Aus traurigem Anlass: Endlich fertiggelesen:

„Im Krebsgang“ von Günter Grass

Wollen wir das so genau wissen?

Beim Untergang von Flüchtlingsbooten im Mittelmeer

sind in den letzten 20 Jahren wohl

weit mehr als 25.000 Menschen ertrunken,

allein in den ersten vier Monaten2015 annähernd 2.000

(nach SPIEGEL 2015/18, S. 12)

 

 

 

„Wilhelm Gustloff“: Größte Schiffskatastrophe aller Zeiten

g.WaSa     -     Der Untergang der „Titanic“  am 14.04.912 gilt als DIE Schifffahrts-Katastrophe, nicht erst, seit Leonardo DiCaprio so publikumswirksam in den Tod gegangen ist. Immerhin starben damals mehr als 1.500 von den 2.200 Menschen an Bord. In Wirklichkeit rangiert dieses Unglück jedoch – was die Zahl der Opfer angeht – unter „ferner liefen“. Die Wikipedia-Liste der großen Schiffsunglücke bricht bei einer Opferzahl von 2.500 ab und nennt bis dahin 25 Ereignisse allein seit 1588, als die Spanische Armada unterging (geschätzte 13.000 Tote). Die Opferzahl beim Untergang eines einzelnen Schiffes reicht von gut 2.500 (die mit – vor allem sowjetischen – Kriegsgefangenen vollgestopfte „Rigel“ am 27.11.1944 ) über 4.300 (die philippinische Fähre „Doña Paz“ am 20.12.1987) bis zu den rund 9.000 Ertrunkenen beim Untergang der „Wilhelm Gustloff“ am 30.01.1945.

 

Die „Wilhelm Gustloff“ sollte Flüchtlinge aus dem – durch die Rote Armee vom Reichsgebiet abgeschnittenen – Ostpreußen evakuieren. An Bord waren gut 900 Marinesoldaten, 340 Marinehelferinnen, etwa 160 verwundete Soldaten und knapp 9.000 Zivilisten, in der Mehrzahl Frauen und Kinder. In der ersten Nacht auf See wurde das Schiff von einem russischen U-Boot versenkt; 1.252 Menschen konnten gerettet werden, über 9.000 starben in der eiskalten Nacht.

 

Damit ist der Untergang der „Wilhelm Gustloff“ – gemessen an der Anzahl der Opfer und bezogen auf ein einzelnes Schiff – tatsächlich die größte Schiffskatastrophe in der ganzen bekannten Seefahrtsgeschichte.

 

Dass die „Titanic“ trotzdem mehr Platz im öffentlichen Bewusstsein fand, mag damit zusammenhängen, dass sie mitten im Frieden sank, wohingegen gerade gegen Ende des zweiten Weltkrieges sich Schiffuntergänge mit Tausenden Toten häuften, auf beiden Seiten und von der Ostsee bis zum Ostchinesischen Mee, meist durch Bombardierung aus der Luft oder durch U-Boot-Beschuss.

 

 

Zwischen Tätern und Opfern: Das Problem mit dem „Gedenken“

Zudem mochte man es gerade in Deutschland für angemessen halten, die Klage über 9.000 Opfer nicht allzu laut werden zu lassen – angesichts von (beispielsweise) 13 Millionen militärischen und 14 Millionen zivilen Kriegsopfern in der Sowjetunion, 300 000 militärischen und knapp 6 Millionen zivilen Opfern in Polen, ganz zu schweigen von 6 Millionen jüdischen und an die 4 Millionen weiteren KZ-Toten.

 

Aber natürlich waren auch die 9.000 Toten der „Wilhelm Gustloff“ letztlich Opfer des Nazi-Regimes, des von Hitler angezettelten Krieges. Auch sie hatten Angehörige, die um sie trauerten. Und auch die Überlebenden der „Wilhelm Gustloff“ waren traumatisiert und in ihrem weiteren Leben durch die Erinnerung an das Unglück geprägt.

