§ 175: Als Schwulsein noch im Strafgesetzbuch stand …

14. Lippe-Krimi mit Detmolder Kommissar Jupp Schulte

Weihnachtsgeschenk mit Zeit- und Lokalkolorit

g.WaSa     -     Lippe     -     In der Regel erscheinen die „Lippe-Krimis“ um Kommissar Jupp Schulte alljährlich pünktlich ein paar Wochen vor Weihnachten. Mindestens fünf waren es seit 2009. Wieso muss ich da im November 2015 ausgerechnet den „Varusfluch“ aus dem Jahr 2008 noch einmal lesen? So gut war der nun wirklich nicht! Und jetzt habe ich noch eine Menge Details im Kopf, wie zum Beispiel die hier:

 

  • Der 50jährige Schulte erbt nach dem Tod seiner Mutter unter anderem „die ehemalige Werkstatt (seines) Vaters“, die langfristig verpachtet ist und monatlich 1800 Euro einbringt (Varusfluch, S. 248)
  • Ina war Schultes andere Tochter. Sie war eine volle Woche jünger als ihre Halbschwester …“  (Varusfluch, S. 16).

 

Und dann nehme ich den soeben (12/2015) erschienenen neuesten Band „Lippische Seilschaften“ zur Hand und lese gleich auf den ersten Seiten:

 

  •  „als Schulte 15 Jahre alt war … wurde die Werkstatt (des gestorbenen Vaters) verkauft, um das Auskommen der Familie abzusichern“ (S. 8) und
  • Ina war zwei Stunden nach Lena, der Erstgeborenen, zur Welt gekommen“ (S. 9).    

 

Und schon ärgere ich mich wieder über die Schludrigkeit dieser Autoren und das mangelhafte (mangelnde) Lektorat. Nachdem mich schon die fortgesetzten Schlampigkeiten im „Varusfluch“ genervt hatten, spricht alles dafür, das Buch zuzuklappen und zu vergessen.

 

Aber ich sitze im Zug, der SPIEGEL ist ausgelesen, die Tageszeitung verspricht nichts Interessantes mehr, und die Fahrt dauert noch über eine Stunde. Also lese ich weiter.

 

Zum Glück!

 

Denn „Lippische Seilschaften“ scheint mir der beste von den fünf oder sechs Schulte-Krimis, die ich bisher gelesen habe; sicherlich um Klassen besser als der kürzlich gelesene „Varusfluch“ von 2008!

 

Die Geschichte: spannend

Da gibt’s eine ordentliche, spannende Krimihandlung: Im beschaulichen Detmold ist ein Serienmörder unterwegs, der wohlsituierte Rentner erschlägt. Und Schulte & Kollegen müssen mit Hochdruck ermitteln, denn jeden Tag könnte der Pensionärs-Killer erneut zuschlagen.

 

Der besondere Clou dieses Romans: parallel zur Tätersuche anno 2015 werden Jupp Schultes Anfänge als frischgebackener Kriminalkommissar im Detmold des Jahres 1984 erzählt: wie er gleich am ersten Tag die attraktive Polizeimeisterin Maren Köster kennenlernt und kurz darauf auch seinen späteren Vermieter und Freund, den knorrigen Bauern Fritzmeier; wie er schon damals der eher unkonventionelle Chaot ist, und wie er (nicht nur deshalb) von Anfang an mit seinem Chef – Typ deutschnationaler Militarist – über Kreuz gerät. .                                                                                                      

 

Natürlich hat diese Parallelisierung ihren Grund: das Motiv für die Rentner-Morde von heute wurzelt in einer Schweinerei von damals, mit der Schulte gleich bei Dienstantritt konfrontiert wird; zwar erkennt der brave junge Bursche sehr wohl, dass da mächtig was falsch läuft, aber gegen die eingespielte Seilschaft aus Richter, Staatsanwalt und Polizeidirektor hat der Jungspund keine Chance. 

 

Als geübter Krimileser weiß man dann sehr schnell, wer der Mörder ist, und wundert sich zunächst, dass Schulte – der ja einst dabei war – die Zusammenhänge nicht kapiert. Aber dann macht man sich klar, dass für Schulte zwischen damals und heute 30 Jahre und zahllose andere Fälle liegen, während man selbst die Ereignisse von 1984 gerade eben auf dem Silbertablett, naja: auf etlichen Buchseiten präsentiert bekommen hat. 

 

So beobachtet der besserwissende Leser also mit Interesse und Vergnügen, wie sich Schulte und Kollegen allmählich an den wahren Sachverhalt heranarbeiten; das bleibt spannend, vor allem, da auch der Leser noch nicht weiß, wo bzw. hinter wem sich der Mörder verbirgt. Und zum Schluss gibt’s noch mal eine aufregende Steigerung, die zwar gängiger Krimidramaturgie entspricht, aber dennoch (eben deshalb) das Herz des mitfiebernden Lesers klopfen lässt …

 

Das Personal: Was für Typen!

Mitautor Wolfram Tewes hat mal verraten:  „Wir haben zuerst die Charaktere geschaffen. Die Handlung entwickelte sich danach ..." – „Das merkt man“, hab‘ ich schon mal geschrieben. Ich kenne einige Bände der Reihe, die zu lesen sich wegen der Handlung nicht lohnt, wegen der eigenartigen Typen darin vielleicht schon!

