Grotesk. Zynisch. Realistisch.

Dürrenmatts alte Dame besucht das Theater Bielefeld

Alle Fotos: Theater Bielefeld

 

„Geld allein macht nicht glücklich“

(Frau Ill, Dürrenmatt: Besuch der alten Dame, III. Akt)

(und viele, viele andere)

 

„Ungeheuer ist viel: Gewaltige Erdbeben ... Kriege ...

Doch nichts ist ungeheurer als die Armut“

(Chor der Güllener, Dürrenmatt: Besuch der alten Dame, III. Akt)

 

 

 

WaSa     -     Bielefeld.     „... eines der größten sozialen Experimente unserer Epoche“ – so nennt es der Radiosprecher in Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“, wenn diese alte Dame ihrem heruntergekommenen Heimatstädtchen eine von ihren drei MIlliarden schenken wIll. In der Bielefelder Bühnen-Fassung ist dieser (mit „gedämpfter“ Stimme sprechende) Reporter zeitgemäß ersetzt durch die lautstarke Moderatorin einer RTL-Show, für welche dieses „Riesen-Event“ gleich hinter „Frauentausch“ und „Bauer sucht Frau“ rangiert. 

Verehrte Damen vom Bielefelder Regieteam – wollten Sie damit klarstellen, auf welchem Niveau Ihre Inszenierung anzusiedeln ist? -  Aber keine Angst, liebes Publikum: Dürrenmatts „tragische Komödie“ ist einfach so unverwüstlich gut, dass der Besuch auf jeden Fall lohnt!


Das Stück

Diese gallenbittere Groteske (Groteske?) zeigt, wie Moral und Kultur hinfällig werden, wenn Reichtum winkt. Nicht umsonst gehört dieses Stück aus der beschaulich-kleinen Schweiz zum Kanon der Weltliteratur – ist es doch eines der wenigen, die tatsächlich „zeitlos“ sind; es wird zumindest so lange zeitgemäß bleiben wie das Sprichwort gilt: „Geld regiert die Welt“ (oder, wie das auf New-Schwyzerdütsch heißt: „In GOLD we trust“)

Die Vorgeschichte:

In der Kleinstadt Güllen hat die 17jährige Klara Wäscher ein leidenschaftliches Verhältnis mit dem wenig älteren Alfred Ill. Doch als sie schwanger wird, heiratet der lieber die Erbin des gewinnträchtigen Kramladens. „Mit einem Liter Schnaps“ besticht er zwei Freunde, vor Gericht einen Meineid zu schwören, wonach auch sie mit Klara geschlafen haben und somit als Väter des Kindes in Frage kämen. Klaras Vaterschaftsklage gegen Alfred wird daher abgewiesen; das Urteil „macht sie zur Hure“ – die sie dann, nachdem sie Güllen in Schande verlassen hat, auch tatsächlich wird. Doch der Ölmagnat Zachanassian (= Zaharoff + Onassis + Gulbenkian = zur Entstehungszeit des Stücks bekannte MIlliardäre) heiratet die attraktive Rothaarige; und ab da sammelt Claire Zachanassian weitere Ehemänner und weitere MIlliarden. Die beiden falschen Zeugen lässt sie (in Kanada und Australien) aufspüren, lässt sie blenden und kastrieren und hält sie sich als bizarre Maskottchen, ebenso wie einen schwarzen Panther – „schwarzer Panther“ war früher ihr Kosename für Alfred. Dann kauft sie ihre ehemalige Heimatstadt systematisch auf: vom rohstoffreichen Grund und Boden über den Güllener Oberrichter, den sie zu ihrem Butler macht, bis hin zu all den rentablen Industriebetrieben, die sie gezielt pleite gehen lässt. Güllen fällt ins Elend und lebt nur noch in der Hoffnung auf ein mIllionenschweres Almosen der früheren Mitbürgerin.

 

 

Hier setzt das Stück ein:

Claire kommt tatsächlich nach Güllen; stellt tatsächlich eine MIlliarde in Aussicht – aber nur als Lohn der Gerechtigkeit: Jemand muss dafür Alfred Ill töten – eine Forderung, die von allen mit (ehrlicher!) Empörung zurückgewiesen wird! Aber die Stadt ist infiziert mit dem Virus der Begehrlichkeit; die Bevölkerung träumt von Reichtum und Luxus – und konsumiert schon mal. Auf Pump. Jetzt entfaltet sich das große Thema dieser zynisch-lebensklugen Komödie: Wie passt sich die Moral den Verhältnissen an? Das zeigt man vor allem am Beispiel des Lehrers, der sich – sozusagen „das Land der Griechen mit der Seele suchend“ - als klassischen Humanisten stilisiert. Am Anfang ist er – wie alle – entrüstet über Claires barbarisches Angebot; irgendwann muss er erkennen: „Wir sind nur Menschen. ... Die schändliche MIlliarde brennt in unseren Herzen.“ Und am Ende hält er – fast schon in einer Sportpalast-Atmosphäre – ein leidenschaftliches Plädoyer für „die Gerechtigkeit“ – die Gerechtigkeit der Claire Zachanassian. In einer feierlichen Erklärung (die in Pathos und äußerer Form eine Parodie auf den Rütli-Schwur sein könnte!) wird Ill schuldig gesprochen. Das Urteil wird vollstreckt. Der MIlliarden-Scheck wird überreicht. Claire entschwindet. Mission accomplished!