 

Kurz: auch sie verdienen Gedenken – warum nicht in Form eines literarischen Denkmals? Und wer wäre berufener, ein solches Denkmal zu setzen, als (nur ganz kurz, sozusagen routinemäßig, habe ich vor dem Superlativ gezögert) der bedeutendste Romancier der deutschen Nachkriegsgeschichte: der Schöpfer der „Danziger Trilogie“, der unermüdlich-kritische Begleiter deutscher Nachkriegspolitik. Und tatsächlich nahm sich Günter Grass um die Jahrtausendwende des Themas „Wilhelm Gustloff“ an. Aber warum lassen wir ihn nicht selbst zu Wort kommen. Ziemlich genau in der Mitte seiner „Novelle“ schreibt er in der dritten Person über sich selbst, „den Alten“:

 

„Das nagt an dem Alten. Eigentlich, sagt er, wäre es Aufgabe seiner Generation gewesen, dem Elend der ostpreußischen Flüchtlinge Ausdruck zu geben: den winterlichen Trecks ..., dem Tod in Schneewehen, dem Verrecken am Straßenrand und in Eislöchern ... Niemals, sagt er, hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue ... vordringlich gewesen sei, schweigen, das gemiedene Thema den Rechtsgestrickten überlassen dürfen. ...“  (99).

 

Doch angeblich hat er sich „müdegeschrieben“ (99), „leergeschrieben“ (30). Etwa fünf Jahre, nachdem er die Gustloff-Erzählung verfasst hatte, hat Grass seine Waffen-SS-Vergangenheit öffentlich gemacht. Da wurde dann einiges aus dem ersten Absatz des „Krebsganges“ herausgelesen (oder hineininterpretiert?):

 

„ ‚Warum erst jetzt?‘ sagte jemand ...Weil ich schreien wollte, aber nicht konnte ... Weil die Wahrheit kaum mehr als drei Zeilen ... Weil jetzt erst ... Noch haben die Wörter Schwierigkeiten mit mir.“ (7)

 

Wie auch immer: er will diese Geschichte nicht selbst schreiben und erschafft sich deshalb einen „Ghostwriter“. Und zwar so: Er schickt die aus der „Danziger Trilogie“ wohlbekannte Tulla als Flüchtling auf die „Gustloff“, als hochschwangere 17jährige, bei der dann auch in dem Moment die Wehen einsetzen, als das Schiff von Torpedos getroffen wird. Sie und ihr Neugeborenes gehören zu den wenigen Geretteten. Den Jungen lässt Grass Journalist werden, der dann von ihm (und von Mutter Tulla) ausersehen wird, die Geschichte der Gustloff aufzuschreiben, „Zeugnis abzulegen“. 

 Problematische Geschichte – komplizierte Erzählung

Der tut das dann auch – eher widerwillig. Und er ... nein, nicht er, nicht dieser fiktive Paul Pokriefke, nein, der tatsächliche Autor, Günter Grass, macht es uns nicht gerade leicht mit diesem relativ kurzen Text. Nicht wegen des Inhalts, wegen der historischen Problematik – nein durch seine Art des Schreibens, die er übrigens selbst immer wieder kritisch reflektiert: Er schreibt nämlich nichtwie gelernt: erst das eine, dann das andere und danach dieser oder jener Lebenslauf“ (8). Es sind ja mehrere dieser Lebensläufe, die Grass in seine Novelle hineinpackt: Da wäre zunächst Wilhelm Gustloff, der Namenspatron des Schiffes: ein Nazi, der die NS-Auslandsorganisation in der Schweiz aufbaut und führt. Dann der junge Jude David Frankfurter, der – um ein Zeichen zu setzen – Gustloff erschießt und ihn damit zum Märtyrer, zum „Blutzeugen“ der NS-Bewegung macht. Als Dritter: Marinesko, der Kommandant des sowjetischen U-Boots, der die „Gustloff“ versenkt. Und schließlich natürlich das Schiff selbst – auch das hat einen Lebenslauf: gebaut als Kreuzfahrtschiff für die NS-Ferienorganisation „Kraft durch Freude“, im Krieg als Lazarett und Kaserne genutzt und schließlich zur Evakuierung von Flüchtlingen eingesetzt.

