Süße Tiermärchen oder brutaler Kolonialismus?

Kiplings „Dschungelbücher“

Das beliebte „Gattung-wechsel-dich“-Spiel

(g.wasa)   -   Erfolgreiche Romane verführen dazu, sie zu erweitern: durch Fortsetzungen („Kommissar Maigret“, „Tribute von Panem“ u.v.a.) oder durch Übertragung in ein anderes Medium – meist durch Verfilmung; manchmal, indem man sie auf die Theaterbühne verpflanzt (was – meines Erachtens – nur selten befriedigend gelingt). Interessant ist, wie sich die Neufassung auf den Erfolg des ursprünglichen Werkes auswirkt. Im günstigsten Fall erinnert eine Verfilmung an ein gutes aber weitgehend vergessenes Buch, das dann wieder gelesen wird. Gelegentlich pushen sich Buch und Film gegenseitig („Harry Potter“, „Herr der Ringe“); oft genug verschwindet der ursprüngliche Roman im starken Schatten der Adaption: Jeder kennt „Ben Hur“ – als Monumental-Film, aber kaum als 500-Seiten-Schinken von L. Wallace; James Bond hat sich längst von den 14 Büchern Ian Flemings emanzipiert und rettet die Welt – gefühlt - jedes Jahr in einem neuen Film (25 sind’s inzwischen). Wer weiß schon, dass es das „Phantom der Oper“ nicht nur als Musical gibt, sondern – zuerst - auch als Roman? Und „La Traviata“ hat vermutlich mehr Fans als „Die Kameliendame“.   

 

„Das Dschungelbuch“ von Rudyard Kipling hat sowohl eine Roman-Fortsetzung nach sich gezogen als auch mehrere Verfilmungen (Wikipedia listet 8 auf, von denen die Walt-Disney-Zeichentrick-Version von 1967 die wohl spektakulärste ist), außerdem TV-Serien. Natürlich gibt’s das „Dschungelbuch“ als Musical.

(Foto: Landestheater Detmold - Bettina Stöß)

 

 

 

Und neuerdings auch als Ballett – choreografiert von Katharina Torwesten für das Landestheater Detmold – Anlass genug, Kiplings Original(e) mal wieder zu lesen!

 

 

 

„Das Dschungelbuch“ = „Die Dschungelbücher“ = mehr als Mogli

Die meisten werden sich von „dem Dschungelbuch“ die Erzählung(en) von Mogli („Mowgli“ im Original) und seinen (tierischen) Freunden erwarten – womit sie im Prinzip Recht haben. Allerdings enthalten die Dschungelbücher auch weitere Geschichten aus Indien, unter anderem die – in manchen Lesebüchern und Sammelbänden – abgedruckte Geschichte über den Mungo „Rikki Tikki Tavi“, der als Haustier seine Familie vor Schlangen beschützt (Band I, Kap 5); oder die Geschichte von dem kleinen  Elefanten-Wärter, dem es gelingt, den heimlichen Tanz der Elefanten zu beobachten (I, 6); weiter: die Lebensgeschichte Purun Dass‘, des Ersten Ministers und Vertrauten von Herrschern, der im Alter zum heiligen Eremiten Purun Baghat wird (II, 3). Außerhalb Indiens spielen die Geschichte von der weißen Robbe (I, 4) und eine Eskimo-Erzählung (II, 11).

 

Im Wechsel mit den Erzählungen hat Kipling Lieder und Gedichte in die Dschungelbücher eingefügt, welche meist die Thematik der vorangehenden Geschichten aufnehmen. Insgesamt versprechen die „Dschungelbücher“ also einen breit-gefächerten Einblick in das Indien des späten 19. Jahrhunderts.  

 

Hier soll es allerdings um die Lebensgeschichte Moglis gehen:

Im indischen Dschungel hat der Tiger Shir Khan einen kleinen Jungen geraubt; doch dem gelingt es, zu entkommen und in eine Wolfshöhle zu fliehen. Die Wölfe nehmen den Kleinen in ihre Familie auf und nennen ihn wegen seiner nackten Haut „Mogli“, was „kleiner Frosch“ bedeuten soll (allerdings so in keiner passenden Sprache vorkommt; wogegen die Namen der anderen Tiere oft identisch mit dem entsprechenden Hindu-Wort sind: Hathi = Elefant; Balu = Bär; Shir = Tiger; Bagheera = Panter …).  

