Nackte im Hotel

Roland Schimmelpfennigs „Vorher / Nachher“ in Hamburg   (Febr. 2003)

WaSa.   -    Dass es anfängt, erkennt man daran, dass „die Frau über 70“ nackt nach vorne kommt. Schon 20 Minuten vor Beginn, während die Zuschauer herein tröpfeln, sind alle Schauspieler auf der Bühne: auf einer großen, weit in die Tiefe geöffneten Bühne, die vollkommen leer ist, bis auf eine bewegliche kahle Wand. Und bis auf die Schauspieler, die sich unhörbar unterhalten und sich ohne erkennbares Ziel hin und her bewegen. Sie tragen Alltagskleidung oder kurze schwarze Bademäntel. Irgendwann, kurz nach Acht, ohne dass das Saallicht ausginge, lässt also Christiane von Poelnitz ihren Bademantel fallen, kommt aus der Tiefe des Raumes nach vorne und klagt über den ekelhaften Anblick ihres nackten Körpers. Diese Klage mag der Zuschauer nun wirklich NICHT nachvollziehen (und offensichtlich ist die Schauspielerin noch weit, weit unter 70!).

 

 

Neo-surrealistisches Panoptikum

Wie auch immer – mit diesem Auftritt beginnt eine Nummernrevue von 51 kurzen Szenen, die Roland Schimmelpfennig als Auftragsarbeit für die „Frankfurter Positionen 2001“ verfasst hatte und die jetzt am Hamburger Schauspielhaus uraufgeführt wurden. Ort des Geschehens scheint ein Hotel zu sein, Daueraufenthaltsort oder kurzfristige Zuflucht für ein Panoptikum von insgesamt 39 Personen, die von fünf Schauspielerinnen und sieben Schauspielern verkörpert werden. Die Skala der Charaktere reicht vom Handwerker über den „Mann mit der Sternenkarte“ bis hin zur multiplen Persönlichkeit der „sich ständig verändernden Frau“, bei der einzig das Geschlechtsttribut „weiblich“ immer gleich bleibt (was sie uns durch großzügiges Öffnen ihres Bademantels eindrucksvoll beweist). Manche treten nur einmal auf (die zwei Tänzer, die drei Nonnen), andere kommen immer wieder, wobei ihre Geschichten mal offenkundig, mal durch unauffällige Andeutungen miteinander verknüpft sind. Diese Geschichten handeln meist von alltäglichen Banalitäten (der kaputten Glühbirne im Hotelzimmer, dem ersten grauen Haar) oder von den banalen Highlights der Daily Soaps (Seitensprung, Ehestreit auf der Party). Manchmal zeigt Schimmelpfennig aber auch sein Talent für einen subtilen Neo-Surrealismus (der schon seine „arabische Nacht“ zum Erfolg geführt hatte): in der Erzählung vom Jäger, der sich von seiner extraterrestrischen Beute verschlucken lässt, um mit ihr kommunizieren zu können. Und vor allem im Abenteuer des Mannes, der in ein Bild eintaucht, den Rückweg in die Realität nicht mehr findet und stattdessen in der impressionistisch-idyllischen Flußlandschaft (auf der Titelseite des Hamburger Programmhefts ist die Vorlage dafür abgebildet: Guillaumins „Pont de Marne á Joinville“ von 1871) die Industrialisierung in Gang bringt und ganz aus Versehen den Kapitalismus erfindet, der dann in der Globalisierung gipfeln und zur Klimaerwärmung führen wird ... aber das sind schon wieder andere Geschichten.

 

Glücksfall Regie

Übrigens werden diese Geschichten von Schimmelpfennig nur ansatzweise in dramatischen Dialogen ausgeführt, überwiegend aber in knappen Posaskizzen hingeworfen. Zugegeben: Wenn man das nur liest, dann wirkt es doch arg fragmentiert. Doch zum Glück hat sich mit Jürgen Gosch ein Regisseur gefunden, der – ohne groß in den Text einzugreifen – die Handlung verdichtet, belebt und damit ein plastisches Stück Gegenwart auf die Bühne bringt.

Begeisternde Darsteller / innen

Und das, obwohl die genannten „Prosaskizzen“ teils einfach nur vorgetragen werden. Aber was heißt hier „einfach nur“? (Und damit wären wir bei den Schauspielern!)  WIE die Texte vorgetragen werden, ist durchaus spannend, ja mitreißend (lediglich das dauernde Verbalisieren von „Pause ... kurze Pause ... Pause“ nervt mit der Zeit). Dazu kommt, dass auf der leeren Bühne (Ausstattung: Johannes Schütz) alle Handlungen (Zähneputzen, Heizung aufdrehen) ohne Requisiten, also pantomimisch ablaufen – auch das gekonnt, so dass die kühlen Hanseaten dem Ensemble am Ende zurecht begeistert applaudieren. Hervorzuheben ist Ilse Ritter mit ihrer faszinierend-bedrückenden Studie einer alten Dame, die sich – von beginnendem Parkinson und sanfter Altersdemenz gezeichnet – in ihren Lebenserinnerungen verliert. Aber auch die andern Darsteller und insbesondere die Darstellerinnen begeistern. Myriam Schröder  zum Beispiel, wenn sie in einem heftigen Monolog ihren Unterschichten-Frust heraussprudelt, nachdem sie sich den (spärlichen) Rest ihrer Bekleidung in einer wütenden Geste vom Leib gerissen hat.

Fazit:

Das Stück überzeugt in seiner interessanten Gegenwarts-, durchaus auch Alltags-Orientierung und begeistert durch immer neue überraschende Bezüge – ein skeptisches „Na ja ...“ verschwindet aber nie ganz aus dem Hinterkopf. Uneingeschränkt zu loben sind Regie und Darsteller.