 

Über diese historische, reale Erzählschicht wird eine zweite, fiktive Ebene gelegt, welche die erfundenen Romangestalten in der Gegenwart schildert:  die gerettete Tulla, ihren Sohn Paul als fiktiven Erzähler,und den Enkel Konny („unser Konradchen“). Konny wird zum Neonazi – man darf vermuten: nicht zuletzt unter dem Einfluss der Stalinverehrerin Tulla und ihrer Berichte über das (in beiden Nachkriegsdeutschländern totgeschwiegene) Schicksal der „Gustloff“ und ihrer Passagiere. Unter dem Namen „Wilhelm“ betreibt der Enkel eine Webseite über Wilhelm Gustloff („Blutzeuge“) und liefert sich mit dem – vorgeblichen – Juden „David“ ideologische Online-Scharmützel. Eine tatsächliche Begegnung der „Freund-Feinde“ endet damit, dass Konny den andern erschießt, wobei er diese Tat zum Spiegelbild jenes früheren Mordes stilisiert: So wie der historische Jude David Frankfurter den Nazi Wilhelm Gustloff mit vier Schüssen getötet hat, so tötet jetzt der Neonazi „Wilhelm“ den vorgeblichen Juden „David“; hatte Frankfurter seine Tat damals begründet „weil ich Jude bin“, rechtfertigt sich Konny jetzt mit „weil ich Deutscher bin“.

 

Diese verschiedenen Erzählstränge werden nun nicht chronologisch, linear erzählt, sondern vielmehr zu einem Beziehungsgeflecht verwoben – um nicht zu sagen: zu einem Knäuel verwirrt, indem der Autor

 

 „der Zeit eher schrägläufig in die Quere kommen muß, etwa nach Art der Krebse, die den Rückwärtsgang seitlich ausscherend vortäuschen, doch ziemlich schnell vorankommen“ (8).

 

Über’s  „schnell vorankommen“ wird noch zu sprechen sein. Was das „Schrägläufige“ anbelangt: Der Autor springt tatsächlich von einem Protagonisten zum andern und wieder zurück. Mal bringt er drei in einem Satz unter:

 

„Während der U-Bootoffizier Marinesko entweder auf See war oder ... Landgang hatte ..., gewann der in Hamburg auf Kiel gelegte Neubau Gestalt ... und ... stand der Angeklagte David Frankfurter zwischen den beiden Kantonspolizisten“ (47);

 

mal vertieft er sich in nebensächlichste – womöglich nur vermutete - Einzelheiten (dem Angeklagten Frankfurter „wird während Verhandlungspausen die eine, die andere Zigarette erlaubt worden sein“ (47)).

 

Er springt nicht nur zwischen den Zeitebenen hin und her; auch innerhalb der Ebenen hüpft er wie wild nach vorne und wieder zurück, redet z. B. mal von der Geburt des (fiktiven) Autors während des Schiffsuntergangs, um sich dann gleich selbst zur Ordnung zu rufen:

 

„Aber nein. Ich darf nicht, darf noch nicht zum Knackpunkt meiner zufälligen Existenz kommen, denn noch standen dem Schiff friedliche KdF-Reisen bevor ...“

 

Vor allem am Anfang, wenn man noch keinen Überblick hat, kann dieses wilde Hin und Her den Leser zur Verzweiflung bringen. So kündigt Grass oben auf S. 14 an: „Das Trio ist noch nicht komplett. Einer fehlt noch ...“, um dann zunächst einmal den „Parteigenossen und Reichsredner Wolfgang Dierwege“ ins Spiel zu bringen. Erst unten auf Seite 15 merkt man dann, dass der mit dem fehlenden Dritten gar nicht gemeint war – nicht das einzige Mal, dass man sich bei einer neuen Figur fragt: Wer ist denn nun das schon wieder?! 

