Hartz IV in Sezuan

auch in Paderborn kein "guter Schluss" für Brechts „guten Menschen“

alle Fotos: Theater Paderborn

WaSa     -     Paderborn.     „Fördern“ und „Fordern“ – das waren laut Gerhard Schröder die beiden zentralen Säulen der Arbeitsmarktreform, die 2002 von einer Arbeitsgruppe unter VW-Vorstandsmitglied Peter Hartz ausgearbeitet und unter „Hartz IV“ bekannt wurde. 12 Jahre später jubeln konservative und wirtschaftsnahe Kreise, diese Reform habe Deutschland „fit für den globalisierten Weltmarkt“ gemacht und wesentlich dazu geholfen, dass Deutschland einigermaßen unbeschadet durch die Finanzkrise gekommen sei.  -  Linke und Arbeitnehmervertreter kritisieren dagegen, das „Fördern“ sei viel zu kurz gekommen, sei eher zurückgefahren worden, wohingegen konsequentes  „Fordern“ das Lohnniveau gedrückt, massenhaft prekäre (Arbeits)-Verhältnisse begründet und die Schere zwischen Arm und Reich weit aufgerissen habe.  -  Einig sind sich die meisten Kommentatoren, dass „Hartz IV“ den sozialdemokratischen Kanzler Schröder sein Amt gekostet habe.

 

Dabei hat Schröder mit seiner Reform doch nichts anderes gemacht, als das was der ausgewiesene Marxist und bekennende Sozialist Bertolt Brecht schon 60 Jahre früher in seinem Lehrstück (ich weiß – der Begriff ist eigentlich anderweitig vergeben) „Der gute Mensch von Sezuan“ dargestellt hatte: 

Die Geschichte:

Die gutmütige Shen Te ist von den Göttern ausersehen, den göttlichen Weltenentwurf zu rechtfertigen – sie soll nämlich beweisen, dass es möglich ist, in dieser Welt „gut“ zu sein. Als Basis dafür ermöglichen sie der Ex-Prostituierten eine kleinbürgerliche Existenz als Ladenbesitzerin. Dass der schäbige Tabakladen von Anfang an pleite ist, interessiert die Götter nicht, da wirtschaftliche Erwägungen in ihren äußerst schlichten Gemütern keinen Raum finden. Shen Te bemüht sich redlich, ihrem Ruf als „Engel der Vorstädte“ gerecht zu werden und die Bedürftigen zu fördern: indem sie sie mit Unterkunft, Reis und Zigaretten versorgt – doch die Armen sind einfach zu viele und vor allem: sie sind viel zu anspruchsvoll. Deshalb entwickelt die gute Shen Te ein Alter Ego als geschäftstüchtig-böser Vetter Shui Ta, der aus dem bankerotten Laden eine florierende Tabakfabrik macht, indem er all die Nichtsnutze ordentlich arbeiten lässt, sie also so richtig fordert und damit gnadenlos ausbeutet. 

Die Absicht:

Die pädagogische Absicht, die Brecht mit diesem „Parabelstück“ verband, dürfte klar sein: In dieser Welt ist es nicht möglich, zu andern gut zu sein und gleichzeitig selber ein angenehmes Leben zu führen. Die aus solchen Verhältnissen abzuleitende Erkenntnis lautet: diese Welt – sprich: das kapitalistische System – muss abgeschafft werden! – Diese Lehre sucht Brecht dem Publikum mit den Mitteln seines epischen Theaters nahezubringen: mit kommentierenden Einschüben etwa, häufig in Form von Songs, gerne durch direkte Ansprache des Zuschauers – so wie im berühmten Schluss-Appell:

 

„Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluss!

Es muss ein guter da sein! Muss, muss, muss!“

Agitationsziel verfehlt!

Im Sinne des politischen Agitators Brecht ist das Stück misslungen. Er hat nämlich den Fehler begangen, seine Repräsentanten des armen Volkes nicht aus dem Proletariat zu nehmen, sondern aus dem, was Marx und Engels und auch noch Rosa Luxemburg als „Lumpenproletariat“ bezeichnet haben: Herumtreiber, Tagediebe, Arbeitsscheue, Kleinkriminelle. Diese Sozialschmarotzer (wie wir heute sagen würden), die der braven, fleißigen Shen Te die Haare vom Kopf fressen, werden kaum die Sympathie des Publikums erringen. Das sieht eher mit Befriedigung, wie der Fabrikdirektor (Kapitalist / Arbeitgeber) Shui Ta die Faulenzer mal so richtig an die Kandare nimmt. Fordern statt fördern!

 

Schmalöers episches Theater:

So kann es auch Volker Schmalöer, dem Paderborner Sezuan-Regisseur, nicht gelingen, das Stück als Aufruf zur Revolution zu inszenieren. Obwohl er eifrig in den Instrumentenkasten des epischen Theaters greift – insbesondere indem er (ganz im Sinne Brechts) deutlich unterscheidet zwischen Darstellern und Dargestellten: Es ist eh klar, dass ein kleines Theater mehrfach besetzen muss, wenn der Autor 18 Personen plus 8-köpfige Familie plus Passanten vorgesehen hat. Im Paderborner Personenverzeichnis stehen tatsächlich 26 Rollen (plus Statisterie und Musik), die von gerade mal acht Darsteller-inne-n durchweg bravourös gemeistern werden. Und dabei erfolgen die Verwandlungen nicht verschämt im Backstage, sondern auf offener Bühne: hier stehen sämtliche Kostüme bereit, zwischengelagert an einer Art Kleiderständer (die auch mal als Statisten fungieren). Wer was braucht bedient sich, wobei die Rollenwechsel an sich oft schon kleine Szenen bilden – besonders eindrucksvoll, wenn die Großfamilie immer größer wird. Oder wenn sich eine sexy junge Frau mir-nichts-dir-nichts in einen alten Mann verwandelt (Linda Meyer als Nichte und Schreiner ...)  oder ein flachbrüstig-betulicher Gott in eine energische großbusige Hausbesitzerin (Willi Hagemeier) ...

