eine gewisse Skepsis des Darstellers  heraushören, einen vorsichtigen Versuch, sich selbst Mut zuzusprechen: Wenn es im Reich der Trolle – ähnlich wie bei Macbeths Hexen – heißt:

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„Schwarz ist weiß und schön ist hässlich,

groß scheint klein und schmutzig rein“

 

so fügt Ciulli noch ein „alt ist jung“ hinzu.

 

Peer Ciullis Rückblick

An einen Rückblick des Greises auf ein langes Leben denkt man nicht nur, wenn man diesen Ciulli mit seiner schlohweißen Haarmähne, seinem lebensdurchfurchten Gesicht vor sich auf der Bühne sieht. Darauf hin deutet auch Kierkegaards – an prominenter Stelle im Programmheft zitierte – Erkenntnis, die als Motto über der Inszenierung stehen könnte:  „Verstehen kann man das Leben nur rückwärts. Leben muss man es vorwärts". Auch die Bühnen-Konstellation erlaubt diese Interpretation: In Aases (Peers Mutter) ärmlicher Kammer sitzen Ciulli und Neumann an einem primitiven Küchentisch, die Köpfe auf der Tischplatte – schlafend. Allmählich erwachen sie … Oder aber: sie träumen, und wir haben teil an ihrem Traum, an seinem Traum, dem Lebenstraum des Peer Gynt, der sich hier in einem Alter Ego spiegelt, in welchem er gleichzeitig alle die erkennt, mit denen er in seinem langen Leben konfrontiert war. Abgesehen von der Eingangsszene – mit Ciulli als Mutter Aase und einer androgynen Maria Neumann als leichtsinnig-lebenshungrigem Jüngling Peer – übernimmt meist Ciulli die Rolle des Peer, der noch einmal durch sein Leben hastet … Und am Ende, wenn der Traum ausgeträumt ist, finden sie sich wieder in ihrer Ausgangsposition, versinken wieder in tiefem Schlaf.

 

Die Welt als Phantasie

Er hastet durch sein Leben … ja. Wenn man sonst kaum mal vor drei Stunden aus einer (bereits gekürzten) „Peer Gynt“-Aufführung kommt – hier ist nach 90 Minuten alles vorbei. In rasend-schnellen Übergängen wird aus Ingrid die Grüne, aus der Grünen der Dovre-Alte, aus dem Dovre-Alten Solveig. Soeben war Peer noch Kaiser im Kairoer Irrenhaus, schon gerät sein Schiff vor Norwegen in Seenot. Zwangsläufig geht der Inhalt fast komplett verloren. Schlaglichtartig wird noch die faustische Karriere des Helden skizziert: vom ungebärdigen Bauernlümmel ohne Hof über den durch Sklavenhandel und andere dubiose Geschäfte reich gewordenen Ausbeuter und Kapitalisten, über den selbsternannten Propheten und Kaiser bis hin zum Todgeweihten, der sich selbst in einer wildgewachsenen Zwiebel wiedererkennt: zahlreiche kaum unterscheidbare Schalen. Aber kein Kern.

 

Was völlig verloren geht ist seine (Um-)Welt, dieses pralle Jahrhundert-Gesellschaftsbild,  das so manche Erklärung für diesen Peer Gynt liefern könnte (so wie Schiller von Wallenstein gesagt hat: „Sein Lager nur erkläret sein Verbrechen“). Und wer den Text nicht kennt, wird vieles nicht verstehen, wird zahlreiche Zusammenhänge nicht erkennen.

 

Aber ist das wichtig? – Im anschließenden Publikumsgespräch sagte eine – immer noch merklich ergriffene – Zuschauerin zu Ciulli: „Sie haben Räume der Phantasie eröffnet“.

 

Der hat sich gefreut: Er fühlte sich verstanden.  

 

 

 

 

Im Rahmen des NRW-Theatertreffens 2017 am Landestheater Detmold:

 

Theater an der Ruhr, Mülheim:

 

Peer Gynt

 

Ein dramatisches Gedicht von Henrik Ibsen

 

Mit Maria Neumann und Roberto Ciulli

 

Regie, Raum und Dramaturgie:         Roberto Ciulli, Maria Neuman

Licht:                                                   Thorsten Schulz

Kostüm:                                              Heinke Stork