 

Der Tiger versucht immer wieder, sich die menschliche Beute doch noch zu holen; doch die Wolfsfamilie verteidigt Mogli und schafft es sogar, dass das Menschenjunge in das Wolfsrudel aufgenommen wird. Unterstützt wird sie dabei durch den Panther Baghira und den Bären Balu, welche – ebenso wie die Schlange Kaa - Mogli auch in Zukunft als Freunde zur Seite stehen.

 

Balu ist der Lehrer, der den Tierjungen die Gesetze des Dschungels beibringt, wobei – neben dem allgemeinen Gesetz - für jede Gattung besondere Verhaltensregeln gelten. Mogli als Mensch muss alle Regeln kennenlernen, wodurch Balu den Grundstock dafür legt, dass Mogli später – als Jugendlicher und junger Erwachsener – zum Herrn des Dschungels aufsteigt: „Alls er jung war, fürchteten und achteten ihn die Dschungelvölker um seiner Klugheit willen, [später] aber zitterten sie vor seiner Kraft“ (II, 15).

 

Schon die erste Geschichte im „Dschungelbuch“ von 1894 kommt zu einem vorläufigen Abschluss: Mogli macht sich auf den Weg, zu den Menschen zurückzukehren. Aber in zwei anderen Geschichten im ersten Dschungelbuch und in fünf weiteren Geschichten im „Neuen Dschungelbuch“ (1895) erfährt man mehr von Mogli: Wie er von den Menschen verstoßen wird und in den Dschungel heimkehrt; wie er von den Affen entführt und von seinen Freunden gerettet wird (I, 2) oder wie er in der verlassenen Stadt den von einer Kobra bewachten „Schatz des Königs“ findet (II, 9). Dabei sind die Geschichten – für ein Jugendbuch! – teilweise von erstaunlicher Brutalität: wenn Mogli seinen Erzfeind, den Tiger besiegt, indem er ihn von einer Rinderherde zu Tode trampeln lässt (I, 3); oder wenn er sich am Dorf rächt, das die (vermeintlichen?) Eltern des „Teufelsjungen“ wegen Hexerei verbrennen will: da bietet er die Tiere des Dschungels auf, welche unter Führung der Elefanten Dorf und Felder dem Erdboden gleich machen (II, 5). Der Kampf der Wölfe gegen die „Rothunde“ artet schließlich geradezu in einen Völkermord an den Gegnern aus (II, 13).

 

Dagegen wird es dann zum Schluss hin geradezu elegisch-romantisch: Das sprachlich und inhaltlich schönste Kapitel am Ende des „Neuen Dschungelbuches“ schildert den Frühling im Dschungel: „kein Frühling der Welt kommt dem Dschungelfrühling gleich in Reiz und Frische“ (II, 15). Die Pflanzenwelt erwacht zu neuem Leben und in den Tieren regen sich plötzlich „Frühlingsgefühle“. Der arme Mogli – inzwischen 17 Jahre alt – ist völlig verwirrt: einmal wegen des seltsamen Verhaltens seiner Freunde, die sich plötzlich mehr für eigenartige Paarungs-Rituale interessieren als für Freundschaft und Abenteuer, vor allem aber wegen seiner eigenen Gefühle, die er überhaupt nicht versteht:

 

„In diesem Frühling trug Mogli ein sonderbares, nie gekanntes Gefühl im Wanst, … elend, wie Mogli war, fühlte er sich doch wieder glücklich, daß ihm so elend zumute war – wenn euch diese auf den Kopf gestellte Glückseligkeit bekannt ist“.

 

Und es kommt, wie es die weise Schlange schon lange vorausgesehen hat: „Mensch geht zu Mensch“ – „In jener Nacht aber zog der Schein der roten Blume (= des Feuers) Mogli wieder geheimnisvoll an“. In einem melancholischen „Abgesang“ nehmen die Freunde Abschied:

 

„Mußt nun deine Fährte ziehn
Zu der Schwelle, die wir fliehn,
Zu der Roten Blume Glühn.
….

