Kleiner Mann - was tun?

Nach 80 Jahren unzensiert: Kästners "Gang vor die Hunde"

 

„Was nützt das göttliche System,

solange der Mensch ein Schwein ist?“

 

„Die Vernünftigen werden nicht an die Macht kommen,

und die Gerechten noch weniger. –

Aber sollten sie es nicht trotzdem wagen?“

(Erich Kästner: Der Gang vor die Hunde)

 

„Es gibt nichts Gutes / außer: Man tut es“

(Erich Kästner: Moral)

 

WaSa. - „Fabian“ war für mich schon immer Kästners bester Roman (bei aller kindlichen Begeisterung für Emil und das doppelte Lottchen und bei allem späteren Vergnügen an den „drei Männern im Schnee“ oder dem „kleinen Grenzverkehr“). Natürlich wusste man, dass dieses Sittengemälde der späten Weimarer Republik damals, 1931, nur in zensierter Form erscheinen durfte – und dass auch alle späteren Auflagen auf dieser verstümmelten Fassung beruhten. Mit entsprechender Spannung sah ich der mit einigem Tamtam angekündigten Neuausgabe entgegen: endlich Erich Kästners Originalfassung, unter dem von ihm geplanten Titel „Der Gang vor die Hunde“, mit dem „skandalösen“ und deshalb in der Urfassung zensierten dritten Kapitel und mit all den moralisch-brav gestrichenen „erotischen Stellen“.

Fabian - ein kleiner Mann?

Wer also ist dieser neue, dieser „originale“ Fabian, der von seinem geistigen Vater als „Moralist“ bezeichnet wird? - Ist er wirklich ein „kleiner Mann“? Immerhin ist dieser Dr. Jakob Fabian Akademiker, hat mal promoviert (nach eigener Aussage über die Frage: „Hat Heinrich von Kleist gestottert?“, aber vermutlich war das nur einer seiner Witze); sein Freund hat gerade eine geniale Habilitationsschrift über Lessing vorgelegt (sein Pech, wenn er daran krepiert); und selbst die nymphomane Betreiberin eines Männerbordells lässt in eine – so gar nicht akademische – Unterhaltung mal wie selbstverständlich ein Zitat aus Schillers „Maria Stuart“ einfließen.

alle Gemälde-Fotos:Ausstellung "Das Auge der Welt. Otto Dix und die Neue Sachlichkeit" - Kunstmuseum Stuttgart 2012/13

Und dennoch, all dem intellektuell-akademischen Ambiente zum Trotz: Ja – auch dieser Dr. Fabian ist nur ein winziges, unbedeutendes Rädchen im Getriebe der späten Weimarer Republik: „... er war stets ein armes Luder gewesen. ... Seine Armut war schon eine schlechtev Angewohnheit, wie bei anderen das Krummsitzen oder das Nägelkauen“. Und dieser Moralist vergeudet seine ganze literarische Bildung, seine sezierende Intelligenz, seinen genialen Sprachwitz damit, gegen einen Hungerlohn Zigarettenwerbung zu machen. Und auch das geht gerade mal bis Seite 100 gut, also weniger als die Hälfte des Buches. Schließlich war Fabian schon als Schüler „immer einer der besten und einer der frechsten“. - „Wie weit haben Sie es damit gebracht?“, fragt sein alter Schuldirektor eher rhetorisch. Bis zur Arbeitslosigkeit! Denn Fabian, dessen jugendliche Frechheit sich zu einem unverschämt-ehrlichen Zynismus ausgewachsen hat, wirft seinem Chef die „Geschmacklosigkeit (vor), die Tippfräuleins über den Schreibtisch zu legen.“ Prompt wird er entlassen. Trotz seiner unbestrittenen Fähigkeiten. Arbeitslos! Einer von Millionen! Ohne Chance!

