Von Incels und generischem Maskulinum

Pensionär Jupp Schulte jagt Frauenhasser

„Weiberfastnacht“ – 20. Lippe-Krimi von Reitemeier/Tewes

g.wasa   -   Detmold.   -   ‚An seinen Kindern sieht man, wie man älter wird‘, lautet so eine Alltagsweisheit. – Aber die gilt wohl nicht mehr, wenn die Kinder selbst erwachsen sind, zumal, wenn sie längst aus dem Haus sind. Da ist es gut, wenn alle Jahre wieder mal einer ins Haus kommt, an dessen Alterungsprozess wir uns messen können: der lippische Provinz-Bulle“ Jupp Schulte, seit ca. 20 Jahren Held von ebenso vielen „Lippekrimis“ der Autoren Jürgen Reitemeier und Wolfram Tewes.

 

Eine Polizisten-Karriere in Detmold

In einer Rückblende  aufs Jahr 1984 konnten wir bereits die ersten Schritte des frischgebackenen Kriminalkommissars beobachten; haben dann seine Karriere bis hin zum Kriminalrat verfolgt; waren so manches Mal genervt: mal von dieser oder jener Midlifecrisis, mal von einer verfrühten Altersdespression (spätestens mit 50 wird aus dem einsamen Wolf ein begossener Pudel“),  haben uns schließlich diebisch mit ihm gefreut, wenn er, obwohl auf ein Abstellgleis abgeschoben, seinen (Ex-)Kollegen immer noch beweist, dass er nicht zum alten Eisen gehört. Und nun – wie üblich: kurz vor Weihnachten – ist er also wieder da.

 

Als Pensionär!

 

Die Story

Zum Glück ödet er uns nur wenige Seiten lang mit seinem Gejammer über das ereignislose Rentnerdasein an. Dann hat er dafür nämlich keine Zeit mehr: Zoé Stahl ist verschwunden. Eine interessante junge Frau: einerseits eine Art „Rockerbraut“ mit einer „lässigen Art, durchs Leben zu kegeln“, andererseits als Staatsanwältin so erfolgreich, dass sie kurz vor der Ernennung zur Ober-Staatsanwältin steht. Jupp Schulte schätzt die junge Frau: In ihrer Unkonventionalität ist sie eine Geistesverwandte; zudem hatte der alte Schwerenöter vor langer Zeit mal was mit ihrer Mutter (aber nein – er ist nicht der Vater). Vor allem aber: Die Ermittlungen im Entführungsfall werden vom zuständigen Staatsanwalt derart ausgebremst, dass man sich fragt, ob das schiere Unfähigkeit ist, oder bewusste Sabotage (immerhin hat der Kollege selbst die Stelle des Ober-Staatsanwalts angestrebt).

 

Da greift Jupp ein! Und (wen wunderts?!): Während die Polizei – behindert vom Staatsanwalt – den Showdown grandios vermasselt, rettet Schulte mit seinem neuen Kumpel Bruschetta die Entführte in letzter Sekunde aus einem schon kokelnden Scheiterhaufen. Und als Zugabe gleich noch eine weitere Frau.

 

Insofern also alles wie gewohnt: Jupp der Superbulle! – Und sonst?

 

Zeit- und Lokal-Kolorit

Der Jupp-Schulte-Fan erwartet, dass die Abenteuer seines Helden mit einer kräftigen Prise Aktualität angereichert und vor allem mit reichlich Lokalkolorit grundiert sind. Um die regionalen Bezüge ist’s diesmal jedoch schlecht bestellt. Da taucht mal die Fürstengartenstraße als nobles Wohnviertel auf, wo nicht nur der fragwürdige Staatsanwalt wohnt, sondern auch – was für die Geschichte noch wichtig wird - der dubiose Bruschetta. Da ist das – sympathische! – Bedauern der Autoren darüber, dass „der ortsbildprägende Hiddeser Hof durch einen seelenlosen Neubau ersetzt worden war“. Dann gibt’s noch dieses Hochhaus in der Welche-war-das-nochmal?-Straße, wo Zoé gefangen gehalten wird, und schließlich – leicht verfremdet – der Mufflonkamp in Hiddesen, wo die Jugendfeuerwehr die alten Weihnachtsbäume fürs Osterfeuer lagert. Sonst ist da nicht viel. Zum Beispiel bleibt die Kneipenszene (sonst durchaus ein charakteristisches Element der Reihe) ausgespart – gezwungenermaßen, es herrscht ja Corona-Lockdown.

 

Und damit wären wir beim aktuellen Hintergrund, der natürlich von Corona geprägt ist, ohne dass dies jedoch penetrant wirkte. Zum Schlüssel-Ereignis wird aber etwas anderes: Weiberfastnacht, das zwar ebenfalls Corona zum Opfer fällt, das aber den Autoren so wichtig ist, dass sie daraus den Titel machen – und so was in der traditionell-protestantischen Karnevals-Diaspora Detmold. Aber bald merkt man: dieses „Fest der wilden, der durchgeknallten Weiber“, dieser „kollektive Wahnsinn“ dient Reitemeier/Tewes nur als Vehikel, um ein anderes Thema aufzutischen:  

 

Es geht um das Phänomen „Frauenhass“, das im beschaulichen Lippe bisher kaum Aufsehen erregt hat, das aber etwa von Wikipedia unter „Misogynie“ und „Incel“ ausführlich abgehandelt wird und wozu gängige Suchmaschinen zahlreiche erschreckende Beispiele liefern (deutschlandfunk, deutschlandfunk-nova, ndr, swr, n-joy u.v.a.).

