Öden von Horváth:

Jugend ohne Gott

Der Autor

Ödön von Horváth war ein deutschsprachiger Schriftsteller ungarischer Herkunft. Geboren wurde er 1901 als Sohn eines österreichisch-ungarischen Diplomaten in Fiume (damals Ungarn, heute Rijeka, Kroatien). Die Familie zog häufig um zwischen Deutschland – Österreich – Ungarn. Ab 1919 studierte er in München u. a. Literatur- und Theaterwissenschaft; 1920 begann er zu schreiben. In seinen Stücken warnte er vor dem erstarkenden Faschismus („Sladek, der schwarze Reichswehrmann“, 1929; „Italienische Nacht“, 1931, u.a.).

 

Erfolgreich wurden vor allem seine „Volksstücke“ (v. a. „Geschichten aus dem Wiener Wald“, 1931; „Kasimir und Karoline“, 1932): Hier schildert er das Leben „kleiner Leute“ in ihrer Perspektivlosigkeit und der patriarchalischen Abhängigkeit insbesondere der Frauen.

 

Im nationalsozialistischen Deutschland hatte Horváth in Deutschland keine Zukunft mehr. Da nützten auch seine vorsichtigen Versuche nichts, sich mit dem Regime zu arrangieren (z. B. 1934: Antrag auf Aufnahme in den „Reichsverband Deutscher Schriftsteller“: „Meine Muttersprache ist deutsch“.) Seinen „Wienerwald“ verdammte der „Völkische Beobachter“ als „Unflat ersten Ranges“. Seine Stücke konnten nicht mehr aufgeführt werden; der Roman „Jugend ohne Gott“ (1937) wird 1938 „wegen seiner pazifistischen Tendenz auf die Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ gesetzt (Gestapo).

 

Das faktische Berufsverbot in Deutschland führt zur wirtschaftlichen Krise; nach Kastberger „weitete sich die existentielle zu einer moralischen Krise“, in deren Folge Horváth einem teilweise mystisch angehauchten Irrealismus verfällt. Um 1936/37 distanziert sich von seinen früheren Stücken und „stellt sich die Aufgabe, die Komödie des Menschen zu schreiben, ohne Kompromisse und ohne Gedanken ans Geschäft“, geplant als Zyklus von sieben Dramen. Allerdings bleibt unklar, welche seiner späteren Stücke – neben „Der jüngste Tag“ – tatsächlich diesem Zyklus angehören (sollten). In diese Zeit fiel dann ja auch die Fertigstellung von „Jugend ohne Gott“.

 

Nach 1933 hatte Horváth zunächst in Österreich gelebt; nach dessen „Anschluss“ reiste er zunächst auf dem Balkan und kam 1938 nach Paris. Dort wurde er am 1. Juni während eines Gewitters auf den Champs Elysées von einem herabstürzenden Ast erschlagen.

 

Eine – bis heute anhaltende – Renaissance erlebte der Autor durch die 68er Bewegung, die in ihm „einen sozialkritischen Autor (wiederentdeckte), der die großen sozialen Fragen seiner Zeit … auf die Bühne brachte…“ (Kastberger).

Inhalt:

Das Landestheater Detmold zeigt in der Spielzeit 2021/22 eine dramatisierte Fassung von "Jugend ohne Gott"

Es ist der 25. März, vermutlich um 1936/37 (in der Zeit hat Horváth jedenfalls den Text verfasst). Der Ich-Erzähler, Lehrer am (klein-)städtischen Jungengymnasium wird heute 34. Und korrigiert einen Geographie-Aufsatz zum „von der Aufsichtsbehörde vorgeschriebenen Thema ‚Warum müssen wir Kolonien haben?‘