Wald und Wasser, Wind und Hain,
Dschungelgunst soll mit dir sein!“

 

Ein trauriger Schluss. Doch wir sind noch nicht am Ende von Moglis Geschichte. Die findet sich in der Erzählung „Im Rukh“, die Kipling bereits 1893, also noch vor dem ersten „Dschungelbuch“ veröffentlicht hatte: Da taucht Mogli als junger Mann, fast wie ein Waldgeist, beim Forstverwalter Gisborne auf und beeindruckt diesen durch seine Vertrautheit mit dem Dschungel. Gisborn bietet ihm eine Stelle als Waldhüter an – mit Pensionsberechtigung. Insbesondere letzteres versöhnt schließlich auch Gisbornes Koch Abdul Gafur, dessen schöne Tochter Mogli gegen den Willen des Vaters zur Frau genommen hat. – Also doch noch: Happy End!

 

Der Autor

Joseph Rudyard Kipling: geboren am 30.12.1865 in Bombay (heute: Mumbai) in Indien, das damals als „Britisch-Indien“ von der Kolonialmacht England beherrscht wurde. Der Vater war zunächst Lehrer, später Museumsdirektor in Lahore (im heutigen Pakistan). Wie bei höheren Kolonialbeamten nicht unüblich, wurde der 5jährige Rudyard zu seinem Entsetzen zur Erziehung nach England geschickt. Mit 17 kehrte er nach Indien zurück und arbeitete dort als Journalist und als bald erfolgreicher Schriftsteller. Die „Dschungelbücher“ (1894 und 1895) entstanden in den USA, wo er 1892 geheiratet hatte.

 

In der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg war Kipling auf dem Höhepunkt seiner Popularität – als Autor von Kinderbuch-Klassikern, von Erzählungen, von Gedichten und Liedern (aus seinem Gedicht „Screw Guns“ machte Brecht den „Kanonensong“ in seiner Dreigroschenoper). 1907 erhielt er – als bis heute jüngster Preisträger – den Literatur-Nobelpreis. Am 18. Jan. 1936 starb er in London.

 

Umstritten war und ist Kipling in seiner Rolle als „der kritische Barde des Britischen Weltreichs“ (J. L. Borges): Einerseits wurde er gelobt für seine lebendige Schilderung der Verhältnisse und des Lebens im kolonialen Indien (wobei hier – noch vor den „Dschungelbüchern“ - der (Spionage-)Roman „Kim“ zu nennen ist, der „das große Spiel“ schildert, die Auseinandersetzung zwischen England und Russland um Einfluss in Asien). – Andererseits wurde schon früh kritisiert, dass er – natürlich! - aus der Sicht des Engländers schrieb und den Kolonialismus und Imperialismus verklärte (weshalb ihn Orwell als „good bad poet“, als „guten schlechten Dichter“ bezeichnete. So wird in „woken“ Kreisen besonders sein Gedicht „The White Man’s Burden‘“ heftig als rassistisch kritisiert (vgl. aber auch die differenzierende Darstellung bei Wikipedia .

 

Der Begründer der Pfadfinder-Bewegung, Robert Baden-Powell war ein Freund Kiplings und hat die „Dschungelbücher“ als Vorbilder für eine Reihe von Regeln und Ritualen verwendet; so heißen die jüngeren Pfadfinder – nach Moglis Wolfs-Geschwistern – „Wölflinge“. Doch auch bei Pfadfindern wird heute die Rolle Kiplings als Prophet des Kolonialismus und Imperialismus kritisch diskutiert.  

 

Kommentar: spannende Lektüre oder Kolonialismus-Verklärung?

Ob es jemals möglich war, sich mit Hilfe der „Dschungelbücher“ ein einigermaßen realistisches Bild vom kolonialen Indien zu verschaffen, darf bezweifelt werden. Einige Geschichten, Gedichte und Lieder mögen einzelne Facetten des damaligen Lebens beleuchten; wobei in Einzelfällen gar eine überraschende Empathie aufscheint (wenn sich etwa die Elefanten über ihr Los als Sklaven der Menschen beklagen – s. Text ganz unten). - Dies gilt jedoch gewiss nicht für die Mogli-Erzählungen. Die Geschichte vom Menschen, der bei Tieren aufwächst, gar von ihnen erzogen wird, ist zwar nicht einmalig: Vorbild mag die Geschichte von Romulus und Remus und ihrer Wolfs-Mutter sein; 18 Jahre nach dem Dschungelbuch veröffentlichte Edgar Rice Burroughs in den USA seinen ersten Tarzan-Roman, dem 23 weitere (und zahlreiche Filme) folgten.

