„Das hört nie auf“ – mein ganz persönlicher Nachruf auf GG

Ciao, Günter .... und:   Danke!

g.WaSa     -     „Günter“ ...  Verzeih die vertrauliche Anrede. Vor zwei Wochen hätte ich Dich selbstverständlich mit „Herr Grass“ und „Sie“ angesprochen. Aber jetzt bist Du gegangen. Richtiger: Dein Körper ist gegangen; Dein Werk, Dein Geist wird uns bleiben. Und wie kann ich einen Geist mit „Sie“ anreden? Einen Geist zudem, der mir seit fast einem halben Jahrhundert so vertraut erscheint?

 

Es muss wohl 1966, 67 gewesen sein, als ich Dich kennenlernte,  zwei, drei Jahre vor dem Abitur, mit 16, 17 Jahren – also eigentlich ziemlich spät. Aber ich bin nun mal von eher literaturferner Herkunft: in meinem Elternhaus gab’s ein katholisches Gesangbuch und jeweils ein gutes Dutzend Bände Ganghofer und Karl May. Und in der kleinen dreiklassigen Dorfschule, die ich bis 14 in meinem schwäbischen 800-Einwohner-Dorf besuchte, wurde mein besonderes literarisches Interesse dadurch gefördert, dass ich Schillers „Glocke“ zur Gänze auswendiglernen durfte (großenteils kann ich sie heute noch). Und dann führte  – nach 8 Jahren „Volksschule“ - der einzig erreichbare Weg zum Abitur über Höhere Handelsschule und Wirtschaftsgymnasium. Die Mitschüler waren zumeist Fabrikantenkinder, die mal den Betrieb übernehmen sollten und wollten. Da kam Betriebswirtschaftslehre vor Bibliophilie, Buchhaltung vor Bücherlesen.

 

Ungefähr in der Zeit des Übergangs zur „höheren“ Schule starb ein Großonkel – der Intellektuelle der Familie, ein pensionierter Schulmeister. Kein Mensch hat sich für seinen Bücherschrank interessiert, und so wurde ich zum stolzen Besitzer und fanatischen Leser der Gesamtausgaben von Shakespeare, Lessing, Schiller, Goethe, Heine ... und und und ...  Du warst nicht dazwischen. Das jüngste Buch in Onkels Sammlung war 26 Jahre vor Deiner Geburt erschienen, 1901: die Geschichte vom Verfall einer Lübecker Kaufmannsfamilie – und das wurde schnell mein Lieblingsroman, ist es bis heute geblieben.  

 

 

Vermutlich war es dann mein Deutschlehrer, von dem ich zum ersten Mal von „Katz und Maus“ gehört habe. Er liebte die Literatur, war engagiert. Und er war ehemaliger Wehrmachtsoffizier, der uns immer noch stolz erzählte, er habe sich freiwillig an die Ostfront gemeldet. Kannst Du Dir vorstellen, wie dem Dein Umgang mit dem Ritterkreuz gefallen hat? Die „Hundejahre“ hat er uns verschwiegen, hätte wohl auch die „Blechtrommel“ am liebsten übergangen – aber offenbar ging das denn doch nicht. Sein Kommentar dazu entsprach in etwa dem des damaligen Bundespräsidenten (der vor allem als rhetorischer Unglücksrabe im Gedächtnis geblieben ist): der hatte ungefähr zur selben Zeit Willy Brandt darüber aufgeklärt, man könne mit Günter Grass nicht an einem Tisch sitzen: "Der schreibt so unanständige Dinge, über die nicht einmal Eheleute miteinander sprechen."