Den „Lippischen Seilschaften“ würde ich allerdings schon ein deutliches Primat der Krimihandlung konzedieren. Dennoch spielen natürlich die „Charaktere“ auch hier eine tragende Rolle, allen voran mal wieder Jupp Schulte, der diesmal vor allem in seinem Privatleben ziemlich gebeutelt wird: sein Freund und Vermieter Fritzmeier, der inzwischen auch schon um die 90 sein dürfte, hat ernsthafte Gesundheitsprobleme; Tochter Ina will wegziehen, nachdem er sich über die Jahre doch so an sie gewöhnt hat - und vor allem an Enkel Linus, der sich inzwischen zum achtjährigen Lausbuben gemausert hat und noch zwischen den Berufszielen Polizist und Profifußballer schwankt.

 

Und die attraktive Maren, um die Jupp Bände-lang „gebuhlt“ hat, hat sich offenkundig während des zurückliegenden Falles doch noch erobern lassen: die beiden sind endlich ein Paar – was aber noch lange nicht heißt, dass Jupp auch Talent für eine Zweierbeziehung entwickeln würde …

 

Lokal- und Zeit-Kolorit

Konstitutiver Bestandteil eines jeden Lippe-Krimis: zwischen Augustinum, Langer Straße und Safaripark reichlich Lokalkolorit, das diesmal noch durch Zeitkolorit ergänzt wird. Für mich, der ich 1985, also grade mal ein Jahr nach Jupp Schulte, nach Detmold gekommen bin, ist die Rückblende auf Mitte der 80er besonders interessant. Heute kaum mehr vorstellbar: dass damals die ersten Geldautomaten in Detmold installiert wurden. Und erst recht: dass noch 1984 jemand aufgrund des § 175 verhaftet und verurteilt werden konnte. Ich muss mich bei den Autoren entschuldigen! Erst dachte ich tatsächlich, das sei so eine „typische Schlamperei“, denn das Verbot homosexueller Beziehungen sei spätestens von der sozialliberalen Koalition aus dem Strafgesetzbuch herausgenommen worden. Von der klugen Tante Wikipedia lasse ich mich dann gleich nach der Verhaftung auf Seite 59 aufklären, dass der „Schwulenparagraf“ tatsächlich erst 1994, im Rahmen der Gesetzesangleichung nach der Wiedervereinigung, endgültig aufgehoben wurde. Viel später, auf S. 195, erklärt Schulte das in genau denselben Worten seinem jüngeren Kollegen – offensichtlich hat auch er eine Tante Wikipedia.

 

Vieles ist allerdings auch verschwunden, an das man mit wehmütiger Nostalgie zurückdenkt. Sinalco, zum Beispiel. Oder Karstadt und so manches Traditionsgeschäft … Umso mehr freut man sich, wenn man auf Institutionen stößt,  welche die Jahrzehnte überdauert haben: bei all der Fluktuation in der Detmolder Gastronomie - den Lippischen Hof gibt’s immer noch (und er wird immer noch von Gotti Schuster geführt); den Dönerladen Kebabadin gab‘s angeblich schon 1984 (hätt‘ ich nicht gedacht) und Rudolfs Bratwüste waren damals schon Kult (erinnere auch ich mich), ebenso wie Partys im Hiddeser Steinbruch ...

 

Und es gibt Veränderungen zum Guten, die man sich nie auch nur erträumt hätte, weil sie so undenkbar erschienen. So war ich vor einiger Zeit geradezu perplex, als ich nach Monaten mal wieder in die „Braugasse“ kam und dort die Wirtin mit Zigarette schon auf dem Vorplatz antraf, zusammen mit den Gästen, die sonst immer den schmalen Durchgang vor der Theke vollgequalmt hatten. Da liest sich das Folgende wie ein Déjà-vu:

 

„Früher hatte Jupp viel Zeit in der Braugasse verbracht … (Jetzt) stieg er die schmale Treppe zur Gaststube hinunter. Noch von einigen Jahren hatten ihn hier dicke Rauchschwaden empfangen, heute war die Luft klar und rein“ (S. 171)

 

Sprache & Stil

Der Krimi liest sich leicht und flüssig. Gelegentliche ungeschickte bis schwülstige Formulierungen nimmt man in Kauf – wenn ich mich an glänzendem Stil erfreuen will, lese ich die „Wahlverwandtschaften“ oder den „Zauberberg“. Im Vergleich zum „Varusfluch“ fühle ich mich weniger von eifrig ausgemalten Nebensächlichkeiten belästigt, die dort grassierenden Weitschweifigkeiten scheinen hier deutlich reduziert. „Lippische Seilschaften“ ist ja auch um 66 Seiten kürzer. Nochmal ca. 50 Seiten weniger – und es hätte womöglich ein richtig guter Krimi werden können.   

 

Fazit

Wenn Sie noch schnell ein Weihnachtsgeschenk brauchen: der neue Lippe-Krimi bietet sich an!

 

 

 

Jürgen Reitemeier, Wolfram Tewes:

 

Lippische Seilschaften. –

 

Lippe-Krimi (Band 14)    –    1. Oktober 2015

 

Verlag: Topp + Möller

267 Seiten – 11,20 €

 

ISBN-10: 3936867623

ISBN-13: 978-3936867626