 

Insofern ist er also keinen Deut besser dran, als Falladas „kleiner Mann“, der biedere Verkäufer Pinneberg. Im Gegenteil: während Pinneberg seine Kleinfamilie als Rückzugsort hat, wird Fabian Opfer einer tragischen Ironie: Er, der „sich nachts eifrig umgetan“ hatte, hat soeben seine große Liebe gefunden und sich – tatsächlich? – vorgenommen, nun ein solides Leben (vielleicht sogar mit „lauschiger Dreizimmerwohnung“) anzufangen. An diesem Morgen war er sogar pünktlich zur Arbeit gekommen – nur, um dann seine Entlassungspapiere entgegen zu nehmen: „In dem Augenblick, wo die Arbeit Sinn erhielt, weil er Cornelia fand, verlor er die Arbeit. Und weil er die Arbeit verlor, verlor er Cornelia.“

 

Er fährt dann zurück zur Mutter, in eine Stadt, die unschwer als Kästnern Heimatstadt Dresden zu erkennen ist – ein weiterer literarischer Beleg für Kästners inniges Verhältnis zur Mutter. Also findet auch Fabian letztlich Zuflucht bei der Familie.

Der Tanz auf dem Vulkan

Ansonsten haben Kästners kleiner Mann Fabian und Falladas vor die Hunde gehender Pinneberg wenig gemein. Pinnebergs Charaktereigenschaften sind Anstand, Fleiß und Familiensinn. Der Gipfel an Vergnügen ist, wenn er mal von einem reichen Bekannten ins Kino eingeladen wird. Fabian dagegen verkehrt in Tanzsälen, Dating-Clubs, Künstler-Ateliers und Bordellen. Umgang hat er vorzugsweise mit Künstlerinnen, Huren und mannstollen Hausfrauen (wobei die Grenzen fließend sind). Pinneberg müht sich ganz unten, an der Basis der späten Weimarer Republik. Fabian tanzt ziemlich weit oben auf dem Vulkan.

Ein Moralist?

Fabien - ein Moralist? Hm ... was ist ein Moralist? Was ist überhaupt Moral? Ist Fabian wenigstens ein guter Mensch? Ganz gewiss – im Kleinen, im alltäglichen Handeln (ganz im Sinne von Kästners berühmter „Moral: Es gibt nichts Gutes / außer: Man tut es“). Er hilft ganz selbstverständlich dem Bettler, dem verrückten(?) Erfinder, dem beim Diebstahl ertappten Mädchen, dem ins Wasser gefallenen Jungen. Sein letztes Geld teilt er noch mit Cornelia, die doch soeben den Arbeitslosen verlassen hat, um ihre Schauspiel-Karriere im Bett eines alten, fetten Filmproduzenten voranzutreiben. Aber im Großen? So grundsätzlich? Natürlich sympathisiert er mit der Arbeiterklasse, aber als er durch Zufall am Wedding in eine Straßenschlacht zwischen Arbeitern und Polizei geriet („uniformierte Proletarier gegen proletarische Zivilisten“), da „drängte er sich durch die lebendige Mauer und ging seiner Wege“. Das immer stärkere Auftrumpfen der Nazis stößt ihn ab, aber mit Politik hat er nichts am Hut. Während sein engagierter Freund Labude die dekadente Gesellschaft ändern will, begnügt sich Fabian damit, sie – durchaus mit Ekel – zu beobachten.

 

Gesellschaftsporträt der späten 20er Jahre

Und wir, die Leser, beobachten mit, durch Fabians Augen. Und sehen ein abstoßend-faszinierendes Gesellschaftsporträt aus der Zeit des Übergangs von den „Goldenen Zwanzigern“ zur menschen- und kulturfeindlichen Naziherrschaft. Weltwirtschaftskrise: Die sozialen Unterschiede sind enorm (worauf Kästner immer wieder knapp aber scharf anspielt, wenn er etwa den fetten Direktor über seine schlecht heilende Blinddarmnarbe klagen lässt: „Das liegt am Bauch“ und den schlecht bezahlten Angestellten beruhigt: „Seien Sie froh, daß Sie keinen Bauch haben, mit ihrem unterernährten Körper“). Die abhängig Beschäftigten müssen dauernd um ihre Stelle bangen – mit weitreichenden Wirkungen auf die ganze Gesellschaft: „Wer ... kann heiraten? Der eine ist arbeitslos, der Andere verliert morgen seine Stellung. Der Dritte hat noch nie eine gehabt.“ Immer ist das Gespenst der Arbeitslosigkeit präsent, auch wenn es nicht so deutlich dominiert, wie in Falladas „Kleinem Mann“. Im Vordergrund steht bei Kästner vielmehr die noch nachwirkende kulturelle Blüte – zu der auch die Blüte von betörend schönen aber faulig riechenden, giften Sumpfblumen gehört.

