Krankheiten und Wetter

Paul Austers „Winterjournal“: 250 Seiten Banalitäten

„Unerhörte Begebenheit“ versus „Banalitäten“

WaSa     -     Es war einmal ein Poet, der vertrat die bemerkenswerte Auffassung, eine Erzählung müsse von einer „unerhörten Begebenheit“ handeln. Der Mann hieß Goethe, und seine Forderung ist zum festen Bestandteil der Literaturtheorie geworden – zumindest für die Gattung der Novelle; doch warum soll das „seltsame, unerhörte Ereignis“ nicht auch dem Drama notwendig sein (dessen Schwester – laut Storm – die Novelle sei) oder dem Roman, der schließlich die Aufmerksamkeit des Lesers viel länger zu fesseln hat, als die kurze Novelle?

 

Denn warum soll ich als Leser meine Zeit damit vergeuden, von trivialen, unauffälligen, unbedeutenden Vorkommnissen zu lesen, wie sie jedermann alltäglich erleben mag? Also von Banalitäten (wie der Duden all das nennt)?

 

Die Frage scheint einem anderen Jahrhundert anzugehören. Schließlich wird der heutige Leser zugedeckt mit Banalitäten. Nicht nur in BILD und Yellow Press, auch in SPIEGEL und Neuer Westfälischer werden immer mehr Spalten mit Banalitäten gefüllt. (Ist es nötig, von – öffentlich-rechtlichen oder privaten – Fernsehsendern zu sprechen? Muss man gar auf Internetforen und Blogs hinweisen?)

 

Die „Literatur“ will da nicht zurückstehen! Paul Auster, zum Beispiel, hat in seinem „Winterjournal“ 250 Seiten mit derartigen alltäglichen, trivialen, unbedeutenden Vorkommnissen gefüllt – mit Banalitäten also. Immerhin warnt er gleich im ersten Satz den Leser, der möge hier nichts Außergewöhnliches erwarten; vielmehr sei „all das genau so, wie es jedem anderen passiert.“

Altmännergeschwafel über Krankeiten und Wetter

Anlass für dieses Buch ist die Erkenntnis:  „Heute in einem Monat wirst du vierundsechzig. Und diese „unerhörte Begebenheit“ nimmt Auster zum Anlass, seine Erinnerungen an sein bisheriges Leben vor dem Leser auszubreiten. (Auster schreibt durchgehend in der zweiten Person Singular – spricht sich also selbst an. Damit hätte er sich zufrieden geben sollen und nicht auch noch mich mit seinen unbedeutenden Erinnerungen belästigen!). Diese  Erinnerungen handeln vor allem von seinen Krankheiten, von denen er gerne erzählt – so wie man es eben befürchtet, wenn alte Leute zu schwafeln anfangen (wenngleich ja 64 „nicht übermäßig alt“ ist): ein Furunkel auf der „linken Arschbacke“ (Auster zeigt eine pubertär anmutende verbale Koprophilie), ein Blutgerinsel im Bein, Risse in der Hornhaut, Grippe, Drüsenfieber, Mandelentzündung; gerne macht er’s hypochondrisch-dramatisch: der Herzinfarkt (in Wirklichkeit nur eine Speiseröhrenentzündung), der Blinddarmdurchbruch (nur ein – natürlich: „schlimmer“! – „Fall von Gastritis“) ... und wenn er selbst mal gesund ist, hat er bestimmt noch eine Freundin, die zum Zahnarzt muss, einen kranken Verwandten (den „mit einem schwachen Herzen gestraften Stiefvater“, zum Beispiel) oder eine Nachbarin („die Fau, die mit 28 an MS erkrankte“, ansonsten aber keinerlei Rolle im Buch spielt). Bezeichnend: Laut Wikipedia galt „Austers zweite Leidenschaft (neben der Schriftstellerei) dem Sport. Seine Mitschüler beneideten ihn wegen seiner guten Leistungen in Baseball, Basketball und Football“; doch nur einmal in diesem – doch so körperbetonten Buch – schreibt Auster über die Freude an seinem „fortschreitenden Können im Baseball“ – ansonsten sind Sport und Spiel vor allem Quelle von Verletzungen: vom aufgeschlagenen Knie bis zum Schleudertrauma.  

 

Ein weiteres Lieblingsthema neben den Krankheiten ist – na sowas! – das Wetter! Von der ersten Seite („Draußen fällt Schnee“) bis zur letzten („Draußen ist alles grau“) immer wieder: „Wind“; „feuchter, niesliger Nachmittag“;  „Hagelsturm“; „Schnee, der alles ... weiß machte“ (wer hätte das gedacht?!); „Hitzewelle“; „Schnee, der unaufhörlich überall fällt“;  selbst zum ersten Bordellbesuch gibt’s vorab einen Wetterbericht – warum bloß, wo doch Auster selbst betont: „das Wetter ist das Letzte, worüber du dir jetzt den Kopf zerbrichst“.

