Ein Buch für Menschen, die Menschen lieben, welche Bücher lieben

Carsten Henn: Der Buchspazierer

 

 

Ich hab Ihnen ja schon ein  Buch als Weihnachtsgeschenk empfohlen. Aber nicht jeder liebt Krimis, nicht jede will Krimis verschenken. Deshalb hier eine Alternative:

 

Ein Buch für Menschen, die Bücher lieben. Oder gar: Ein Buch für Menschen, die Menschen lieben, welche Bücher lieben.

 

Um solche Menschen, die Bücher lieben, geht’s nämlich in Carsten Henns Roman „Der Buchspazierer“. Überwiegend um solche Menschen, jedenfalls.

 

Die Geschichte:

Carl Kollhoff hat seine Existenz Büchern und deren Lesern gewidmet. Ein Berufsleben lang hat er in der Buchhandlung „Am Stadttor“ gewirkt. Die Kunden schätzen ihn immer noch als Ratgeber in literarischen Fragen, obwohl er nicht mehr „richtig“ dort arbeitet. Er besucht noch Stammkunden, bringt ihnen bestellte Bücher, nimmt neue Bestellungen entgegen. Diese Kunden werden zwar immer weniger, aber es reicht noch für eine Runde jeden Abend durch die Innenstadt. „Wenn er die Bettdecke über sich zog, tat er es in dem Bewusstsein, dass er am nächsten Tag wieder ein paar ganz besondere Bücher zu seinen ganz besonderen Kunden bringen durfte“ (33).

 

So hätte das ewig weitergehen können – aber das wäre doch etwas dünn für ein Buch von gut 220 Seiten. Also passieren zwei Dinge:

 

Der alte Inhaber, Carls Freund, hat die Buchhandlung an seine Tochter übergeben. Und für die ist der Laden nicht mehr Tempel der Literatur, sondern ein Geschäft, das Gewinn abzuwerfen hat. In Carl sieht sie lediglich einen – unnötigen – Kostenfaktor und lässt sich nur mit Mühe bewegen, ihn vorerst – „auf Bewährung“ – weitermachen zu lassen.

 

Ungefähr zur selben Zeit läuft plötzlich ein Mädchen neben ihm her: neun Jahre, neugierig, vorlaut, voller Ideen. Und stur. Seine Versuche, sie zu ignorieren, ignoriert sie einfach. Und ist erfolgreicher darin als er. Also wird der „Buchspazierer“, wie sie ihn nennt, nicht mehr nur von einer streunenden Katze namens „Hund“ begleitet, sondern auch von „Schascha“, die sich schnell zu einer Art Assistentin oder gar zu einer treibenden Kraft entwickelt:

 

Sie will die Kunden nicht nur mit Büchern versorgen, sie ist auch neugierig auf deren Schicksale. Und bringt Carl dazu, mit ihr zusammen in das Leben der Kunden einzugreifen, wo immer sie es für sinnvoll halten: Der analphabetische Bücherfreund „Herkules“ lernt jetzt Lesen, wodurch auch die pensionierte Lehrerin „Langstrumpf“ wieder eine Aufgabe im Leben hat; der „Vorleser“ erhält Gelegenheit, sein Erstlingswerk einer (wenn auch begrenzten) Öffentlichkeit vorzustellen … und so weiter. (Sie merken: Carl hat seinen Kunden eigene, literarische, Namen verliehen.)

 

So hätte das ewig weitergehen können … aber (der erfahrene Romanleser ahnt es schon lange): Vor dem Happy End bedarf es noch der Katastrophe. Die kommt in Gestalt von Schaschas Vater, der nicht einsieht, dass so ein alter Knacker so viel Umgang mit seiner Tochter hat und sie – nur einmal! – sogar zum Schulschwänzen animiert hat. Nach des Vaters Beschwerde im Buchladen fliegt Carl endgültig raus, und nach einer körperlichen Auseinandersetzung landet er im Krankenhaus. Und jetzt muss er erleben – der sich doch so um seine Kunden gekümmert hat –. dass sich niemand für ihn interessiert (allerdings weiß auch niemand, was geschehen ist und wo er ist).

 

So lange, bis Saschas Vater endlich Gewissensbisse bekommt und zulässt, dass seine Tochter nunmehr – energisch und bedenken-resistent wie sie ist - die Zukunft ihres Spazierfreundes in ihre Hände nimmt.

 

Was sollen wir lange drumrum reden? Der Bücher-Kunde „Dr. Faust“ vermittelt Carl eine neue Stelle in einem Antiquariat, wo er weiter als Berater und vor allem: als Buchspazierer wirken kann. Ja, sogar: ein reicher Erbe (und treuer Leser) finanziert ihm die Möglichkeit, solche Buchliebhaber mit Lesestoff zu versorgen, die sich die Bücher nicht leisten können.