 

Soweit die Vorlage. Aber was bleibt davon in Bielefeld übrig?

Die Inszenierung - das Problem mit dem Personalmangel

Vorab sei den Macherinnen der Bielefelder Inszenierung eines zugute gehalten: Selbst wenn sie eine „textgetreue“ Umsetzung gewollt hätten (was ihnen keinesfalls unterstellt werden soll!) – es wäre ihnen wohl unmöglich gewesen! Dürrenmatts Text sieht nämlich 34 Personen vor (plus gemischerter Chor, plus Kinder, plus ...). Aber wie soll ein sparzwang-geplagtes Stadt-Theater das schaffen? So stehen im Bielefelder Programmheft gerade noch 12 Rollen. Dass die „Sonstigen“, die  Nebenpersonen ganz entfallen, mag für den Gang der Handlung unschädlich sein. Aber natürlich zeigt etwa der „Pfändungsbeamte“, welche Atmosphäre des Niedergangs in Güllen herrscht. - Freilich ist anzunehmen, dass eine heutige MultimIlliardärin nicht im D-Zug anreist, sondern im Privat-Helikopter einschwebt (hübsch gemacht, übrigens, mit einem kreisenden Modellhubschrauber). Aber mit dem gesamten Bahnpersonal ist eben auch die Möglichkeit gestrichen, Claire als einen Charakter einzuführen, der sich gewohnheitsmäßig-bedenkenlos-egoistisch („Ich ziehe immer die Notbremse“, wenn ich aussteigen wIll) über geheiligte Grundsätze des Gemeinwesens  hinwegsetzt: „Die Notbremse zieht man nie in diesem Lande, auch wenn man in Not ist. Die Pünktlichkeit des Fahrplans ist oberstes Prinzip“. (In der Schweiz gilt das auch heute noch – was man für verspätungsgewöhnte deutsche Bahnfahrer vielleicht extra erwähnen muss).

Und natürlich spielt es für die Charakterisierung der Hauptperson eine Rolle, wenn ihre gesamte bizzare Entourage gestrichen ist (neben den bereits erwähnten kastrierten Zeugen und dem Oberrichter-Butler sind das – unter anderem – Clares Ehemänner Nr. XII – IX).

 



Sie alle werden in Bielefeld ersetzt durch eine attraktive junge Frau, die im Programmheft „der Panther“ genannt wird, die allerdings auch noch da ist, wenn Claires „schwarzer Panther“ bereits erschossen ist. Zwischendurch spricht sie mal Dürrenmatts Bühnenbild-Anweisungen, mal beklagt sie anstelle des Gatten Nr. VIII die Kleinstadttrübsal oder verkündet moralisch-philosophische Erkenntnisse: „Es fehlt die sittliche Bestimmung einer großen Zeit“.

 

Am Ende überlegt man sich, ob sie womöglich die – angeblich tote – Tochter von Claire und Ill sein könnte (immerhin wird sie von derselben Darstellerin verkörpert wie Ills eheliche Tochter).

Auch Güllens Bürgerschaft ist radikal – von 17 auf 8 – zusammengeschrumpft. Das macht es schwierig, die gruppendynamischen Prozesse auf die Bühne zu bringen, die zum Stimmungswandel in der Bevölkerung führen. So muss auch Ills Familie an der Gemeindeversammlung teilnehmen, die zu dessen Tribunal wird – Dürrenmatt hatte sie währenddessen in die Nachbarstadt ins Kino geschickt.

 

In einer Schlüsselszene des Stücks fangen die Güllener Bürger an, in Ills Laden Luxusgüter zu kaufen – auf Pump, also offensichtlich in Erwartung künftigen Reichtums. In Bielefeld muss der Darsteller des Ill alle diese Kunden gleich mitspielen – was ein so toller Schauspieler wie Thomas Wolff natürlich bravourös meistert. Und doch wirkt das unvollkommen, provisorisch ...


Viele Regieeinfälle – aber die richtigen?

