Gorki - penetrant aktuell

 

Landestheater Detmold:

 

Nachtasyl (Szenen aus der Tiefe)

 

Drama von Maxim Gorki

Deutsche Fassung von Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens nach der Übersetzung von Andrea Clemen

 

Regie:                       Joachim Ruczynski

Bühne:                      Hans-Günther Säbel

Kostüme:                 Marlis Knoblauch

Dramaturgie:           Bettina Ruczynski

 

 

Wie arm ist eigentlich unser Theater? Da gehen draußen zig-tausende auf die Straße gegen eine ökonomisch-soziale Umwälzung, die mit "Globalisierung", "Agenda 2010" oder "IWF-Bundespräsident" nur sehr unvollständig umschrieben ist. Und was findet sich davon wieder auf den Brettern, die die Welt bedeuten? Wenig bis nichts. Widmers "Top dogs" oder Rinkes "Vineta" sind schon High-Lights polit-ökonomischen Theaters. Ansonsten zelebrieren die neuen Stücke die Handlungslosigkeit und inhaltsfreie Geschwätzigkeit der MTViva-Generation. Musterbeispiel: v. Düffels viel gespielte "Balkonszenen", die vor einiger Zeit in Detmold als Yuppie-Party inszeniert wurden, wobei nicht nur der gemeinsame Schluss-Chor "Brüder zur Sonne ..." klar machte, welche Brüche diesen Balkon durchzogen.

 

Joachim Ruczynski hat sich bei seiner jüngsten Regiearbeit gelegentlich gefragt, ob es wohl die Yuppies von damals sind, die - inzwischen vom Balkon gestürzt - unten in der Tiefe, im "Nachtasyl", angekommen sind.

 

Jedenfalls fand er dieses (ziemlich genau 100 Jahre alte) Stück geradezu "widerwärtig aktuell" und hat es auch - einerseits; lobenswert! - ins Heute versetzt. In einer leergeräumten, vergammelten Fabrikhalle treffen sich all die Zu-kurz-Gekommenen, die zwar noch nicht "Platte machen" müssen, sich aber auch nicht mehr in den Höhen der Wohlstandsgesellschaft halten können, der sie vielleicht vor ein paar Jahren noch angehört haben. - Modern auch das Idiom: Wer die "klassische" Übersetzung von Scholz kennt (mit viel "Großväterchen" und russischer Seele) ist zunächst geschockt ob der sprachlichen Kargheit der Detmolder Textfassung. Aber auf der Bühne überzeugt die Nüchternheit dieser Ausdrucksweise von Sprechern, die all ihre Bedürfnisse auf's Nötigste beschränken müssen - warum also nicht auch ihre Sprache?!

 

Andererseits haben Ruczynski/ Ruczynski ausgerechnet die vielleicht penetrantesten Parallelen zur Gegenwart ausgelassen. So verzichten sie auf den Arbeitsunfall des Tataren (wäre ein Querverweis zur Gesundheitsreform allzu wohlfeil gewesen?). Satins's sozialdarwinistische Eloge auf den Tüchtigsten ist gestrichen. Schade, eigentlich! Erst recht schade, dass den Nachtasylanten ihre ehrbaren Berufe weggenommen wurden: Bei Gorki hat sich Bubnov als Mützenmacher nützlich gemacht; der Schlosser Kleschtsch hat die Mitbewohner genervt mit seinem dauernden Gefeile und Gehämmer und mit seinem fast schon protestantischen Arbeitsethos. In Detmold ist Bubnov nur noch Zyniker; ein Schuster ist ganz gestrichen; und Kleschtsch lässt zwar noch ein paar Fleiß-Sprüche los, beschränkt seine Aktivität aber auf's Zeitungslesen (was soll das? studiert er vielleicht  Stellenanzeigen?? Keiner weiß es). Dabei wäre dieser Gorki'sche Kleschtsch doch das Muster einer Hartz'schen Ich-AG! 

 

Ein paar weitere Fragen wirft die Inszenierung auf: Ausgerechnet der still-duldenden Ehefrau Anna werden die ehefeindlichen Tiraden der (gestrichenen) Kwaschnja in den Mund gelegt. Wozu? Und vor allem der Schluss: Während Gorki seine Elenden ein sentimentales Arme-Leute-Lied singen lässt, erklingt in Detmold aus dem Off eine Musik, die langsam aber sicher alle zum Tanzen zwingt. Natürlich entspricht's dem Zeitgeist, nicht mehr selbst Musik zu machen, sondern Musik zu konsumieren. Aber diese überraschende suggestive Musik aus dem Nichts erweckt ganz zum Schluss den plötzlichen und irritierenden Eindruck des Traumtänzerischen, nachdem wir diese Gestalten zuvor doch immer realer empfunden, in ihnen unsere benachteiligten Nachbarn wiedererkannt hatten - na ja, seien wir ehrlich: wir Theaterabonennten kennen diese Schicht weniger aus der Nachbarschaft als aus Zeitungen und Fernsehen. Um so beachtlicher, wie nahe sie uns in diesen zwei Stunden gekommen ist! Diese Nähe ist Verdienst der Darsteller, die alle ein dickes Lob verdient haben. Sie ist aber auch ein Verdienst der Inszenierung, die - trotz aller Einzelkritik - insgesamt eine beeindruckende Dichte und Eindringlichkeit erreicht und verdientermaßen mit kräftigem Beifall belohnt wird.

 

Wie reich ein Theater doch ist, das uns - scheinbar mühelos - mit Hilfe eines 100 Jahre alten Spiegels ein derart scharfes und aktuelles Bild zeichnet!

 

                                                                                   (G. Wasa – Theater pur, 2004/05)