 

Um ehrlich zu sein: zwar habe ich mir „Im Krebsgang“ - wie alle Grass-Romane seit Mitte der 60er Jahre - sofort nach Erscheinen gekauft. Und mich auch gleich ans Lesen gemacht. Nach wenigen Seiten habe ich – aus den genannten Gründen – aufgegeben und zunächst einmal die „Hundejahre“ wiedergelesen. So vorbereitet und voll Neugierde, wie’s mit Tulla wohl weitergehen würde, habe ich dann noch einmal angesetzt ... Allerdings ...

 

 Endlich fertig gelesen! – Zurückhaltendes Urteil

Aus traurigem Anlass habe ich mich jetzt selbst verpflichtet, das Buch endlich fertig zu lesen. Als ich es aus dem Regal holte, steckte das Lesezeichen noch bei Seite 29. Ich hab wieder ganz am Anfang angefangen. Und diesmal ganz stur, immer weiter gemacht, unverständliche Stellen notfalls wieder und wieder gelesen ... Und tatsächlich: Wenn man mal bis zu Kapitel 2 vorgedrungen ist, geht’s plötzlich ganz einfach. Man hat inzwischen – auch aus dritten Quellen – einen Überblick über den Inhalt, kann sich – notfalls (und nach dem Vorbild Wikipedias) mit einem Schaubild – die Beziehungen verdeutlichen, und die Geschichte einigermaßen flüssig zu Ende lesen! Geschafft!

 

Gut find ich „Im Krebsgang“ aber immer noch nicht – schon gar nicht, wenn man die „Blechtrommel“ oder den „Butt“ als Maßstab nimmt. Es ist viel zu detailversessen, zu weitschweifig, zu reich an Wiederholungen. Ein Witz:  bei einem Referat über die „Wilhelm Gustloff“ vor rechten Gesinnungsgenossen löst Konny mit seinen detaillierten Ausführungen nur aggressive Langeweile aus („Was soll das Gesülze!“, 83). Und als er später vor Gericht Gelegenheit erhält, sich zu seiner Tat zu äußern: „fing er bei Adam und Eva an“ und wollte und wollte nicht zum Ende kommen (189). Der Autor mokiert sich über diese Langatmigkeit Konnys – nur: warum schreibt er selber dann mehr als 200 Seiten voll???

 

Wiedersehen mit Tulla?

Und die Freude auf das Wiedersehen mit Tulla Prokriefke? Diesem „Spirkel mit Strichbeinen“ und „Punkt Komma Strich“-Gesicht, die in „Katz und Maus“ den Jungs so gern beim Onanieren zusah, die in den „Hundejahren“ aus Trauer über den Ertrinkungs-Tod ihres kleinen Bruders Konrad eine Woche in der Hundehütte lebte, diese starke Figur bleibt im „Krebsgang“ seltsam blass. Man erfährt lediglich, dass die Tischlertochter (die schon früher immer „nach Knochenleim stank“) während des Untergangs der „Gustloff“ weiße Haare bekommt, dann eine Tischlerlehre macht und Aktivistin und Parteigenossin („Stalins letzte Getreue“) wird. „Männer gab’s mehr als genug. Aber die blieben nicht lange“.

 

Das war’s dann im wesentlichen. Man könnte sagen: sie tritt eigentlich überhaupt nicht selbst auf, kommt nur  in den Berichten ihres Sohnes vor. Selbst Günter Grass – als der „Alte“ im Hintergrund – scheint enttäuscht über ihre „banale“ Entwicklung: „Eher wäre von ihr Anarchistisches ... zu erwarten gewesen“. – Schade drum! 

 

Aber was soll’s. Als ich „Im Krebsgang“ ins Regal zurückgestellt habe, habe ich mir die „Hundejahre“ zum nochmal wiederlesen mitgenommen.

 

 

Günter Grass:

 

Im Krebsgang: Eine Novelle. - 

 

 

 

Gebundene Ausgabe - 1. Auflage Februar 2002

 

216 Seiten   - 18,00 EUR

Verlag: Steidl Göttingen

 

ISBN-10: 3882438002

ISBN-13: 978-3882438000

 

Taschenbuch – 1. März 2004

 

224 Seiten   -  9,90 EUR

Verlag: Deutscher Taschenbuch Verlag

 

ISBN-10: 3423131764

ISBN-13: 978-3423131766