Die Aufsätze sind überwiegend nationalistisch bis rassistisch – und damit system-konform. Also muss sich der Lehrer „hüten“, an all diesen „hohlen Phrasen … auch nur die leiseste Kritik zu üben! Wenns auch weh tut, was vermag der einzelne gegen alle?“ Selbst den all-„zu dummen“ Satz „Alle Neger sind hinterlistig, feig und faul“ wagt er nicht zu streichen, schließlich kam der auch schon im Radio (bekanntlich dem wichtigsten Propagandainstrument der Nazis). Schon, dass er im Unterricht zu sagen wagt: „Auch die Neger sind doch Menschen“ führt zu Mobbing durch die Schulklasse und zu Elternprotesten bei der Aufsichtsbehörde („Gift der Humanitätsduselei in unschuldige Kinderseelen“). Doch wenigstens steht der Direktor zu ihm, so dass er seine Klasse behalten kann. Die Schüler geben ihm den Spitznamen „Neger“.

 

In den Osterferien muss er mit seinen 14jährigen Schülern ins Zeltlager zu Wehrsportübungen. Dort kommts zur Katastrophe. Z schreibt Tagebuch und hat deshalb dauernd Streit mit N (alle Schüler werden nur beim Anfangsbuchstaben ihres Namens genannt). Der Lehrer liest heimlich das Tagebuch; als Z merkt, dass die Kassette mit dem Tagebuch geöffnet wurde, verdächtigt er N und droht, ihn umzubringen. Zwei Tage später findet man N erschlagen im Wald. Den Lehrer plagt sein schlechtes Gewissen, weil er dem Z nicht gesagt hat, dass er es war, der das Tagebuch gelesen hat.

 

Der Lehrer hat bisher nicht an Gott geglaubt; ihn beschäftigt die uralte (und noch von keinem Theologieprofessor zufriedenstellend beantwortete) Frage der Theodizee: Wie kann ein allwissender und allmächtiger und allgütiger Gott so viel Elend in der von ihm geschaffenen Welt zulassen? Doch: „Am letzten Tag unseres Lagerlebens kam Gott.“ – Während der Gerichtsverhandlung hört der Lehrer Gottes Stimme, die ihn auffordert, die Wahrheit zu sagen. Er gesteht also, dass er es war, der die Tagebuch-Kassette geöffnet hat und damit die moralische Schuld an Ns Tod trägt. Er verliert seine Stelle als Lehrer; doch durch das Beispiel des Lehrers angeregt, macht jetzt auch Eva eine Aussage. Sie ist die Anführerin eine Bande von verwahrlosten Kindern und hatte ein Verhältnis mit Z. Z glaubte, Eva habe N erschlagen und hat aus Liebe zu ihr die Schuld auf sich genommen. Als Eva jetzt berichtet, ein weiterer, ihr unbekannter Junge habe den Mord begangen, glaubt ihr das Gericht nicht und klagt jetzt sie anstelle Zs an. 

 

Der Lehrer ist sich allerdings sicher, dass T der wahre Mörder ist, ein zynischer, kalt-nihilistischer Schüler. Er setzt dem vernachlässigten Sohn reicher Eltern so lange zu, bis der ein Geständnis schreibt und sich dann erhängt.

 

N ist wieder auf freiem Fuß; Evas Freilassung ist abzusehen und der Pfarrer wird sich künftig um sie kümmern. Der Pfarrer hat dem Lehrer – beeindruckt von dessen Mut zur Wahrheit – eine Stelle an einer Missionsschule in Afrika vermittelt; und jetzt „fährt der Neger zu den Negern.“

 

Happy End!

 

Happy End ???

 

Sprache:

Horváth verwendet auch hier die „Sprache der kleinen Leute“, die er auch in seinen (Volks-) Stücken einsetzt: Kurze, einfach gebaute Sätze, eine schlichte, bewusst formel- und klischeereiche Sprechweise, die wie ein Dialekt anmutet, ohne sich einem wirklichen Dialekt anzunähern (Horváth hat ausdrücklich davor gewarnt, in seinen Stücken Dialekt sprechen zu lassen).

