Das Versprechen

Roman von Friedrich Dürrenmatt

Eine Kriminalgeschichte

Kommissär Matthäi ist der fähigste Beamte der Kantonspolizei Zürich. Deshalb wird er für die ehrenvolle Aufgabe ausgewählt, als Ausbilder nach Jordanien zu reisen. Vor seinem Abflug wird er noch zu einem Fall gerufen: Ein Hausierer namens von Gunten hat ein kleines Mädchen tot im Wald gefunden. Als Matthäi den Eltern die Trauerbotschaft bringt, verspricht er der Mutter „bei seiner Seligkeit“, den Mörder zu finden. – Schnell wird der vorbestrafte Hausierer verdächtigt; einzig Mätthäi hat Zweifel an dessen Schuld, doch seine Kollegen setzen von Gunten so massiv unter Druck, dass dieser gesteht und sich daraufhin umbringt. Fall gelöst.

 

Matthäi kann nach Jordanien fliegen. Doch auf dem Weg zum Flieger begegnet er zahlreichen Kindern – was seine Zweifel an von Guntens Täterschaft bestärkt: Was, wenn der wahre Mörder noch frei rumläuft? Und bald weitere Kinder ermordet? Schließlich gab es in den letzten Jahren zwei ähnliche unaufgeklärte Fälle.

 

Matthäi bleibt in Zürich und verbeißt sich als Privatperson in die Jagd nach dem wahren Mörder. Er ermittelt, dass dieser wohl in der Gegend von Chur wohnt und gelegentlich mit dem Auto nach Zürich fährt. Matthäi pachtet eine Tankstelle an der Route Chur – Zürich, stellt eine Haushälterin ein, deren Tochter dem Beuteschema des Mörders entspricht und verwendet diese als Köder. Tatsächlich wird das Mädchen nach wenigen Monaten von einem Fremden („dem Zauberer“) angesprochen und bekommt von ihm Schokolade – wie die vorigen Opfer.

 

Matthäi und seine ehemaligen Polizeikollegen legen sich im Wald, wo sich das Mädchen mit dem Zauberer trifft, auf die Lauer. Tagelang, doch der Erwartete kommt nicht, bleibt auf immer verschwunden, während Matthäi an seiner Tankstelle noch jahrelang auf ihn wartet (unerbittlich, hartnäckig, leidenschaftlich“) und dabei vom penibel-ordentlichen Beamten zum abgerissenen Säufer verkommt …  

 

Jahre später wird Matthäis früherer Chef ins Spital gerufen, wo eine alte Frau auf dem Sterbebett ihre „Generalbeichte“ ablegt und dabei die Lösung des Falles liefert …

 

Eine Kriminalgeschichte?

Eine Krimi-Todsünde?

In seiner Geschichte „Das Versprechen“ hat Friedrich Dürrenmatt DIE „Todsünde“ eines Krimi-Verfassers begangen: Der Fall wird NICHT - wie es der normale Krimileser erwartet – durch polizeiliche Ermittlungen gelöst. Vielmehr erfährt der Leser, ebenso wie die Polizei, zum Schluss zwar, wie sich die Geschichte zugetragen hat, dies aber eher durch Zufall: aus dem Bericht einer sterbenden alten Frau, die allenfalls indirekt am Geschehen beteiligt war. Der Täter ist da längst tot – das verhindert das „Happy End“, dass der Böse ermittelt, verhaftet und bestraft wird.

 

Dass für Dürrenmatt seine Erzählweise alles andere als eine „Todsünde“ war, wird noch zu zeigen sein.

 

Vom Film zum Roman

Dürrenmatt erhielt 1957 den Auftrag, das Drehbruch für einen Film zu schreiben, in dem das Thema Sexualverbrechen an Kindern thematisiert werden sollte. „Beabsichtigt war, vor dieser leider immer häufigeren Gefahr zu warnen“ (Dürrenmatt im Nachwort zum „Versprechen“). Der Plot des Films entspricht zunächst dem oben beschriebenen Roman-Inhalt. Doch in dem Film „Es geschah am hellichten Tag“ tritt der Mörder tatsächlich auf (bedrückend-beeindruckend dargestellt von Gerd Fröbe). Es kommt – genre-gerecht! – zum Showdown zwischen Mörder und Ermittler (Heinz Rühmann), wobei (natürlich!) „das Gute“ siegt (mehr zum Film: https://de.wikipedia.org/wiki/Es_geschah_am_hellichten_Tag  ).

