Ein ordentlicher "Faust" mit überraschenden Ideen

Johann Wolfgang von Goethes "Faust I" im Theater Paderborn

(Fotos: Theater Paderborn – Westfälische Kammerspiele GmbH )

 

WaSa. Paderborn. -   Der „Faust“ bleibt eine Herausforderung für jede Bühne. Das fängt schon mit dem großen Eingangsmonolog des erkenntnishungrigen Gelehrten an: Wie soll man diesem bereits Hunderte von Malen inszenierten „Habe nun, ach ...!“ neue Aspekte abgewinnen? Natürlich überlegt man sich als Kritiker, wie man das wohl selbst lösen würde. Und so habe ich mir schon vor langem eine Inszenierung ausgemalt, in welcher der „Prolog im Himmel“ und Fausts erster Auftritt auf zwei Ebenen – im Himmel und auf Erden – parallel gespielt werden: Ein naheliegender Gedanke, dachte ich, den jenseitigen Streit um Fausts Persönlichkeit mit der irdischen Entfaltung eben dieser Persönlichkeit zu verknüpfen. Doch noch nie habe ich von einer derartigen Verschränkung gehört, geschweige denn selbst eine gesehen – bis zum letzten Freitag in Paderborn. Da zeigt nämlich Patrick Caputo zunächst mal Faust mit seiner verbotenen Neugierde und seinen  sündhaften Zweifeln. Und erst als der Querdenker schon kräftig an kirchlichen Dogmen gerüttelt hat, fragt  der Herr seinen teuflischen Widerpart halb entsetzt über, halb stolz auf sein Geschöpf: „Kennst du den?“ -  „Faust?!“, antwortet Mefisto: eine äußerst geschickte Neuaufteilung des Sprechtextes zwischen den Kontrahenten. Davon gibt’s dann noch mehr, wenn z. B. Mephisto über Fausts Magie-Begeisterung spottet: „Welch Schauspiel!“

 

Aber ansonsten war’s das dann schon so ziemlich mit der Parallelisierung – viel mehr hätte der radikal gekürzte Resttext der Paderborner Strichfassung  (dazu später mehr) gar nicht hergegeben. – Später verwendet Caputo den Trick dann noch einmal, wenn er „Wald und Höhle“ und Gretchens Sehnsuchtslied gleichzeitig auf die Bühne bringt.

 

Insgesamt ist die Inszenierung geprägt durch eine Reihe guter Regie-Einfälle. So etwa, wenn der Schüler, sich in Fausts Studierstube allein wähnend, Seiten aus den wertvollen Folianten reißt und einsteckt. Da kriegt das „Ich bin allhier erst kurze Zeit“ des ertappten Diebes plötzlich einen (neuen) Sinn. Oder die Hexenküche: ein mit bunten Lämpchen geschmückter Wohnwagen, dessen erotisch-signalrot gedresste weibliche Besatzung Faust zwar nicht verjüngt, aber doch neu stylt: der sympathisch-strubbelköpfige gelehrte Erkenntnissucher wird zum schmierig-glatten After-Midlife-Casanova im weißen Satinanzug und mit Halbglatze. Das Bild der schönsten Frau findet Faust in einem vom Boden aufgelesenen Heft, und angesichts dieses Ambientes mag der Zuschauer spekulieren, ob es sich dabei um ein Pornomagazin oder um den Katalog einer Escort-Agentur handelt. Mephistos Voraussage, nach der Hexen-Kur sehe Faust künftig „Helenen in jedem Weibe“ bestätigt sich dann prompt, wenn der frischgegelte Faust schon lange vor dem Zusammentreffen mit Gretchen alles anmacht, was einen Rock trägt.

 

Im Vergleich zur Hexenküche bleibt die  Walpurgisnacht verklemmt-blass: mit einer Mischung aus Hippies und Karnevals-Hexen, die bieder auf der Bühne herumwackeln und dabei Goethes Obszönitäten rezitieren. Aber da sind die Paderborner in guter Gesellschaft, denn eine wirklich überzeugende Inszenierung von Goethes Hexensabbath kriegt man selten zu sehen.

 

Manches bleibt rätselhaft: so das lebensgroße weiße Holzpferd in Gretchens Kammer. Im ersten Moment hat man die Assoziation „trojanisches Pferd“, aber Bezüge, die diese Interpretation stützten, findet man dann doch nicht.

 

Juan Leóns Bühne gibt Caputos interessanter Inszenierung einen angemessenen Rahmen: Fausts „hochgewölbte enge“, mit „Urväter Hausrat“ vollgestopfte Studierstube ist hier hygienisch sauber und wird von einer riesigen Fliesenwand beherrscht. Wendeltreppe und Leitern verbinden Erde und Himmel. Seltsam nur, dass der strebende Faust sich mit dem Erklimmen einiger weniger Leitersprossen zufrieden gibt, bevor er sein Heil doch lieber im (hier:drastisch vorgeführten) Selbstmord sucht. Erst von Mephisto lässt er sich später höher hinauf  locken.

 

Für die Volksszenen des Osterspaziergangs öffnet sich die Bühne zu einer stilisierten Frühlingswiese. Darin agiert das Volk seltsam hölzern; fast könnte man den Eindruck von Marionetten haben – eine Anspielung auf die Stoffgeschichte (der junge Goethe lernte den Faust im Puppenspiel kennen)? Oder Hinweis auf die Beschränktheit der Gesellschaft, aus welcher der geistige Überflieger Faust herausragt?

 

Während des Gretchendramas wird die Bühne dann allmählich von Gitterwänden umstellt. Die erinnern erst an einen Raubtierkäfig im Zirkus, und schließen sich am Ende zu Gretchens Kerker.

 

Bis zu diesem Ende ist es von der Studierstube ein langer Weg. Den hat man in Paderborn allerdings ziemlich abgekürzt, indem man riesige Textblöcke einfach weggelassen hat – ein Horror für Goethe-Puristen, denen (allenfalls vom Walpurgisnachts-Traum abgesehen) kaum ein Halbsatz des Faust verzichtbar erscheint. Aber natürlich: Ein kompletter Faust wäre denn doch zu Steinig. Und das „Vorspiel auf dem Theater“ hat man wohl in letzter Minute weggelassen (jedenfalss steht das Personal dafür noch im Programmheft). Auch so dauerte der Premieren-Abend fast drei Stunden – wovon kaum eine Minute langweilig war!

 

Und damit wären wir beim Fazit: Sicherlich keine Sensation, aber eine handwerklich und künstlerisch ordentliche Inszenierung; mit einigen Ideen, die auch in diesem uralten Stück noch neue, überraschende Sichtweisen eröffnen. Das Ganze vorgeführt von insgesamt überzeugenden Schauspielern, allen voran Hartmut Volle, Simon Keel und Franziska Schlaghecke als die drei Hauptpersonen, die von den übrigen Ensemblemitgliedern jeweils in Mehrfachrollen tatkräftig unterstützt werden.

 

Der lebhafte Premierenapplaus war wohlverdient.