Kritik:

Als „Jugend ohne Gott“ 1937 erschien, wurde es – obwohl in Deutschland verboten – zum Erfolg mit Übersetzungen in mehrere Sprachen. Viele namhafte Kritiker der Zeit loben das Buch, bis hin zu Hermann Hesse und Thomas Mann, der sich herablässt, dem „reizvollen“ Werk einen „lebhaften Eindruck“ zu attestieren

 

Heute ist „Jugend ohne Gott“ eine beliebte Schul-Lektüre. Kein Wunder – bietet sie doch nicht nur eine spannende Kriminalgeschichte, sondern auch ein politisches Sittenbild aus der Frühzeit des nationalsozialistischen Deutschland. Diese klar aufgebaute Geschichte von einem (gebremst oppositionellen) Lehrer und seinen dem Regime verfallen(d)en Schülern bietet sich für erste Interpretationsübungen geradezu an. Kastberger spottet: „Wenige Romane lassen sich so lustvoll in didaktischen Diagrammen, Motivkreisen und Tafelbildern mit Listen von gegensätzlichen Begriffen darstellen“. Allgemein geschätzt wird seine antifaschistische (und gerade heute: anti-rassistische) Tendenz, die kaum in Zweifel gezogen wird, obwohl es anfangs durchaus Kritik gab, etwa von Carl Misch in der „Pariser Tageszeitung“ (12.11.1937): „Alles ist abgerückt, leicht vernebelt, … kaum ein Wort deutet darauf hin, dass … die Handlung in Hitler-Deutschland spielt“. Immerhin spricht der Lehrer einige wenige Male vom „großen Plebejer“, wobei überliefert ist, dass dies Horváths gängige Bezeichnung für Hitler war. – Der Schweizer Journalist Rudolf Jakob Humm findet „den Roman zu schematisch“; man sei „durchdröhnt von einer ungeheuren Geschwindigkeit“ und verstimmt, „wieso man sich des Fascismus als eines unterhaltenden Vorwands bedienen kann“ („Maß und Wert, 03/04 1938).

 

Aus heutiger Sicht mag diese Kritik an Überzeugungskraft verlieren. Der Roman eignet sich sehr wohl als Lehrstück über den verführerischen Sog, den eine – vermeintlich (?) homogene und sich einige – Gesellschaft auf den Einzelnen ausübt: über die Verführung, die Vereinnahmung des Individuums durch eine Idee, eine Ideologie, sei es nun (damals) die NS-Ideologie, sei es heute das (inzwischen etwas zurückhaltende) Lob der Globalisierung oder das immer noch virulente Hohe Lied des wirtschaftlichen Wachstums (s. Ampel-Koalitionsvertrag, in dem Wachstum ca. ein Dutzend Mal propagiert wird).

 

Wenig anfangen mag man heute dagegen mit der religiösen Grundierung vor allem in der zweiten Hälfte des Romans. Anfangs hat der Lehrer noch seine Gottferne und seine kirchenkritische Haltung betont, sich mit dem Problem der Theodizee auseinandergesetzt. Angesichts des durch frühe „Heuschrecken“ geschlossenen Sägewerks und der dadurch ausgelösten Arbeitslosigkeit und Armut, unter der gerade Kinder leiden, entwickelt er sozialkritische, geradezu antikapitalistische Überlegungen, wobei er vor allem auch der Kirche vorwirft, auf der Seite der Reichen und Mächtigen zu stehen. Die Diskussionen mit einem Pfarrer darüber reichen eigentlich nicht aus, den Positionswechsel des Lehrers zu erklären, der sich schließlich von einer – durchaus als real empfundenen – Stimme Gottes leiten lässt. Überhaupt ist der breit ausgeführte Gewissenskonflikt des Lehrers aufgrund seiner (selbst empfundenen) moralischen Mitschuld am Tod eines Schülers nicht sehr überzeugend dargestellt; noch weniger überzeugt die plötzliche unerklärte (unerklärliche) Hinwendung zu Gott.