 

Im Nachwort zum Roman betont Dürrenmatt,

 

„… daß der Film meinen Intentionen im Wesentlichen entspricht. Dass der Roman einen andern Weg gegangen ist, stellt keine Kritik … dar. … Ich griff die Fabel aufs neue auf und dachte sie weiter, jenseits des Pädagogischen. Aus einem bestimmten Fall wurde der Fall des Detektivs, eine Kritik an einer der typischsten Gestalten des 19. Jahrhunderts …“.

 

Vom Roman auf die Bühne

 

Anlass für's Wiederlesen:

 

eine - gelungene - Theaterversion des "Versprechens" auf der Grabbe-Bühne des Landestheaters Detmold

 

     .....     mehr     .....

Dürrenmatt und der Zufall

Im Anhang zu seinem Drama „Die Physiker“ formuliert Dürrenmatt „21 Punkte“, hinter denen man – weit über dieses Stück hinaus – das Weltbild des Dramatikers / des Dichters / des Menschen (?) Dürrenmatt erahnen kann. In unserem Zusammenhang die bemerkenswertesten dieser Punkte: 

 

3. Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.

4. Die schlimmstmögliche Wendung ist nicht voraussehbar. Sie tritt durch Zufall ein. ….

8. Je planmäßiger die Menschen vorgehen, desto wirksamer vermag sie der Zufall zu treffen.

9. Planmäßig vorgehende Menschen wollen ein bestimmtes Ziel erreichen. Der Zufall trifft sie dann am schlimmsten, wenn sie durch ihn das Gegenteil ihres Ziels erreichen: Das, was sie befürchteten, was sie zu vermeiden suchten (z.B. Oedipus).

(Quelle:  https://fdokument.com/document/die-physiker-5882581122217.html?page=69 , S. 69 f.)

 

Daraus ergibt sich, dass Dürrenmatt die Auflösung seines Falles durch Zufall nicht etwa als Krimi-„Todsünde“ ansieht, sondern als das – in der Realität – „Normale“. Dies thematisiert er ausführlich im „Versprechen“ und bedient sich dabei eines Tricks:

 

Er bettet die Krimi-Handlung ein in einen Rahmen: ein langes Gespräch, eher noch ein langer Vortrag, den „Dr. H.“, der ehemalige Kommandant de Kantonspolizei Zürich (also der ehemalige Chef des Kommissär Matthäi) dem Kriminalschriftsteller (= Dürrenmatt selbst?) hält.

 

Der Polizeikommandant wirft dem Schriftsteller vor, dass „in all diesen Kriminalgeschichten … Schwindel getrieben“ werde: Dass darin normalerweise „eure Verbrecher ihre Strafe finden“, was ein „schönes Märchen“, aber immerhin „moralisch notwendig sei“, „wie … der fromme Spruch, das Verbrechen lohne sich nicht - wobei man doch nur die menschliche Gesellschaft zu betrachten braucht, um die Wahrheit über diesen Punkt zu erfahren …“ – sicherlich eine auch heute noch bemerkenswerte Kritik.

 

Noch schlimmer sei aber die gekünstelte Dramaturgie der Kriminalgeschichten:

 

„Hier wird der Schwindel zu toll … Ihr baut eure Handlungen logisch auf, wie bei einem Schachspiel … und schon hat der Detektiv den Verbrecher gestellt. … Der Wirklihkeit ist mit Logik nur zum Teil beizukommen. … die Störfaktoren, die uns ins Spiel pfuschen, sind so häufig, daß allzu oft nur das reine Berufsglück und der Zufall zu unseren Gunsten entscheiden. Oder zu unseren Ungunsten. Doch in euren Romanen spielt der Zufall keine Rolle …“

 

