Aktuell wie 1932:

„Kasimir und Karoline“ in Detmold

(aus: theater pur, Juni 1999 – S. 35)

Der Zeppelin – Objekt der Sehnsucht

Ein wichtiges Requisit in Ödön von Horváths „Kasimir und Karoline“ ist der Zeppelin. Als Erfüllung des alten Menschheitstraums vom Fliegen fasziniert er die reichen Geschäftsleute wie die elenden Krüppel; vor allem aber ist er Objekt der Sehnsüchte der kleinen Leute: Sie jubeln dem sanft über dem Oktoberfest schwebenden Luftschiff zu, das die Niederungen des Alltags hinter sich gelassen hat und die Möglichkeit bietet, in Null-Komma-Nix nach Oberammergau zu fliegen. Daß in ihm nur ein paar Dutzend Wirtschaftskapitäne mitfliegen können, tut seiner Popularität bei denen, die derweil unten zu Millionen (ver)hungern, keinen Abbruch. 

Der Zeppelin als Menetekel

Wichtiges Requisit zwar – das aber unsichtbar bleibt, da ein Zeppelin nun mal nicht auf die Bühne paßt. In Detmold erscheint er wenigstens auf dem Plakat, das „Kasimir und Karoline“ ankündigt: auf den ersten Blick ein lieblich-kitschiges Bild mit zwei Barockengelchen, großem rotem Herz, Blümchen und eben dem Zeppelin. Auf den zweiten Blick wirkt das Luftschiff seltsam zerfranst, und bei genauerem Hinsehen erkennt man das Bild: es stellt die – nach der „Titanic“ wohl spektakulärste Verkehrskatastrophe der Geschichte dar: die Explosion des Zeppelins LZ 129, besser bekannt unter dem Namen „Hindenburg“, am 7. Mai 1937 im amerikanischen Lakehurst.

 

Der Zeppelin als Menetekel. Mit dem Unfall endete die Zeit der Zeppelin-Linienflüge zwischen Deutschland und Amerika, die 1932 begonnen hatten – zufälligerweise in dem Jahr der Uraufführung von „Kasimir und Karoline“. Einem Stück, das an das materielle und psychische Elend der kleinen Leute auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise erinnert und das beim Wiederlesen erschreckend unsere heutige sozio-ökonomische Situation heraufbeschwört. Kein Wunder eigentlich, daß das Stück in den letzten Wochen eine Renaissance (nicht nur) auf westfälischen Bühnen erlebte: in Paderborn, in Münster, in Oberhausen …

 

Und jetzt also in Detmold.  

 

Bedrückende Aktualität

Es ist die Detmolder Inszenierung, die am konsequentesten die bedrückende Aktualität des Stücks offenbart. André Nike (der vor einem Jahr in Detmold Falladas/Dorsts „kleinen Mann“ spielte) nimmt jetzt als Regisseur ganz bewußt den „Standpunkt der Entrechteten“ ein; er will „Sprachrohr sein für diejenigen, die durch die Maschen des Sozialstaates fallen“. Für ihn steht das Schicksal des abgebauten Kasimirs für Millionen Menschen in unserem Land.

 

Zwar ist nicht alles gut gemeinte auch gut gelungen: So ist Nicke (die Euthanasie unwerten Lebens der Nazis in Erinnerung) an die Szene mit den „Abnormitäten“ zu ängstlich herangegangen und hat gleichzeitig versucht, hier faschistische Demagogie an den Pranger zu stellen – was im Ergebnis aufgesetzt wirkt.

 

Um so beeindruckender, wie er die „Liebe der Entrechteten unter den Bedingungen der Mächtigen, die dieser Liebe keinen Raum geben“ auf die Bühne bringt. Die Aufführung wird zu einem Lehrstück darüber wie Persönlichkeiten zerstört werden können: Kasimir durch den Verlust seines Arbeitsplatzes (und seiner Braut), Schürzinger durch Angst um die Erhaltung seiner Stelle, Karoline durch ihr Streben nach einem kleinen Anteil am Leben der „besseren Leute“. Hier entfaltet die Aufführung ihre Stärken, wozu natürlich die Darsteller wesentlich beitragen, aber auch die Tatsache, das Nicke die Rollen bewußt „gegen den Strich“ besetzt hat.

Die Personen  

So ist der von Joachim Ruczynski gestaltete Kasimir nicht der junge Mann, der im Falle eines Falles bald wieder Arbeit (und Freundin) bekommt, sondern ein schwerfälliger Mensch mittleren Alters, wie man ihn sich auf dem öden Flur des Arbeitsamtes vorstellt. Umgekehrt ist der Kommerzienrat Rauch nicht der alte geile Bock (wie es etwa in Paderborn und mehr noch in Oberhausen geradezu karikaturenhaft überzeichnet wurde), sondern ein junger, gutaussehender Managertyp (Jürgen Roth), dem man den kommerziellen Erfolg ansieht – der spannte dem Kasimir seine Karoline nicht nur kraft seiner Stellung aus, sondern auch kraft seiner Persönlichkeit. Der Zuschneider Schürzinger schließlich ist das Musterbild eines mies-fiesen kleinen Angestellten, der nach oben buckelt, aber gerne nach unten träte (beeindruckend: Manfred Ohnoutka).

 

In Oberhausen wurde eine pervertierte konjunkturelle Aufbruchstimmung beschworen, wenn an der Bühnenrückwand in optimischer Aufwärtsrichtung immer wieder die Parole „AUF GEHTS“ in Leuchtbuchstaben aufblitzte – sinnigerweise über dem Kabinett der Monstrositäten, die die Oberhauser in ihrem ganzen Elend darzustellen wagten. In Detmold steht an gleicher Stelle in Frakturschrift: „Ordnung – Eintracht – Frohsinn“. Diesem verklemmt-biederen Motto deutscher Oktoberfest-Krisen-Stimmung verlieh Manfred Kaderk den passenden Rahmen mit einem Bühnenbild, das an einen muffig-heruntergekommenen Bahnhofswartesaal erinnert.

 

-------------------------------------------------

 

 

Landestheater Detmold:

 

„Kasimir und Karoline“ 

Volksstück von Ödön von Horváth

 

Regie: André Nicke

Dramaturgie: Bettina Ruczynski

Bühne: Manfred Kaderk

Kostüme: Almut Blanke

Musik: Barbara Buchholz