Dieses „und doch“ soll nicht das einzige bleiben! Den Personalmangel hätte man durch ein gutes Regie-Konzept ausgleichen müssen. Nun gibt es tatsächlich eine Fülle von Regieeinfällen. Zum Beispiel hat der Lehrer ein Techtelmechtel mit Ills Tochter. Schön! Aber was bringt’s? Das wieder aufstrebende Güllen wirbt mit einem professionell gemachten Video um Investoren. – Szenenapplaus! Aber was bringt’s? Der Polizist kommt auf einem Segway angerollt. Hübsche Aktualisierung – aber was bringt’s? Auf den Begrüßungs-Chor antwortet Claire mit einem Marianne-Rosenberg-Song:

 

Ich hab' auf Liebe gesetzt ...
Die Chance steht hundert zu eins                                                    

daß du nicht bist, was ich in dir seh' ...“

 

Zugegeben: dass passt punktgenau auf Claire; aber es hält den Handlungsfluss auf, und am Ende fehlt dann die Zeit zum Beispiel für die pathetisch-moralinsaure Gerechtigkeits-Eloge der Gemeindeversammlung (die Dürrenmatt eigentlich sogar zweimal deklamieren lassen wollte).

 

Manches ist einfach nur ärgerlich: das hampelmännische Verhalten des Pfarrers mit einer bemühten Ballett-Einlage zum Beispiel; alberne Wiederholungen (nur weil ein Güllener angeblich das Wort „Spital“ nicht versteht, muss ein Satz gefühlte acht Mal wiederholt werden); oder ein abgehacktes Sprechen mit unlogischen, unorganischen Pausen („vorzu .... schlagen“). Aber das halten auch die Darsteller nicht lange durch; nach einer Viertelstunde ist erfreulicherweise Schluss damit.

Bühnenbild und Illusion

Interessanterweise hat Dürrenmatt zwei Arten von Bühnenbild-Anweisungen verwendet: für die Gegenwart sind quasi-realistische Kulissen vorgesehen („links eine Leiter, ferner Heuwagen, Stroh, vermoderte Säcke, riesige Spinnweben“); für die erinnerungsseligen Rückblicke wird eine Illusionistische Szenerie gestaltet (Dürrenmatt arbeitete gern mit Brecht‘schen Verfremdungseffekten, auch wenn er es hasste, mit Brecht verglichen zu werden): die Güllener Bürger spielen den Wald:  „Wir sind Fichten, Föhren, Buchen, Fliegenpilze, scheue Rehe ...“

 

Natürlich sind die „realistischen“ Kulissen in Bielefeld stark abstrahiert: Am Anfang blicken wir auf eine große, kahle, graue Wand. Als die verschwindet, sieht man eine schmale, rundumlaufende Rampe. Dazwischen ist die Bühne abgesenkt. Ein Abgrund? Aus der Vertiefung erhebt sich eine Art Bauwerk, dessen oberste Ebene den Hotelbalkon darstellt, auf dem Claire auf die Erfüllung ihres Auftrags wartet. Darunter befindet sich mal Ills Laden, mal das Bürgermeisterbüro. Einen ersten Eindruck vom desolaten Zustand des Ortes vermittelt ein handgemaltes „Güllen“-Schild, und mehr noch: der Müllhaufen davor (der übrigens mit dem Aufblühen Güllens nicht verschwindet, sondern mit steigendem Wohlstand eher noch größer wird)  – alles in allem ganz gut gemacht!

Zu einem Highlight der Bielefelder Inszenierung wird dann, wie die Güllener Bürger den Wald spielen: mit flatternden Insekten und hüpfendem Frosch; selbst die verdruckste Frau Ill (wie schafft es die schöne, ausdrucksstarke Carmen Priego nur, eine derart unscheinbar-hässliche Unperson auf die Bühne zu bringen?!)  wird da zum lebhaften Vogel. Ein herrliches Spektakel!  – Warum nur muss man in Bielefeld dann noch einen draufsetzen und dieses Spiel im Spiel ausdrücklich zu einem solchen erklären („Das habt ihr schön gespielt“)??
  

Ein Detail am Rande:

Dass in dieser Szene des - eigentlich doch schweizer - Stückes auch von einer „deutschen Baumgruppe“ (und vorher schon von „echter deutscher Wurzelwildnis“) die Rede ist, wirft die Frage nach Dürrenmatts Verhältnis zur deutschen Vergangenheit auf. Immerhin war er 1941 Mitglied einer rechtsnationalen „Fröntler-Vereinigung“ , was er später zu relativieren suchte. Aber warum hat er im Jahr 1955 die wohl noch nicht 10jährigen Enkelinnen  des Bürgermeisters (in Bielefeld gestrichen) ausgerechnet Hermine und Adolfine genannt?!

Wo bleibt das Positive?