 

Allerdings: trotz weiterer „Verfremdungs-Effekte“ (Videoeinspielung, ein Bilderrahmen, der die Bühne einfasst ... ): so ganz ist die „epische Distanzierung“ der Darsteller von ihren Figuren dann doch nicht durchzuhalten. So wirkt – zum Beispiel – Maria Thomas als Shen Te auch schon mal ganz anrührend, geradezu mitleiderregend. Und das ist auch gut so!

Der Kapitalismus wird nicht von Paderborn aus besiegt werden

Aber ganz egal – ob brechtscher Appell an den Verstand der Zuschauer oder „stanislawskisches“ Massieren der Tränendrüsen – wie schon erwähnt: auch diese Inszenierung wird den Kapitalismus nicht erschüttern. Auch wenn der Regisseur (nach Aussage der Dramaturgin Anne Vogtmann) vor nicht allzulanger Zeit eine „späte Liebe zu Brecht entdeckt hat ... da dieser in der heutigen Zeit aktueller denn je“ sei. Da ist zweifellos richtig! Nicht nur wegen Hartz IV. Aber auch in Paderborn ärgert man sich eher über die Sozialschmarotzer (köstlich beispielsweise Markus Schultz als unverschämt-anspruchsvoller Neffe), als über den Ausbeuter Shui Ta. Das mag auch damit zusammenhängen dass der üble Manchester-Kapitalismus in Shui Tas Fabrik, wie ihn Brecht in seinem Text anprangert, auf der Paderborner Bühne doch stark abgemildert erscheint.

 

Ohnehin will Dramaturgin Vogtmann „das Stück nicht auf seine antikapitalistische Tendenz reduziert“ wissen. Wie recht sie da hat! - Shen Tes / Shui Tas Frau-/Mann-Rolle allerdings „im Hinblick auf die Quotendiskussion“ sehen zu wollen, scheint mir dann doch reichlich weit hergeholt!

 

Vielleicht noch erwähnenswert: ein paar nette Bild-Zitate: die fast weihnachtlich anmutende Herbergssuche beispielsweise; oder eine Hochzeitstafel à la Leonardos „letztes Abendmahl“. 

? ? ?

Und schließlich noch eine Frage: Was habt ihr Euch dabei gedacht, das „Kuppellied“ aus „Die Rundköpfe und die Spitzköpfe“ (einem – zu Recht! – vergessenen „Lehrstück“) hier aufzunehmen („was soll da eines Mannes oder Weibes Schönheit? ... Wie soll er und wie soll sie auf den leeren Magen lieben? ... Geld macht sinnlich Wie uns die Erfahrung lehrt“), und zwar ausgerechnet in eine Szene die der Liedaussage diametral widerspricht („Ich will mit dem gehen, den ich liebe. Ich will nicht ausrechnen, was es kostet.“)  - Soll das ein weiterer V-Effekt sein? Oder ein Ratespielchen fürs Publikum?

 

 

 

Theater Paderborn – Westfälische Kammerspiele:

 

Der gute Mensch von Sezuan

 

Von Bertolt Brecht

 

 

Regie:     Volker Schmalöer

Ausstattung:     Sabine Böing

Musikalische Leitung:     Christine Weghoff

Dramaturgie:     Anne Vogtmann

 

 

Shen Te / Shui Ta:      

Maria Thomas

 

Yang Sun, ein stellungsloser Flieger / Der Bruder / Der Polizist / Der Arbeitslose:      

Stephan Weigelin

 

Frau Yang, Yang Suns Mutter / Der zweite Gott  / Die Frau / Die alte Prostituierte:      

Kirsten Potthoff

 

Wang, ein Wasserverkäufer / Der Neffe / Der Teppichhändler / Die Kellnerin:      

Markus Schultz

 

Der Barbier Shu Fu / Der erste Gott / Der Mann / Der Polizist / Der Bonze:

David Lukowczyk

 

Die Hausbesitzerin Mi Tzü / Der dritte Gott / Der Großvater / Der Aufseher: 

Willi Hagemeier

 

Die Witwe Shin:

Beate Leclercq

 

Die Nichte / Der Schreiner Lin To / Die Frau des Teppichhändlers / Der Junge:

Linda Meyer

 

Statisterie:

Henrik Schulz / Lazar Umiljenovic

 

Musiker:

Klavier:   Christine Weghoff

Querflöte / Keyboard / Schlagwerk:     Gerhard Gemke

Gitarre:    Thorsten Drücker / Tim Albrecht

 

 

 

Nächste Aufführungen:

 

So, 19.04.2015, 19:30 Uhr  (19:00 Uhr: Einführung)

So, 03.05.2015, 19:30 Uhr  (19:00 Uhr: Einführung)