Roman oder Realität

Natürlich hat Dürrenmatt recht: Das Leben und erst recht die Polizeiarbeit ist kein Schachspiel, das nach Regeln und Logik verläuft. Immer und überall ist mit dem Zufall zu rechnen. Doch darf Dürrenmatt deshalb dem Dichter, zumal dem Kriminal-Schriftsteller, eine „Pflicht zum Zufall“ auf-oktroyieren? Eine (fiktionale) Geschichte ist nun mal konstruiert, im Idealfall: gut konstruiert. Eine Geschichte, die im Wesentlichen von Zufällen bestimmt ist, müsste ausufern, mit jedem Zufall weiter und in eine neue Richtung; sie folgte nicht dem berühmten „roten Faden“; sie wäre beliebig. 

 

Dagegen erwartet der Romanleser – mit Recht! – eine Erzählung, die von einem Anfang in nachvollziehbaren (und i.d.R. nicht allzu unwahrscheinlichen) Schritten einem Ende zustrebt und dabei einen Unterhaltungswert (und womöglich gar einen Erkenntniswert) aufweist. Er erwartet (gerne erst im Nachhinein) erkennbare (und gerne überraschende) Zusammenhänge, die ein logisches Gesamtbild ergeben. Eine beliebige Aneinanderreihung von Zufällen bleibt in der Regel langweilig – dann kann man Zeitung lesen oder eine Chronik – da sind die Zufälle wenigstens real.   

 

Was für den Roman im Allgemeinen gilt, gilt erst recht für den Krimi: Da darf der berühmte „Kommissar Zufall“ durchaus mal mitwirken. Aber er darf nicht die Hauptrolle spielen. Die spielt der Detektiv (oder auch mal der Verbrecher), mit dem sich der Leser identifizieren will. Mehr noch: der Leser will mitdenken, und das geht eben nur, wenn es etwas zu denken gibt, aber nicht, wenn jeder Gedankengang durch einen Zufall abgewürgt wird. Der typische Krimileser will nicht nur mit-denken, sondern auch mit-ermitteln und will - im Idealfall: schon vor dem Kommissar – selbst die Lösung finden.

 

Allerdings:

Nun darf man keinesfalls Dürrenmatt auf den „Dichter des Zufalls“ reduzieren. Dafür sind seine Stücke und etwa auch seine anderen Krimis zu durchdacht und zu folgerichtig. Für den Gang der Dürrenmatt’schen Handlungen ist der Charakter seiner Figuren, deren Persönlichkeit, mindestens ebenso wichtig wie der Zufall (oder das – zufällige? – Weltgeschehen): In bewusstem Gegensatz zu Brecht macht Dürrenmatt für den Zustand der Welt die Menschen verantwortlich, nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse. So lassen sich seine Krimis „Der Richter und sein Henker“ und „Der Verdacht“ durchaus mit einem Schachspiel – zwischen Verbrecher und Kommissar – vergleichen; im „Richter und Henker“ ist das fragwürdige Ende nicht Ergebnis eines Zufalls, sondern einer raffinierten Intrige.

 

Für eine ausführliche Darstellung des Dürrenmatt’schen Konstruktionsprinzips ist hier nicht der Platz. Ersatzweise möge ein Zitat genügen:

 

„Die Qualität seiner Komödien hängt völlig ab von dem Beziehungsreichtum und der inneren Richtigkeit seiner Fabeln … Seine besten Komödien sind Gedankenspiele und folgen ihren eigenen Gesetzen … Mag Dürrenmatt die Welt auch für undurchschaubar halten – er hat nie davon abgelassen, sie denkend zu durchdringen“ (HENSEL: Spielplan 2, 1999, S. 1295 f.).

 

 

Zum Nachlesen: eine aktuelle Ausgabe:

 

Friedrich Dürrenmatt:

 

Das Versprechen -

Requiem auf den Kriminalroman. -

detebe Taschenbuch – 30. Auflage, 1996

 

Herausgeber ‏ : ‎ Diogenes Verlag

Taschenbuch ‏ -‎ 160 Seiten  -  ca. 10 Euro

ISBN-10 ‏ : ‎ 3257228120

ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3257228120