 

Da mit Krankheiten und Wetter das Buch immer noch nicht voll ist, schildert Auster sämtliche 21 (+2) Wohnungen, in denen er jemals gewohnt hat; und zwar mit einer Akribie, die insgesamt 57 Seiten füllt. Was mich besonders fasziniert: dass Auster noch sämtliche Adressen, ja sogar die Appartement-Nummer („814A“) im Studentenwohnheit weiß, in dem er mit 18 und 19 gewohnt hat (ich selbst weiß nicht mal mehr die Straßennamen meiner Studentenbuden!). Und in diesen Wohnungen gab es also mal – hört! hört! - grüne Wände, mal eine Mini-Küchenzeile, mal Wasser im Keller, mal keinen Aufzug ... und natürlich rebellierte in der einen Wohnung Austers Magen, in einer anderen plagten ihn „unregelmäßige Pulsschläge“ ....

 

Wen soll das interessieren?

Was interessiert mich das alles??? Da es doch keinerlei Wirkung auf den Gang der Handlung (welcher Handlung?) hat? Ja, noch nicht einmal Einfluss auf Austers Schreiben (da „es, solange du schreiben konntest, keine Rolle spielte, wo oder wie du wohntest“).

 

Spielt "keine Rolle"?! - Ja, wieso soll ich dann stundenlang darüber lesen???

 

Was interessiert mich, welche Schokoriegel er gegessen hat (er zählt mehr als ein Dutzend Marken auf, außerdem ein halbes Dutzend Kekse, ein halbes Dutzend Frühstücksflocken sowie Eissorten, die ich nicht auch noch gezählt habe)? – Was interessiert mich, wie lange er vor einer Bahnschranke gewartet und wieviele Waggons er gezählt hat? 

Die Hand von James Joyce. Und die Hände Austers

Und schließlich: Will ich wirklich eine zweiseitige Aufzählung all dessen lesen, was er jemals mit seinen Händen gemacht hat? Türen aufmachen, im Theater klatschen, Frauen berühren ....... Zwei ganze Buchseiten!  Der Clou dabei: Anlass für diese Aufzählung ist eine Geschichte, die Auster über James Joyce erzählt:

 

Eine Frau fragt Joyce, „ob sie die Hand schütteln dürfe, die Ulysses geschrieben habe. Statt ihr seine rechte Hand anzubieten, hebt Joyce sie an, betrachtet sie und sagt: ‚Ich möchte Sie daran erinnern, Madam, dass diese Hand noch viele andere Dinge getan hat‘.“

 

Ausdrücklich bewundert Auster diesen „Geniestreich an Schweinigelei und Anzüglichkeit“, der „umso wirkungsvoller (sei), weil er alle Weiterungen der Phantasie der Fragestellerin überlässt“, indem er „keine Details“ nennt. Warum nur, warum muss dann Auster nicht nur (vermutete) Details von Joyces Hand-lungen aufzählen (wobei ihm – bezeichnenderweise? – zunächst mal Verrichtungen aus dem analen Umfeld einfallen), sondern auch noch die genannten zwei Seiten mit den Aktivitäten seiner eigenen, Austers Hand füllen? (Nun gut – Austers Hand hat schließlich keinen Ulysses geschrieben! Aber muss er uns deshalb mitteilen, dass er sich mit dieser Hand Pickel ausdrückt und am Arsch kratzt?)

Liebe, Tod und Tanz

Immerhin zweimal lässt Auster erkennten, dass er womöglich auch zu großen Gefühlen fähig ist: Wenn er die tiefe Liebe erwähnt, die ihn mit seiner (zweiten) Frau verbindet; aber das geschieht nur kurz, en passant. Und angesichts des Todes seiner Mutter, zu dem er zahlreiche Seiten füllt. (Wobei der Tod einer Mutter auch nicht gerade ein seltenes Ereignis ist.)

 

Und dann, fast schon am Ende des Buches, kommt doch noch die „unerhörte Begebenheit: Nachdem Auster lange unter einer Schreibblockade gelitten hatte, beobachtet er ein Tanztraining. Da begeistert er sich an der ausdrucksstarken „Fülle und der brachialen Körperlichkeit der Tänzer“ – und ärgert sich über die anschließende nichtssagende verbale Beschreibung (!!!) durch die Choreografin. Das wiederholt sich mehrfach, und dieser stete Wechsel zwischen „Freude und Langeweile“, zwischen „Schönheit“ und sinnlosen Wörtern regt ihn so auf, dass er sich hinsetzt und schreibt - seine „zweite Inkarnation als Schriftsteller“. Und später hat er dann „Winterjournal“ geschrieben,  250 Seiten voller banaler Sätze. Hätte er es doch besser tanzen lassen!

 

Paul Auster:    WINTERJOURNAL

 

 (Original: Winter Journal. – New York 2012)

 

Aus dem Englischen von Werner Schmitz

Rowohlt-Verlag, 1. Auflage 2013   - 256 Seiten

 

ISBN-10: 349800087X

ISBN-13: 978-3498000875