Ein Sprachkunstwerk

Und dieses wilde Blühen schildert Kästner mit Schreibmaschine und Papier, aber in ebenso grellen Tönen, in ebenso radikalen Bildern, wie es beispielsweise Carl Hofer, George Grosz und vor allem Otto Dix zur selben Zeit mit Pinsel und Leinwand geschafft hat.

Keine betuliche Erzählung, wie in den Kinderbüchern! In diesem Gesellschaftsroman ist Kästners Sprache zynisch-intelligent, voll ungewöhnlicher Bilder und überraschender Wendungen („Der Mann wirkte ... verschlagen, wie ein Teufel ohne Gymnasialbildung“), expressionistisch, ja, oft geradezu surrealistisch.

 

Allein schon wegen des Lesegenusses, den diese gegen den Strich gebürstete und doch so eingängige Sprache verschafft, hat es sich gelohnt, den Roman endlich mal wieder zu lesen!

Wie neu ist die Neuausgabe?

Die Hoffnung allerdings, im „Gang vor die Hunde“ wäre gegenüber dem „Fabian“ viel Neues zu lesen, die sollte man sich abschminken. Gut – das damals angeblich undruckbare 3. Kapitel, in dem der fette Direktor vor zwei Angestellten die Hose runterlässt, um seine Blinddarmnarbe zu präsentieren, das wurde jetzt aufgenommen (aber so „krass“ ist das nun auch wieder nicht – und der wesentliche Teil davon steht auch schon als Anhang in Kästners „Gesammelten Schriften für Erwachsene“ von 1969).

 

Und die zensierten erotischen Stellen? Ach je! In der Dresdner Bordellszene präsentieren zwei Mädchen jetzt noch eine kleine Sexshow („mit Gummiglied“). Und während eine fremdgehende Ehefrau im „Fabian“ ihren One-Night-Stand vor dem Verkehr „im Schein der Taschenlampe wie ein alter Kassenarzt untersucht“, so untersucht sie jetzt „seinen Sexualapparat“ (ja, wenn schon Kassenarzt - was denn sonst?). Und ein anderer gehörnter Ehemann darf in der neuen Fassung endlich sagen, dass ihm „der Unterleib meiner Frau über den Kopf gewachsen“ ist! Ja, wirklich: das war’s dann schon an zusätzlicher Deftik in dem auch ohne das schon angenehm-deftigen Roman. Zugegeben: „Der Gang vor die Hunde“ ist nichts für Konfirmanden, ganz gleich, wie alt sie sind! (Aber mit dieser Formulierung hat Kästner alle Sittenrichter schon vor dem „Fabian“ gewarnt.)

Erich Kästner:

Der Gang vor die Hunde.

Roman (1931)

Herausgegeben von

Sven Hanuschek

 

Atrium Verlag Zürich 2013

22,95 EUR

ISBN: 978-3-85535-391-0

 

320 S. (ab S. 230: Anhang mit Kästners Nachworten und einer umfangreichen „editorischen Notiz“ des Herausgebers)

 

 

Erich Kästner:

Gesammelte Schriften für Erwachsene.

8 Bände – 2.500 Seiten - broschiert

Verlag: Droemer Knaur (Februar 1969)

ISBN-10: 3426002000

ISBN-13: 978-3426002001

 

In Band 2: Romae 1:

„Fabian. Die Geschichte eines Moralisten“, „ Der Herr ohne Blinddarm“ u. a.