Wenig Lob, viel Kritik, bisher, zugegeben. – Was mir gut gefallen hat, ist die zeitliche Raffung: In Dürrenmatts Original vergehen von Klaras Abreise in Schande bis zu Claires triumphaler Wiederkehr 45 lange Jahre. In dieser Zeit ist Ill „fett geworden. Und alt und versoffen“. Und Claire setzt sich nach Unfällen und Amputationen zu einem guten Teil aus Prothesen zusammen. In Bielefeld wird diese Zeitspanne auf 20 Jahre verkürzt. Entsprechend jünger sind die Protagonisten. Der Bürgermeister beispielsweise ist nicht Großvater, sondern junger Vater eines Säuglings, den er dauernd im Tragetuch mit sich herumträgt (dabei beweist Anton Pleva soviel fürsorgliche Sorgfalt, dass man zwischendurch glauben möchte, das Baby sei echt und sich fragt, warum das Theater nicht wenigstens für die Premiere einen Babysitter besorgen konnte).

 

Die Hauptpersonen sind jetzt in ihren besten Jahren: Christina Huckle macht aus Claire eine attraktive 37jährige Frau, die ihr orthopädisches Korsett wohl nur zur Show trägt. Und Thomas Wolff muss zwar (wieso eigentlich?) im Outfit eines Spät-Hippies herumlaufen, doch glaubt man ihm auch so, dass er durchaus geneigt und in der Lage wäre, die obsessiv-erotische Romanze von damals wieder aufleben zu lassen.

So erhält das Verhältnis der beiden noch deutlich mehr Spannung als es in der Vorlage ohnehin schon hat. (Der krittelnde Geist möchte natürlich darauf hinweisen, dass es heute vor 20 Jahren keine Vaterschaftsprozesse mehr gab, in denen man die Klägerin mit meineidigen Zeugen „zur Hure machen“ konnte – aber lassen wir das; eigentlich wollte ich ja zum Schluss hin nur noch loben ...).

Der Schluss. - Was für ein Schluss?

Apropos Schluss: In Bielefeld hat man sich dann doch nicht getraut, den Mord zu zeigen (der auch bei Dürrenmatt unsichtbar bleibt, hinter einem „Menschenknäuel“ verborgen). Hier fällt Ill einfach um. Warum das denn? Herzschlag aus Angst vor dem Tod? Gebrochenes Herz aus Scham oder Reue? Heimlicher Selbstmord zum Wohle Güllens? Oder was?

 

Aber vielleicht erübrigen sich diese Fragen ja. Denn es folgt noch eine überraschende Wendung. Die kann hier natürlich – wenn’s eine Überraschung bleiben soll – nicht verraten werden. Nur die Frage sei gestattet: Hat Claire vielleicht die ganze Güllener Bürgerschaft (und damit auch das Bielefelder Publikum) schlicht verarscht?

 

Womöglich haben wir ja eine ganz andere Geschichte gesehen, als wir – aus Vorkenntnis von Dürrenmatts Text – erwartet hatten. Da würde dann auch die „Panther“ genannte Tochter gut dazu passen.

 

Der Besuch der alten Dame

Eine tragische Komödie von Friedrich Dürrenmann

Inszenierung: Mareike Mikat
Bühne: Simone Manthey
Kostüme: Katharina Müller
Dramaturgie: Viktoria Göke


Claire Zachanassian:  Christina Huckle
Der Panther:   Isabell Giebeler
Alfred Ill:   Thomas Wolff
Seine Frau:  Carmen Priego
Seine Tochter: Isabell Giebeler
Sein Sohn:  Janco Lamprecht
Der Bürgermeister:  Anton Pleva
Der Pfarrer:  Stefan Imholz
Der Lehrer:   Lukas Graser
Der Polizist:  Oliver Baierl
Pressefrau:   Judith Patzelt
Pressemann:    Georg Böhm

Nächste Termine:

Fr. 19.09.2014 um 20:00 Uhr

Sa. 20.09.2014 um 19:30 Uhr

Di. 23.09.2014 um 20:00 Uhr

So. 28.09.2014 um 15:00 Uhr

Mo. 29.09.2014 um 10:00 Uhr    Schulvorstellung

Mi. 01.10.2014 um 20:00 Uhr

Sa. 11.10.2014 um 19:30 Uhr

Mi. 15.10.2014 um 20:00 Uhr

Di. 21.10.2014 um 20:00 Uhr

Sa. 25.10.2014 um 19:30 Uhr

Di. 04.11.2014 um 20:00 Uhr

So. 09.11.2014 um 19:30 Uhr

So. 07.12.2014 um 20:00 Uhr

Do. 11.12.2014 um 20:00 Uhr

Do. 08.01.2015 um 20:00 Uhr

Mi. 14.01.2015 um 20:00 Uhr

So. 18.01.2015 um 19:30 Uhr

Do. 22.01.2015 um 20:00 Uhr