Die Gewalt und die Politik

Landestheater Detmold:

Clockwork Orange

Nach dem Roman von Anthony Burgess

 

Inszenierung:           Peter Lüder

Ausstattung:             Petra Mollerus

Dramaturgie:            Christian Katzschmann

 

 

(G. Wasa  -  Detmold)     -      Burgess’ Roman über Gewaltexzesse minderjähriger Schüler und Heilung durch Gehirnwäsche galt 1962 als negative Utopie. Auch der Kubrick-Film von 1971 wirkt utopisch.  2006 datiert das Landestheater Detmold das Stück „unlängst, jetzt oder in naher Zukunft“. Als das Stück in Detmold ein paar Mal gespielt ist, rütteln Berichte über die Berliner Rütli-Schule die Nation auf. Auch aus dem beschaulichen Ostwestfalen vermeldet die Lokalpresse Gewaltszenen von Schulhöfen.

 

Gewalt allüberall also. Muss sie dann auch noch die Theaterbühnen beherrschen? Fragt zumindest eine Kritiker-Kollegin, die dem Landestheater vorwirft, in dieser Spielzeit dem Gewaltthema zu frönen. Tatsächlich  – schon zur Saisoneröffnung wurde ein Kriegsstück gegeben, mit Vergewaltigung und Massentötungen; als Höhepunkt schlachtet eine religiöse Fanatikerin auf offener Bühne einen um Gnade flehenden jungen Mann brutal ab.

 

Und jetzt auch noch Clockwork Orange, die Geschichte der Jugendlichen, die ihre Tage totschlagen mit Drogenkonsum, mit Einbrüchen und Autodiebstahl, mit Verprügeln von Passanten, mit Gruppenvergewaltigungen und Mord. Allerdings: die Gewaltszenen bilden nur die äußere Schicht dieses komplexen Stücks. Im Kern geht es um die Auseinandersetzung von Freiheit und Ordnung, von liberaler Demokratie und manipulierender Diktatur. Und das Stück verdiente es wahrlich, daraufhin inszeniert zu werden, und könnte dann nicht oft genug gezeigt werden!

 

In Detmold bemüht man sich durchaus, diesen enormen politischen Konflikt zu thematisieren. Leider bleibt man aber dann doch zu sehr dem Gewaltthema verhaftet – was wiederum zur Angst führt, das Publikum zu überfordern. Da wurden die Abonnenten eigens per Brief gewarnt; zur Premiere blieben denn auch manche Stamm-Plätze frei; aber wer trotz Warnung gekommen war, blieb bis zum Schluss und applaudierte dann kräftig. Den ängstlichen Theatermachern ins Stammbuch: Detmold mag Provinz sein, aber auch hier sieht man jeden Abend fern. Und im Gegensatz zur Gewalt im TV-Krimi – zu schweigen von der Tagesschau – bleibt die Gewalt auf der Bühne eben als gespielt erkennbar. Die hier gezeigten Prügelszenen haben kaum jemanden schockiert – im Gegenteil: wenn gegen Ende Alex von seinen Ex-Kumpeln verprügelt wird (erst vom einen, dann vom andern, dann wieder vom einen, und vom andern, und wieder vom einen, und wieder ......) dann entsteht: Langeweile, das Schlimmste, was auf der Bühne produziert werden kann. 

 

Viel schockierender ist da, wie Manfred Baum als Arzt mit professionell-leidenschaftsloser Stimme den Inhalt von Real-Horrorfilmen als Hörbuch vorträgt, während neben ihm der jugendliche Delinquent Alex gefoltert ... äh ... geheilt wird. Viel bemerkenswerter ist, wie sowohl Regierung als auch Opposition skrupellos immer nur das Beste anstreben, und dabei den Täter zum Opfer und das Opfer wieder zum Täter machen. Darüber sollten wir diskutieren, und nicht über ein paar (mag sein: überflüssige) Prügelszenen.