 

Klar, dass sich die paar wenigen „Literaten“ in der Klasse nun erst recht auf Dich stürzten: Wir machten uns einen Sport daraus, die „Danziger Trilogie“ unter der Bank zu lesen, während Dr. K. vorne über Barockliteratur dozierte. Die Barockliteratur habe ich dann trotzdem verschlungen: Grimmelshausen vor allem: es hat durchaus was für sich, die Geschichte des Kriegskindes Simplicissimus parallel mit der Geschichte des Blechtrommlers Oskar zu lesen. (Der „Simplicissimus“ fand sich im Schrank des Großonkels; um mir den Parallel-Roman über die „Landstörzerin Courage“ besorgen zu können, benötigte ich ein Empfehlungsschreiben des Deutschlehrers: Diese Frauen-Biografie aus dem 30jährigen Krieg galt damals noch als so unanständig, dass die Stadtbücherei Reutlingen sie nicht an einen Unter-18-Jährigen verleihen wollte). Und dann Gryphius! Sein Anti-Kriegs-Sonnett „Tränen des Vaterlandes“ ist bis heute eines meiner Lieblingsgedichte. Ebenso sein „alles ist eitel“, das damals unser Lebensgefühl traf ...

 

Aber ich muss doch vor Dir meine Begeisterung für Barockdichter nicht rechtfertigen! Warst Du es doch, der wenige Jahre später die alle wieder zum Leben erweckt, ihnen im „Treffen in Telgte“ ein literarisches Denkmal gesetzt hast!

Das war – nach dem „Butt“ – Dein zweites Buch, das ich als gebundene Ausgabe gekauft habe. Die früheren Bände, bis zum „Tagebuch einer Schnecke“, besitze ich als Taschenbücher: damals, als Schüler, war das Geld halt schon recht knapp ... Das „Gleisdreieck“, beispielsweise, hatte ich mir ausgeliehen und auf meiner alten mechanischen Schreibmaschine Gedicht für Gedicht, Zeile für Zeile abgetippt – Verzeih mir, aber Du wirst die Tantiemen verschmerzt haben!

 

Aber seit dem „Butt“, wie gesagt, mochte ich auf die Taschenbuchausgabe nicht mehr warten. Am Abend vor dem Erstverkaufstags eines neuen „Harry Potter“ sollen sich Fans im Magierkostüm vor der Buchhandlung angestellt haben. Nein – ich stand nie mit einer weiß-rot lackierten Trommel Schlange. Aber innerhalb einer Woche nach Erscheinen musste der „neue Grass“ in meinem Besitz sein! Unter allen Umständen! 

Wenn ich da an „Mein Jahrhundert“ denke! Kurz vor Erscheinen war meine Schwiegermutter gestorben und wir mussten ihren Haushalt auflösen. Zu den zwei oder mehr Goethe-, Schiller-, Shakespeare- usw. –Ausgaben, die meine Frau und ich in die Ehe gebracht und/oder uns im Lauf der Jahre angeschafft hatten, kam jetzt jeweils noch eine weitere. Und Hunderte anderer Bücher. Denn Bücher gibt man ja nicht weg! So ganz haben wir das damals nicht durchgehalten – aber angesichts meterhoher Stapel neben überquellenden Regalen haben wir uns gegenseitig versprochen: jetzt werden erst mal keine neuen Bücher angeschafft.

Und dann erschien „Mein Jahrhundert“! Dieser herrliche großformatige (auch das noch!) Band. Zu jedem Jahr des ausgehenden Jahrhunderts eine Geschichte. Zu jeder Geschichte eine Grafik des gelernten Grafikers Günter Grass! Und als ich dann auch noch mein Geburtsjahr – 1950 – aufschlug und dort eine Karikatur von MIR entdeckte (ehrlich ... man braucht wirklich nur ein kleines bisschen Phantasie!) ... DA KONNTE ICH DOCH DIESES WUNDERBARE BUCH NICHT STEHENLASSEN !!! Ich hab dann hin und her überlegt, wie ich es (zur Erinnerung: dieses Riesenformat!) in die Wohnung schmuggle – und hab mich dann entschieden: „Nein! Ich schmuggle überhaupt nicht! Ich bring es einfach mit!“ – Und tatsächlich: Meine Frau stimmte mir zu: Das musste einfach sein!