 

Der Schlusssatz: „… gemeinsam nahmen die Buchspazierer … ab jetzt jeden Abend … den Weg durch die Dunkelheit. Denn die Bücher brauchten jemanden, der ihnen den richtigen Weg wies“ (222).

 

Also doch: Happy End:

 

Der Autor:

Carsten Henn war mir bisher unbekannt. Klappentext und  Verlagsmitteilung  attestieren ihm einen bewegten Lebenslauf: 1973 in Köln geboren. Jobs in einer Wein- und Käsehandlung; Radiomoderator, Weingutbesitzer und Weinjournalist, Hobbykoch und Restaurantkritiker. Autor von Krimis, Liebeskomödien und Theaterstücken …

 

Kritik:

Ganz ehrlich: Auf Seite 18 habe ich ernsthaft überlegt, das Buch für immer wegzulegen. Dort wird das Anwesen eines eifrigen Lesers so beschrieben:

 

Die „herrschaftliche Villa … kauerte sich wie ein geduckter schwarzer Schwan, der nur darauf wartete, die prachtvollen Schwingen auszubreiten.“ Ich hab mich dann doch entschlossen, über solchen Kitsch hinwegzusehen und mich bei weiteren derartigen Sätzen weniger über den Schwulst zu mokieren („… es kam ihm vor, als wäre nicht mehr viel Papier im Einband seines Lebens übrig“, 34), als vielmehr die Originalität der Formulierung zu bewun ….  also, sagen wir: zur Kenntnis zu nehmen („Manchmal sagte sein Mund Dinge, die nicht mit seinem Kopf abgesprochen waren“, 26).

 

Natürlich erhebt der „Buchspazierer“ nicht den Anspruch, hohe Literatur zu sein. Dafür ist die Handlung zu klischeehaft-absehbar. Und zwischendurch auch mal – umgekehrt – zu sprunghaft: Wie Schaschas Vater auf die Schnelle vom Saulus zum Paulus wird, ist nicht so recht nachvollziehbar. Aber so ein plötzlicher Wandel zum Positiven passt in die Heile Welt, in die wir hier eintauchen. Eine heile Welt, in welcher der alte Mann zwar mal seinen Job verliert, aber bald einen neuen – quasi auf dem Silbertablett – präsentiert bekommt. Wo die unglückliche erwachsene „Effie“ von einer Neunjährigen einfach an der Hand genommen und von ihrem prügelnden Ehemann weggeführt wird …

 

Möglich wird das eine oder andere Wunder durch die Existenz eines treuen Lesers, der gleichzeitig reicher Erbe ist: „Christian von Hohenesch musste nicht arbeiten, er ließ arbeiten. Seine Aktien und Depots taten es für ihn“ (18): Wie ein Deus ex machina greift er ein, wo Not an der Frau ist: nimmt nicht nur Prügelopfer „Effie“ sondern gleich auch noch die verstoßene Nonne „Amaryllis“ großzügig in seine Villa auf. Und schließlich finanziert er den Buchspazierer und ermöglicht ihm, arme Buchliebhaber mit kostenlosem Lesestoff zu versorgen.

 

Da ist nicht der Hauch eines sozialkritischen Nachdenkens darüber, dass es in unserem Land Menschen gibt, die in Geld schwimmen, da ihre Ur..großeltern mal ein Vermögen gemacht hatten; und auf der anderen Seite arme Schlucker, die sich nicht mal ein Buch leisten können. Kein Gedanke an einen Staat, der seinen Bürgern so eine Art kulturelles Existenzminimum sicherte (es muss ja nicht gleich das allgemeine bedingungslose Grundeinkommen sein), anstatt diese Grundversorgung den Launen eines privaten Mäzens zu überlassen.

 

Doch was soll’s? Schließlich muss nicht jedes Buch auf die Rettung der Welt zielen.

Verschenken Sie also mit gutem Gewissen den „Buchspazierer“ an die Literaturliebhaber unter Ihren Freunden – und bescheren Sie denen damit ein paar angenehme Stunden, im gemütlichen Sessel mit Blick auf die winterliche Stadt, bei einer schönen Tasse Tee (es darf auch ein guter Kognak sein) …   

 

PS: Man kann das Buch natürlich auch sich selber schenken.

 

 

 

 

Carsten Henn:

 

Der Buchspazierer

Pendo Verlag in der Piper Verlag GmbH, München

München 2020 (18. Auflage 2021)

224 Seiten   -   14,00 Euro

ISBN‎ 978-3-86612-477-6

 

PPS: Den „Buchspazierer“ gibt’s auch für Kindle. Aber dieses Buch als ein nur virtuelles Exemplar? – Das Sakrileg wollen Sie doch wohl nicht begehen!