 

Wesentlichen Anteil am Erfolg der Detmolder Inszenierung hat Markus Hottgenroth, der die Stimmungen und Wandlungen des Täters-Opfers-Täters Alex sehr sensibel und mit phänomenaler Eindringlichkeit vorführt. Er beherrscht den Abend – natürlich auch aufgrund der Dominanz seiner Rolle (das ist oft so, wenn man versucht, Romane zu dramatisieren). Aber auch das übrige Ensemble beeindruckt. Zum Beispiel:  Oliver Losehand und Jan Felski als Droogs, Joachim Ruczynski als erst salbungsvoller, dann kritischer Pfarrer, Tina Seydel, die als Vergewaltigungsopfer nichts zu sagen hat und sich nur durch Körpersprache ausdrücken kann, Gaby Blum als überzeugende Innenministerin, Nargis Zünbültas als sexy  Männertraum in Schwesterntracht …

 

Ein Lob auch für die Ausstattung: Kubricks Film hat für viele von uns Bilder geprägt: die Droogs in steril-weißen Overalls, die Räume in einer kalten Zukunfts-Ästhetik. Mollerus’ Bühne überzeugt dagegen durch kahle Hässlichkeit. Am Anfang liegt die ganze Ausstattung auf einem Haufen: Sofas, Stühle, Fernseher ... Wer was braucht, zieht sich’s raus. Und die Bühne wird allmählich zur Sperrmüllkippe. Und die Droogs tragen wieder die originalen „Plattis, die voll im Trend lagen“. Auch dadurch wird das Detmolder Clockwork zur Gegenwartsreportage. Und – um darauf zurückzukommen – da ist Gewalt einfach dabei. Gehört also auch auf die Bühne. Oder sollte man nur noch harmlos-friedliche Klassiker spielen? Wie wär’s mit Shakespeares Hamlet? Oder Schillers „Jungfrau von Orleans“? – Ach so, ja, die gab’s ja schon zur Saisoneröffnung.

                                                                                                          [theater pur   3/2006)

 

Glosse am Rande:

Detmolder Posse?

Offenbar hat das Landestheater Detmold Angst vor der eigenen Courage. Vor der Premiere von „Clockwork Orange“ wurden die Abonnenten per Brief vor dem Stück ausdrücklich gewarnt. Dass der Rezensent sich darüber leicht amüsierte („Ich vermute, ich lach mich halb tot, wenn ich den Brief lese“) kam womöglich nicht so gut an. Jedenfalls löste die Bitte, den Brief mal lesen zu dürfen, ein irritierendes Hin und Her aus. Spontane Reaktion des Oberspielleiters am Premierenabend: „Der kriegt den nicht!“ – Nach einiger Diskussion sagt die Pressereferentin zu: „Sie kriegen ihn!“ – Auf Nachfrage kurz vor Redaktionsschluss dann die offizielle Mitteilung: „In der Dramaturgie wurde beschlossen, den Brief nicht herauszugeben!“ Basta!

 

Aha! Ein Brief, der Hunderten von Abonnenten zugegangen ist, wird einem Kritiker verweigert – einem Kritiker wohlgemerkt, der dem Landestheater bisher immer recht wohl gesonnen war – bis hin zur unprofessionellen Entscheidung, über eine ziemlich missratene „Johanna von Orelans“ lieber gar nichts zu schreiben, als dem neuen Oberspielleiter Everding gleich sein Detmolder Debüt um die Ohren zu hauen.

 

Wäre es erlaubt, den großen Gerhard Quatorze („La liberté de la presse – c’est moi“)  zu parodieren, möchte man barmen: „Das ist ein Eingriff in die Pressefreiheit“. Wären wir hier im Kabarett, könnte man spekulieren: die Theater haben sich neuerdings gegen die Kritiker verschworen, und die Verweigerung sei der kleine aber feine Beitrag des Landestheaters zum nationalen Kritiker-Bashing (auf den Zusammenhang mit Stadelmeier wäre ich allein nicht gekommen, hätte mich nicht Herr Everding bedeutungsvoll nach meinem „Spiralblock“ gefragt).

 

Zumindest sei das Landestheater beglückwünscht: Es ist euch gelungen, einen dieser ungeliebten Kritiker („schlagt ihn tot, den Hund! Er ist ein Rezensent!“) mal so richtig zu irritieren und sogar ein bisschen zu ärgern. Auf der Bühne habt ihr das noch nie geschafft.