Dürrenmatts "schlimmstmögliches Durcheinander"

Warum ich den Roman "Durcheinandertal" trotzdem fertig gelesen habe

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g.wasa     -     Detmold     -     Wieder einmal hat das Landestheater einen Roman auf seinem Spielplan: Dürrenmatts „Durcheinandertal“ (1989). Wie oft habe ich schon gegen die Unsitte der Romandramatisierung angewettert – immer vergeblich, also lassen wir’s diesmal. Unterziehen wir uns stattdessen der ersten Kritikerpflicht: den Text zu lesen, der da auf die Bühne kommen soll. Dieser Text, also Dürrenmatts Roman, erweist sich dann als ein derart unsägliches „Durcheinander“, dass man schon wieder darauf gespannt sein darf, wie es das Theater anfängt, „so etwas“ auf die Bühne zu bringen.

 

 

Der Roman: Was für ein Durcheinander!

Das erste, was ich über das Buch gehört habe, war: Dass Marcel Reich-Ranicki, als er darüber sprach, Gift und Galle gesprüht habe – eigentlich ein gutes Zeichen, denn häufig habe ich ganz gern eine andere Meinung als der Literaturpapst.

 

Aber diesmal? Sollte der grantelnde Giftzwergriese Recht behalten?

 

Die ersten zwei, drei Seiten: nicht bloß „durcheinander“ sondern wirr, einfach wirr. Da taucht aus dem Nichts (in dem er als Person – sogleich? - wieder verschwindet) ein „Gott ohne Bart“ auf. Dann ist da „der Große Alte“, vielleicht ein realer Mensch, aber auch das, was manche mit dem „Gott mit Bart“ gleichsetzen – womöglich haben wir hier ein handfestes philosophisch-theologisches Phänomen: der Gott mit Bart ist nicht nur der Alte Mann in den kindgerechten Biblischen Geschichten, sondern auch mächtig-machtloses Objekt scholastischer Spitzfindigkeiten, wohingegen der Gott ohne Bart der wirklich mächtige Gott Nietzsches sein könnte (denn vor dessen berüchtigtem „Gott ist tot“ muss jener ja am Leben, und zwar an einem menschengeschaffenen Leben gewesen sein).

 

Die folgenden Seiten: skurril bis obskur, je weiter fortschreitend, desto absurder und ärgerlich-alberner.

 

Spätestens auf Seite 22 (von 176), als über die irdische Dreifaltigkeit des Rechtsanwälte-Erzengels Raphael spekuliert wird, hätte ich eigentlich aufgehört zu lesen: schade um die Lebenszeit! Aber ich hatte mich nun mal verpflichtet, die auf dem Roman basierende Dramatisierung des Landestheaters Detmold zu besprechen. Also: Zähne zusammengebissen und durch!

 

Von Tieren, Göttern und Ganoven:

Durch also! Durch das Durcheinandertal; durch eine Kosmologie in der schon mal verschiedene Universen und Antiuniversen durcheinandergeraten; durch ein Pantheon, in welchem dem Großen-Alten-mit/ohne-Bart und seiner Erzengelriege ein spiegelbildliches Ensemble (Belial mit den altbekannten Unterteufeln Sammael, Asmoäus, Beelzebub etc.) entgegensteht oder mit ihnen identisch ist. Jedenfalls treffen sie sich alle bei „Kaffee-Oetiker Fr 10.15“ zur Konferenz „weit südlich des König-Haakon-Plateaus in der Antarktis“ (der Südpol ist Teil des Haakon-Plateaus, also geht weiter südlich – eigentlich - nicht!), und zwar regelmäßig: heute im ewigen(?) Eis, beim vorigen Mal in einem eher tropischen Ambiente (das muss dann vor mindestens 30, wahrscheinlicher vor über 100 Millionen Jahren gewesen sein).

 

Die Geschichte. – Die Geschichte?

Doch versuchen wir einfach, die Geschichte zu skizzieren, wie sie sich irgendwann mal abzeichnet: Moses Melker ist Mädchenschänder und –Mörder, Ehefrauen-Serien-Killer und Prophet einer neuen Glaubensrichtung, der den Allerreichsten – entgegen dem Axiom von Kamel und Nadelöhr - zur ewigen Seligkeit verhelfen will. Zu diesem Zweck bekommt er von einer dubiosen Organisation ein Kurhaus im Durcheinandertal zur Verfügung gestellt, in dem er jeden Sommer den Millionären und Milliardären die Gnade der Armut vermittelt. Im Winter dient dieses Kurhaus als Versteck für die Schwerverbrecher-Elite mehrerer Kontinente.

 

Das hätte nun schön immer so weitergehen können. Doch in der Langeweile dieses Zauberbergs kann ein Mafia-Spitzen-Killer nicht umhin, Elsi, die 14jährige Tochter des Gemeindepräsidenten zu vergewaltigen. Dem frühreifen Mädchen kommt die heftige Annäherung keineswegs ungelegen, doch leider meint ihr Hund, er müsse seine Herrin verteidigen und beißt dazu den Kumpan des Täters heftigst ins „Füdle“ (was sich wohl am besten mit „Popo“ ins Hochdeutsche übertragen lässt). Dass der brave Hund daraufhin als gefährlich gilt und getötet werden soll, erweist sich im Kontext des Buches als geradezu realistischer Erzählstrang. Bei Seite 93 ff. muss ich dann direkt mal schmunzeln, denn die Absurdität der Erzählung wirkt hier durchaus humoristisch: wenn der Polizist (gemäß Schweizer Polizisten-Norm zu klein, zu faul, zu verfressen und damit zu dick) sich mit seinem Dienstgewehr aufmacht, den Hund zu erschießen, aber auf den Gemeindepräsidenten stößt, der seinerseits ein Gewehr hat und entschlossen ist, seinen Hund bis aufs Letzte zu verteidigen. Die stundenlange Patt-Situation wird dann mit Cervelat(-Wurst)-Essen zu dritt (inklusive Hund) überbrückt. Aber keine Angst: der Realismus hält nicht lange vor, denn bald schon wird die Schweizer Armee in Marsch gesetzt, das Hundeleben mit Kanonenschüssen zu beenden … 