 

Vorher gab’s noch „Die Rättin“ und „Unkenrufe“, die ich wie gewohnt in der ersten Woche gekauft und bis spätestens Ende der zweiten gelesen hatte. Erst mit dem „weiten Feld“ hatte ich dann meine Probleme. Da brauchte ich mehrere Anläufe, um darin voran und gar zum Ende zu kommen. Immerhin eines verdanke ich Dir: Du hast mir damit den Weg zu Fontane geebnet, zu dem ich vorher keinen so rechten Zugang hatte (das hatte nicht einmal Walter Jens geschafft, der einst in Tübingen seine große Vorlesung über meinen geliebten Thomas Mann mit einer Eloge auf Fontanes Romane eingeleitet hatte). Jetzt, nach wenigen Dutzend Seiten „weites Feld“ habe ich erst einmal „Effie Briest“ gelesen. Und danach auch Dein Buch irgendwie zu Ende gebracht. Noch schllimmer war’s dann mit „Im Krebsgang“. Das habe ich erst jetzt, aus dem traurigen Anlass Deines Weggangs, endlich fertig gelesen!

 

Dein jüngeres Werk – ich muss es gestehen – habe ich aus dem Blick verloren. „Beim Häuten der Zwiebel“ habe ich damals nicht gekauft – vielleicht als eine Art Protest gegen den damit verbundenen Rummel. Wohlgemerkt: kein Grass-Boykott! Sowenig wie irgendein vernünftiger Mensch habe ich Dir vorgeworfen, dass Du mit 17 zur Waffen-SS eingezogen wurdest. Und Dein Schweigen darüber? Ich fand, das konnte man verstehen. Wichtiger als ein eventuelles früheres „Geständnis“ war mir immer, was Du aktuell zur deutschen Einheit oder zu Israel zu sagen hattest.

 

Schließlich: „Grimms Wörter“ – an die könnte ich wieder eine „Liebeserklärung“ richten. Nein – ich habe sie nicht auf einen Rutsch verschlungen. Aber bis heute lese ich immer mal wieder das eine, das andere Kapitel.

 

Apropos „immer mal wieder“: Die „Blechtrommel“ habe ich (wenn ich richtig gezählt habe) inzwischen fünf mal gelesen. Noch öfter habe ich nur die „Buddenbrooks“ und den „Faust“ gelesen (Okay ... um ganz ehrlich zu sein: auch den „Schatz im Silbersee“ und Karl Mays beste, wenn auch weniger bekannte Geschichte: den „blau-roten Methusalem“ – aber die ersten 6 – 7 Jahre meines Leselebens hatte ich ja auch nichts anderes). Und der „Butt“ gehört mit dreimal gelesen ebenfalls in meine Spitzengruppe, neben dem „Zauberberg“ und dem „Doktor Faustus“ und „Tom Sawyer“ (na ja ... und „Winnetou“;   nicht mitgezählt sind all die Theaterstücke, die man halt nochmal liest, bevor man eine zu besprechende Aufführung besucht). 

Und nun? Nachdem ich, wie erwähnt, endlich „Im Krebsgang“ zu Ende gelesen habe, bin ich jetzt (zum 3.? oder 4. mal?) wieder bei den „Hundejahren“. Und danach ist wieder einmal der „Butt“ fest eingeplant – meiner Meinung nach Dein bestes, literarisch anspruchsvollstes Werk. Wenn ich so sagen darf: der „reife Höhepunkt“ nach dem jugendlichen Geniestreich „Blechtrommel“. 

Ach so ja, „Blechtrommel“ – nachdem die ARD anlässlich Deines Todes Schlöndorffs Verfilmung der ersten „Blechtrommel“-Hälfte gezeigt hat, kann ich es kaum erwarten, auch endlich mal wieder die ganze Geschichte zu lesen.  Und nach dem, was ich vorhin über Oskar und Simplicissimus gesagt habe: Ich könnte dann ja endlich Reinhard Kaisers viel gerühmte „Simplicissimus“-Übersetzung ins heutige Deutsch lesen ... Tja, und in dem Zusammenhang wäre dann auch das „Treffen in Telgte“ mal wieder dran ...         

 

Wie sagt Dein Alter Ego, Paul Prokriefke, so schön: Das hört nicht auf. Nie hört das auf.