 

Aber die Mogli-Geschichten sind nun mal Fiction, Märchen: Die Dschungel-Tiere sind (wie in vielen Märchen) geradezu absurd vermenschlicht, teilweise sogar verniedlicht (wenn auch nicht gar so kitschig wie im Disney-Film). Ihr Zusammenleben wird – völlig unrealistisch – von dem von Balu gelehrten „Dschungelgesetz“ bestimmt, an das sich (fast) alle brav halten, das aber nichts mit dem „Gesetz des Dschungels“ unseres Sprachgebrauchs (im Sinne von „Catch as catch can“, „Fressen und / oder Gefressen-Werden“) zu tun hat, sondern die ur-englische Tradition der „ungeschriebenen Verfassung“ widerspiegelt. An der Tatsache, dass manche Tiere andere Tiere fressen (müssen) kommt auch Kipling nicht vorbei, doch kommt dies nur so nebenbei zur Sprache: Wölfe und Panter ernähren sich vor allem von Rotwild oder noch lieber von Rindern aus den Dörfern, also von Tieren, die ansonsten im „Dschungelbuch“ kaum eine Rolle spielen; und selbst die Jagd des Tigers auf Mogli wird eher mit einer Art „Urfeindschaft“ zwischen Mensch und Tiger begründet als mit ordinärem Hunger (II, 1).

 

Im Grunde herrscht Freundschaft zwischen Mensch und Schlange, zwischen Bär und Panther, ja, in gewissem Sinne auch zwischen Wolf und Tiger. Allerdings herrscht auch eine Art Zwei-Klassen-Gesellschaft: Unter den genannten, den befreundeten Arten stehen die – weiter nicht erwähnenswerten – Beutetiere; unten stehen auch die Affen als ein allgemein verachtetes Volk; und dann gibt es noch die Todfeinde, die Rothunde etwa, die wie erwähnt in einem brutalen Völkermord ausgelöscht werden.

 

Ob Kipling damit – wie ihm vorgeworfen wird – bewusst ein imperialistisch-rassistisches Weltbild propagieren wollte, kann dahingestellt bleiben. Er war nun einmal ein „Kind seiner Zeit“, hineingeboren in die Führungsschicht des kolonialistischen England; er hat die Welt so gesehen und beschrieben, wie sie nun einmal war. So spiegelt sich in seinem „Gesetz des Dschungels“ (II, 2) eben auch die englische Feudalgesellschaft wider: mit – einerseits – dem Parlament als regelnder Institution (= der Rat der Wölfe), andererseits aber einer klaren (darwinistischen) Hierarchie:

 

„Leitwolf ist der Älteste, Schlauste,

der Stärkste an Zahn und Pfot'!
Und läßt das Gesetz eine Lücke,
so gilt sein Wort als Gebot.

… »Gehorch!« ist Kopf des Gesetzes,

sein Buckel, Huf, Hüfte und Mark“

 

Dass auch eine andere Weltsicht möglich gewesen wäre, zeigt etwa das Urteil Orwells über Kipling als „good bad poet“. Das entstand zwar 1942 – also Jahrzehnte nach dem Dschungelbuch, aber zu einer Zeit, da es sich die Kolonialverwaltung noch erlauben konnte, einen Nehru wegen „zivilen Ungehorsams“ einmal mehr ins Gefängnis zu stecken.

 

Die Qual der Wahl – „Dschungelbuch“-Ausgaben

Kipling selbst gab schon 1933 „All the Mowgli Stories“ (= „Alle Mogli-Geschichten“) heraus, in denen die Mogli-Erzählungen der beiden „Dschungelbücher“ von 1894 und 1895 sowie „Im Rukh“ (1893) zusammengefasst waren. Seither ist eine Vielzahl von Dschungelbüchern in den unterschiedlichsten Bearbeitungen – vom reichbebilderten Vorlesebuch für Kleinkinder bis zur „Originalausgabe“ - erschienen. Die Wahl der „richtigen“ Ausgabe ist da nicht immer leicht.

 

Für diesen Kommentar wurden vor allem die beiden Ausgaben im „Projekt Gutenberg“ verwendet:

 

 

 

außerdem folgende Ausgabe:

 

Rudyard Kipling:

Das Dschungelbuch. –

Übersetzt aus dem Englischen (The Jungle Book)

von Reinhard Pietsch

Mit Illustrationen von Robert Ingpen

 

Herausgeber: Knesebeck, München

1. Auflage (2013) – gebundene Ausgabe

192 Seiten – 25,00 Euro

ISBN 978-3-86873-632-8

 

Das Lied des Elefanten