Gut gepflegte Langeweile

Anton Tschechows „Möwe“ am Theater Paderborn

(Foto: Theater Paderborn – Westfälische Kammerspiele GmbH )

 

 

WaSa. Paderborn.   -  Auf Sorins Landgut hat sich eine bunte Gruppe aus der Kulturszene zusammengefunden: die berühmte Schauspielerin und der erfolgreiche Schriftsteller, der frühere Theater-Habitué und heutige Gutsverwalter, die Gutsbesitzertochter, die von einer Schauspielkarriere träumt ... Eigentlich würde man in dieser „Bohème“ das ideale Publikum für die Uraufführung eines experimentiellen Stückes vermuten. Geschrieben hat dies der junge Konstantin Treplew, Sohn der Diva, aufstrebender Schriftsteller und leidenschaftlicher Vertreter einer „neuen Form“, die das traditionelle, „langweilige“ Theater ablösen soll.

 

Allerdings: die auf Zerstreuung erpichte Sommerfrischen-Gesellschaft hatte etwas „Lustiges“ erwartet, hält die neue Form für dekadent und lässt sie gnadenlos durchfallen.

 

Mit dieser Anfangs-Szene hat Tschechow das Schicksal seines eigenen Stückes geradezu prophetisch vorweggenommen. Auch die feine Petersburger Gesellschaft des Jahres 1896 hatte von Tschechow – der ja seine Guts-Stücke eigensinnigerweise immer als „Komödien“ bezeichnet hat – etwas Lustiges erwartet und war von der „Möwe“ entsprechend enttäuscht. Schließlich wird da im Wesentlichen Stillstand vorgeführt, über weite Strecken Langeweile zelebriert; und ein Happy End gibt’s auch nicht. Zwar lieben alle, aber jeweils die falschen: Der Lehrer liebt Mascha, Mascha liebt Konstantin; der Noch-nicht-Schriftsteller Konstantin liebt die Möchtegern-Schauspielerin Nina; diese verlässt ihn für den arrivierten Dichter Trigorin; der lässt sie sitzen, und der Erfolg als Schauspielerin lässt auch auf sich warten. Der Lehrer jammert über Geldprobleme und der Gutsbesitzer leidet unter seinem tyrannischen Verwalter. Und so, wie die „drei Schwestern“ immer nur „nach Moskau“ wollen, so wollen auch hier alle eigentlich viel lieber „in die Stadt“.

 

So ist also der Mißerfolg der Uraufführung kein Wunder. Erstaunlich ist eher der spätere Höhenflug dieser flügellahmen „Möwe“. Zwei Jahre nach dem anfänglichen Fiasko hat sich der legendäre Regisseur Stanislawski des Stücks angenommen, es in seinem Moskauer Künstlertheater inszeniert – und zum glänzenden Erfolg geführt. In der Folge hat der kongeniale Regisseur alle Tschechow-Stücke dort erfolgreich herausgebracht; dem Vernehmen nach ziert aber eine Möwe bis heute den Vorhang des renommierten Hauses.

 

Und seit damals findet die Möwe immer wieder eine Heimat in den Theatern der Welt, gehört nach wie vor zu den meist gespielten Stücken Tschechows. Jetzt also in Paderborn, wo die Intendantin persönlich die Regie übernommen hat.

 

Ihr gelingt es, die grassierende Langeweile wenigstens zeitweise so zu zelebrieren, dass sie schon wieder spannend wird. Erstaunlich lebhaft gerät hier sogar der Höhepunkt der ländlichen Tristesse, wenn sich die Gesellschaft zu Beginn des zweiten Aktes in brütender Sommerhitze auf der Terrasse anödet („Stumpfsinn des Landlebens: alle reden, keiner tut was“).