 

Der Hund heißt übrigens Mani, und der Leser mag spekulieren, ob dieser Name auf den altpersischen (216 – 276) Begründer der Religion der Manichäer zurückgeht, oder ob es sich hier um die schwyzerdytsch-behäbige Form des deutsch-lebhaften Manni handelt, den wir ja eher dem aggressiven Fußballerumfeld (Burgsmüller, Pohlschmidt; Breuckmann) zurechnen.

 

Walpurgisnacht:

Man könnte jetzt auf weitere Tiere zu sprechen kommen (ein Heer von Pinguinen, handtellergroße Spinnen, jamaikanische Abgottschlangen …), oder auf einen liechtensteinischen Reichsgrafen von Kücksen, oder einen verlotterten Dorfschulmeister und Poeten mit eigenwilliger dichterischer Arbeitsweise. Neben eigenen Werken zitiert dieser gerne Klassiker, vorzugsweise Goethe; und da darf in diesem Kontext dann auch der „Faust“ nicht fehlen – findet sich doch bereits in der „Walpurgisnacht“ eine Zusammenfassung des ganzen „Durcheinandertals“:

 

Faust: Wie seltsam glimmert durch die Gründe
Ein morgenrötlich trüber Schein!
Und selbst bis in die tiefen Schlünde
Des Abgrunds wittert er hinein.

Da steigt ein Dampf, dort ziehen Schwaden,
Hier leuchtet Glut aus Dunst und Flor …

Mephistopheles: Erleuchtet nicht zu diesem Feste
Herr Mammon prächtig den Palast?
Ein Glück, daß du's gesehen hast,
Ich spüre schon die ungestümen Gäste.

 

Aber natürlich lässt Dürrenmatt genau diese Zeilen außen vor und zitiert dafür den Absatz dazwischen:

 

Da sprühen Funken in der Nähe
Wie ausgestreuter goldner Sand.
Doch schau! in ihrer ganzen Höhe
Entzündet sich die Felsenwand.             

 

Götterdämmerung

Allerdings: auch das passt genau zur Situation, beschreibt es doch die Feuersbrunst, welcher am Ende Kurhaus, Dorf und Wald zum Opfer fallen – Götterdämmerung!

Es überleben – hoffnungsspendendes Erlösungsmotiv! – die miss(?)brauchte Elsi und ihr vielverfolgter Hund Mani:

 

„Sie schaute auf die lodernde Feuerwand, welche die Bewohner des Dorfes verschlungen hatte. Sie lächelte. Das Kind hüpfte vor Freude in ihrem Bauch“.

 

Durcheinander-Schweiz

Bleibt die Frage: Was bezweckte Dürrenmatt mit diesem „Durcheinander“? Am wahrscheinlichsten scheint mir: eine Satire auf seine eidgenössische Heimat.

 

Sicher: wir Ausländer mögen (und mochten im Erscheinungsjahr 1989, als Schweizer Konten noch bomben- und vor allem CD-sicher waren) das Bild einer beschaulich-ordentlichen Schweiz vor Augen haben. Aber vielleicht empfand der Schweizer das anders, sah dieses „Durcheinander“ in den politischen Entscheidungen, die vorzugsweise „im Ochsen beim Jassen (=Kartenspielen)“ getroffen wurden; rätselte über die  Unüberschaubarkeit der Aufgaben der Volksrepräsentanten (der Gemeindepräsident von Durcheinandertal scheint nichts anderes zu tun zu haben, als nicht auf seine frühreife Tochter aufzupassen und mit seinem Findelhund Gespräche über die Weltläufte zu führen); oder verzweifelte gar an dem Durcheinander von National-, Bundes- und Stiftungsräten, die alle mit derart vielen Treuhänder-, Aufsichtsrat- und Stiftungs-Mandaten ausgestattet waren (sind?), dass schon mal der Überblick über die Mandate – geschweige denn über die vertretenen Institutionen – verloren gehen kann.

 

Ein Gespenst geht um – der Finanzkapitalismus:

Vielleicht kann man – aus diesem Blickwinkel – endlich auch den allmächtigen Großen Alten (ohne Bart) identifizieren: Vermutlich handelt es sich bei ihm um nichts anderes als die Personifizierung des Finanzkapitalismus eidgenössischer Prägung (S. 7 f.):

 

„seine Allmacht äußerte sich in seiner Unfaßbarkeit. Keine Regierung und keine Polizei versuchte ihn zu ergreifen, zu viele Fäden liefen bei ihm zusammen. Wem allem hatten nicht seine Banken Nummernkonten verschafft, bei welchen Multis besaß er nicht die Aktienmehrheit, und bei welchen Waffenschiebungen hatte er nicht die Hände im Spiel, welche Regierung korrumpierte er nicht ….?“

 

 

 

 

Friedrich Dürrenmatt:

 

Durcheinandertal – Roman

 

Diogenes Taschenbuch 22438, 1991 (Erstausgabe 1989)

 

176 S. – 9,00 Euro

 

ISBN 978 3 257 22438 2