 

In „Weiberfastnacht“ geht es um zwei Spielarten: Einmal um die Überzeugung von (irgendwie zu kurz gekommener) Männern, dass Feministinnen und Emanzen weltweite Verschwörungsnetzwerke unterhalten mit dem Ziel der endgültigen Weltherrschaft der Frauen über die dann endgültig rechtlosen Männer (dass im Bundeskanzleramt demnächst – wohl – keine Frau mehr sitzen wird, ist für diese Theorie natürlich ein schwerer Schlag).  Zum andern geht es um die Incels, involuntary celibates, die unfreiwillig Sex-Enthaltsamen, die also „keine Frau abkriegen“ und die Schuld daran – natürlich – eben jenen Frauen geben.

 

Für solche Misogynen ist Zoé Stahl natürlich das perfekte Feindbild: „Mit 34 Jahren bereits Staatsanwältin, dazu noch als Frau, und das Sahnehäubchen: als Farbige“.

 

(Übrigens, wenn Sie – wahrscheinlich ein Mann! – denken, die Theorie vom Streben der Frauen nach (Welt-) Herrschaft habe zumindest einen kleinen wahren Kern, so sind Sie nicht allein! In einem kurzen Gastauftritt lassen Reitemeier/Tewes eine dieser jungen Frauen auftreten, die wir alten weißen Männer, wo nicht aus unserer direkten Lebenswelt, so doch aus der Zeitung und einschlägigen Veröffentlichungen kennen: „höhere Tochter … mit dem Unfehlbarkeitsdogma einer Endzwanzigerin“, deren „Blick verriet, dass sie alle Geheimnisse dieser Welt durchschaut hatte“, die sich wohl noch nie eine Hand bei der Arbeit schmutzig gemacht hatte, aber dem alten Bauern Fritzmeier erklärt, dass sein Hofladen nur als Alibi für die Welt-Zerstörer dient und die den knorrigen Alten zu allem Überfluss auch noch mit der bedeutungsschweren Frage zurücklässt: „Was zum Teufel war ein generisches Maskulinum?“!)  

 

Die Bösen – der Leser als Detektiv (generisches Maskulinum)

Die Opferrolle ist jedenfalls klar. Wer aber sind die Täter? Es sind zwei Incels, die unter den Decknamen Zeus und Apollon den Marsch der Frauen zur Weltherrschaft aufhalten wollen.

 

Der Spaß am Krimi-Lesen besteht für viele darin, selbst Detektiv zu spielen: sich unter den Romanfiguren Verdächtige auszuwählen, Indizien für ihre Schuld zusammenzutragen und sich am Schluss stolz zu bestätigen: „Hab ich’s doch gewusst“ (oder aber ein verblüfftes: „Ach so!“ auszustoßen). In „Weiberfastnacht“ ist das nicht so ganz klar. Klar ist eigentlich, dass überhaupt nur zwei Personen für „Zeus“ und „Apollon“ in Frage kommen (denn die Rotlichtgröße aus Berlin kann – außer dem übelwollenden Staatsanwalt – nun wirklich keiner verdächtigen). Von den beiden ist der eine eigentlich nicht Teil des Personen-Tableaus, muss vielmehr einigermaßen umständlich durch eine Parallelhandlung eingeführt werden. Der andere dagegen macht sich schon früh dermaßen und im Lauf der Lektüre immer mehr verdächtig, so dass sich jeder einigermaßen routinierte Krimileser sagt: Der kann’s gar nicht sein, so offensichtlich wie der präsentiert wird. Oder vielleicht doch?

 

Diese Ungewissheit, zusammen mit der Angst um Zoés Schicksal, ergänzt um die Neugierde auf Jupps neuen Lebensabschnitt – all das sorgt für ausreichend Spannung, die einem mal wieder kaum erlaubt, das Buch aus der Hand zu legen, bevor man endlich weiß, was Sache ist.

 

Sprache und Stil

Dieses atemlose, Unterbrechungen meidende Lesen wird unterstützt durch die Sprache. Die Autoren haben im Lauf der Jahre zu einem flotten, leserfreundlichen Stil gefunden. Selbst die früher häufigeren Stilblüten muss man mit der Lupe suchen („Die Bitte ihrer Mutter stand wie ein Menetekel in flammender Schrift an der Wand“; „das Trommeln der rasenden Hundepfoten“)

 

Auch die Weitschweifigkeit, die ich bei früheren Bänden schon mal genüsslich seziert habe, hat sich erheblich reduziert. Gut – es hätte genügt, den Polizei-Kollegen von Fölsen nur einmal als „weißhaarigen, braungebrannten Mitsechziger mit dem Habitus eines … Landedelmannes“ zu präsentieren (wobei – wenn wir nun schon mal am Kritteln sind – vermutlich ein Mittsechziger gemeint ist). Und muss die Polizei wirklich noch ausgiebig diskutieren, ob Zoé wohl in Gefahr sein dürfte, nachdem sie seit mehreren Tagen spurlos verschwunden ist?

 

 

Fazit:

Aber was soll’s – vielleicht hätte sich das Buch durch entsprechende Kürzungen um wenige Dutzend Seiten reduzieren lassen. Das soll aber nicht daran hindern, auch im November 2021 das Fazit der Vorjahre zu wiederholen:

 

Wenn Sie noch ein lesenswertes Weihnachtsgeschenk brauchen – schauen Sie im Buchladen Ihres Vertrauens mal nach „Weiberfastnacht“.  

 

 

 

 

Pendragon-Verlag

OWL-Krimi
Band 20
320 S., PB, Euro 13,90
ISBN: 978-3-86532-767-3
Auch als eBook erhältlich.

http://www.pendragon.de/book/weiberfastnacht/