Zwischen Bärbel Höhn und religiöser Apotheose
Kammerspiele Paderborn (2001)
Onkel Wanja
Komödie von Anton Tschechow
Übersetzt von Ottokar Nürnberg
Inszenierung: Merula Steinhardt-Unseld
Ausstattung: Dietmar Teßmann
(2001) Wie aktuell dieser inzwischen auch schon 100jährige Onkel Wanja doch ist! Ein Professor kann in der Stadt nur deshalb so großspurig seiner Pseudo-Wissenschaft frönen, weil die armen Verwandten auf dem Land aus dem Familiengut jede Kopeke herauspressen, um sie dem verehrten Idol zu schicken. Ins Heute übersetzt: Arrogante Intellektuelle in ihrem Elfenbeinturm
haben den Kontakt zum wahren Leben verloren, von dem sie aber heftig schmarotzen.
Andere Parallelen sind noch deutlicher: Die Elogen des Arztes auf den Wald könnten im heutigen GRÜNEN-Programm stehen, seine Befürchtungen hinsichtlich der Zerstörung der Umwelt haben sich längst bestätigt – eine als Arzt getarnte Bärbel Höhn in der zaristisch-russischen Provinz! Und schließlich der Professor, der das Gut verkaufen will, weil der Finanzertrag aus Wertpapieren doppelt so hoch wäre wie der Realertrag aus der Landwirtschaft: der erste Ritter des Shareholder Value und des Finanzkapitalismus. Da ist es nur konsequent, die Frage nach den sozialen Folgen mit der Floskel „Alles zu seiner Zeit“ abzutun und die Zukunftsängste der Betroffenen einfach nicht zu verstehen.
Nun hat sich Merula Steinhardt-Unseld allerdings gehütet, dieses Drama des „realistischen Symbolismus“ derart zu modernisieren, dass daraus ein aktuelles (und gar kritisches) Zeitstück würde. Vielmehr zeigt sie uns in ihrer handwerklich soliden Inszenierung eine Art Zauberspiegel, in dem – wer mag – unsere heutige (politische) Situation gespiegelt sehen kann, durch den man aber auch einfach hindurchblicken darf, um Tschechows Personen in ihren komplizierten Beziehungen zu beobachten.
Und allein schon diese Beobachtung bietet hinreichend Genuss: Willi Hagemeier entlarvt seinen
Professor als egoistisch-fordernden Hypochonder. Der Wanja Thomas Hellers begeistert als Melancholiker der verpassten Gelegenheiten. Am besten gefallen Urban Luig als idealistischer Arzt, der
allerdings allzu gern den Reizen des Alltags erliegt (sei’s dem Wodka, sei’s der jungen schönen Professorenfrau), sowie Antonia Mohr als Sonja: Beeindruckend, wie sie mal als unscheinbares junges
Mädchen auftritt, das an seiner unglücklichen Liebe zum Arzt leidet, mal als junge Frau, die sich letztlich als die einzig lebenspraktische Persönlichkeit in diesem Haufen vor Selbstmitleid
triefenden russischen Seelen erweist. Nur schade, dass dieses Bild einer tüchtigen Optimistin in ihrem Schlussmonolog wieder zerstört wird: fast schon einer religiösen Apotheose der jenseitigen
Heilserwartung. Hier hätte ich mir eine weltlichere Fassung, zumindest eine Straffung gewünscht (wie sie etwa Thomas Brasch in seiner „bearbeitenden Übersetzung“ vorgeschlagen
hat).
(G. Wasa)