Lesebuch zur (Sozial-) Geschichte Lippes

Sagen und Märchen aus dem Lipperland

WaSa – Lippe.   Vor genau 200 Jahren, am 20. Dezember 1812, erschien das am weitesten verbreitete und am häufigsten übersetzte Werk der deutschen Literatur: die Märchensammlung der Gebrüder Grimm – Anlass, mal wieder die Aufmerksamkeit auf diese (aus heutiger Sicht nicht immer jugendfreien) Erzählungen, und überhaupt auf das Genre zu lenken.

Gerade rechtzeitig zu diesem Märchen-Jubiläum hat Hubertus Hagemeier unter dem Titel „Sagenhaftes Lipperland“ eine Sammlung  aus dem „besonders reichen Schatz an mündlichen Überlieferungen und sagenhaften Geschichten“ aus Lippe veröffentlicht – „so abwechslungsreich und vielschichtig wie die Region und ihre Menschen“.

Rund 85 Erzählungen hat Hagemeier zusammengestellt, zwischen wenige Zeilen und mehrere Seiten lang, regional angesiedelt vor allem in Lippe, in Einzelfällen auch in Lippstadt oder Pyrmont. Die Texte werden ergänzt durch zahlreiche Schwarzweiß-Fotos, die leider häufig recht unvermittelt zwischen den Geschichten stehen – da wäre man für die eine oder andere Erläuterung dankbar.

In der Einleitung wird der gattungstheoretische Unterschied zwischen Märchen und Sagen kurz erläutert, vor allem soll aber ein knapper geschichtlicher Abriss mit den „Besonderheiten des Landes Lippe“ vertraut machen und die folgenden Märchen und Sagen in einen historischen Rahmen einordnen, wobei der Autor heimatstolz verkündet: „Die Geschichte Lippes ist in Deutschland einzigartig, da das kleine Land, in zentraler Lage zwischen den jeweiligen Großmächten gelegen, immer seine politische Unabhängigkeit bewahren konnte.“

Auch hinsichtlich des Bedeutungsgehalts seiner Sammlung hegt Hagemeier keine falsche Bescheidenheit: „Jede der nachfolgenden Geschichten … legt ein wertvolles kulturgeschichtliches Zeugnis ab über die damaligen politischen Gegebenheiten und über die Lebensverhältnisse der Menschen mit all ihren Denkweisen und Vorstellungen.“

So ganz kann er diesen hohen Anspruch dann doch nicht einlösen. Zwar erfährt man, warum die Bewohner Horns als „Lachsfresser“ verspottet werden, wie Karl der Große Heiligenkirchen gegründet hat, wie die Kirche in Salzuflen zu ihrem Hahn kam oder wie der Wackelstein auf die Externsteine gelangte –  die Sagenkundigen wird es nicht verwundern, dass bei letzterem der Teufel seine Hand im Spiel hatte, gibt es dergleichen Geschichten doch auch anderswo. Und dies gilt für viele der hier zusammengestellten Texte: sie sind so ähnlich auch in anderen deutschen Regionen bekannt: die Sagen vom geprellten Teufel, von Wotans wilder Jagd, von Riesen und Zwergen; vom Hirschsprung, der hier am Falkenberg angesiedelt wird, den man aber vor allem aus dem Südschwarzwald (und nicht nur von dort) kennt. Die Heinzelmännchen waren demnach ursprünglich Lipper; und die Bürger von Schilda erleben ihre Wiederauferstehung ausgerechnet in Mossenberg, der Heimat eines der bekanntesten Lippers.

Aber auch wenn viele der hier präsentierten Geschichten ziemlich banal und langweilig sind – sehr erfreulich ist der historische Ansatz des Herausgebers: Über die knappe historische Einleitung hinaus ergänzt er einzelne Sagen und Märchen durch kurze Erläuterungen und zeitgeschichtliche Einordnungen; und so wird aus der Sammlung ein interessantes Lesebuch zur Geschichte Lippes, wobei das Haus derer zur Lippe natürlich eine zentrale Rolle spielt – und von Hagemeier erfrischend kritisch betrachtet wird! Die Herkunft der (1123 erstmals genannten) „Edelherren zur Lippe“ bleibt im Dunkeln; doch wird sehr deutlich, wie der Zuwachs an Macht und Reichtum „immer auf Kosten der Bevölkerung erzielt (wurden). Die Menschen in den Städten und auf dem Land zahlten mit ihrem Blut und dem Verlust ihres ohnehin oft nur spärlichen Besitzes.“ Der zarte Hinweis darauf, dass der (Großgrund-)Besitz heutigen Adels wohl großenteils durch Raub, Fron und Ausbeutung erworben wurde, ist heute von besonderem Interesse, wenn sich der Nachfahr der damaligen Raffer in eitler Pose darin gefällt, das „traditionsreiche Familienerbe“ gegen jegliche Nationalpark-Bestrebungen zu verteidigen.

In seinem Interesse an sozialen Fragen beschränkt sich Hagemeier nicht auf Sagen und Märchen. Es findet sich auch eine Darstellung des letzten Hexenprozesses in Lemgo, eine Erzählung von Ernst Moritz Arndt über einen grausamen Fürsten, der zur Strafe nach seinem Tod umgehen muss. Oder Georg Weerths Bericht über „die armen Leute in der Senne“ – ein Glanzstück frühen sozial-engagierten Journalismuses.

Um auf die Gebrüder Grimm zurückzukommen: auch aus ihrer Sammlung sind einige Beispiele aufgenommen. Diese Geschichten „aus dem Fürstenthum Lippe“ gehören zwar nicht zu den bekannteren Grimmschen Märchen, zumindest eines davon, das von den „drei Spinnerinnen“ ist aber besonders bemerkenswert. Hier wird nicht die märchenübliche Moral vertreten, dass die Fleißigen belohnt und die Faulen bestraft werden (wie – nicht nur – in „Frau Holle“), hier ist es vielmehr das Mädchen, das nicht spinnen mag, das mit seiner Faulheit und seinem Betrug durchkommt und nicht nur den Königssohn abbekommt, sondern auch noch lebenslänglich von der Mühsal des Spinnens befreit wird.


Hubertus Hagemeier:
Sagenhaftes Lipperland.
Sutton Verlag Erfurt
126 S. - 16,95 Euro
ISBN 978-3-95400-075-3