 

Dabei haben die Paderborner es sich, oder besser gesagt: dem Publikum nicht unbedingt leicht gemacht. Drei Akte lang muss man auf die Pause warten. Das entspricht zwar dem Aufbau des Stücks, wo die ersten drei Akte innerhalb weniger Tage spielen und bis zum vierten dann zwei Jahre vergehen. Aber die fast zwei Stunden ziehen sich, und der eine oder die andere verlässt dann doch vorzeitig den Saal – kommt aber nach der Pause wieder!

 

Noch nicht einmal ein richtiges Bühnenbild gönnt man dem Zuschauer. Dabei hat Tschechow die Szenerie mit Park und Blick auf den See so schön plastisch ausgemalt (und man darf sich „lebhaft“ vorstellen, was der Super-Naturalist Stanislawski daraus gemacht hat!). In Paderborn blickt man dagegen auf die schwarze Rückwand. Um so mehr kann man sich auf die – nun ja ... – Handlung konzentrieren, auf die – im Großen und Ganzen recht ordentliche – Leistung der Darsteller. Vor diesem neutralen Hintergrund wird beispielsweise das Abschiedsgespräch zwischen Trigorin und Mascha sowie Nina im dritten Akt zum reizvoll-spannenden Kammerspiel. Und hie und da hat die Regisseurin sogar mit beachtlichem Geschick eine Komik aus der vorgeblichen „Komödie“ herausgeholt, die man bei der Lektüre allzu leicht überliest.

 

Zu dieser Komik mag auch die Wahl der Übersetzung von Thomas Brasch beigetragen haben, dessen Sprache sehr viel lebendiger ist, als was man aus den herkömmlichen Reclam & Co.-Übertragungen kennt. Einen fast schon gar zu drastischen Höhepunkt zeigt folgender Vergleich. In der Fischer-Taschenbuch-Ausgabe charakterisiert sich Mascha selbst als eine, „die nicht weiß, wozu sie lebt auf dieser Welt“. In Paderborn sagt sie: „die nicht weiß, warum sie nicht längst verreckt ist“ (wobei noch zu überprüfen wäre, was offizielle Übersetzung ist und was künstlerische Freiheit der Regie, so z. B. auch, wenn am Ende des 3. Aktes ein ausdrückliches „Ich liebe dich“ gesprochen wird, während der Text lediglich einen Kuss vorgibt.)

 

Tschechows handlungsarmes Stück endet mit einem Paukenschlag: „Konstantin hat sich erschossen“. Danach sollte eigentlich der Vorhang fallen. – In Paderborn muss die Schauspiel-Diva das letzte Wort haben, womit der Schock des plötzlichen (wenn auch nicht überraschenden) Selbstmordes abgemildert wird. Im letzten Satz zieht Arkadina ein Fazit über das Stück: „Alles erledigt. Dies ist doch weder Tragödie noch Komödie. Sondern nur ein Vorkommnis“. Auch diesen Satz habe ich in keiner Textausgabe gefunden. Ein ähnliches Zitat im Programmheft lässt vermuten, dass es Tschechows eigenes Urteil über sein Stück ist. Ist damit alles gesagt?

 

Nach weit über zwei Stunden „Möwe“ nahm sich das Publikum noch die Zeit, lebhaft zu applaudieren.

 

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Regie:    Merula Steinhardt-Unseld
Ausstattung: Dieter Teßmann

Dramaturgie: Maren Simoneit

 

Irina Nikolajewna Arkadina, Schauspielerin:   Hella-Birgit Mascus

Konstantin G. Treplew, ihr Sohn:         Simon Breuer

Pjotr N. Sorin, Gutsbesitzer:        Thomas Heller

Nina M. Saretschnaja:           Carolin Karnuth

Ilja A. Schamrajew, Gutsverwalter:          Stephan Boden

Polina Andrejewna, seine Frau:  Ulrike Fischer

Mascha:               Anna Schönberg

Boris A. Trigorin, Schriftsteller:     Rafael Meltzer

Jewgeni S. Dorn, Arzt:       Christoph Finger

Semjon S. Medwedenko, Lehrer:            Simon Keel