Wahlverwandte im Zeitalter der Kommunikations-Satelliten
"Wir lieben und wissen nichts" -
Moritz Rinkes neues Stück am Bielefelder TAM
WaSa – Bielefeld. Das vielleicht bezauberndste Sprachkunstwerk des großen Goethe sind die „Wahlverwandtschaften“: die Geschichte eines Paares, das selbstzufrieden seinen Interessen nachgeht – bis die beiden einen weiteren Mann, eine weitere Frau in ihren Haushalt aufnehmen und sich dann auch bald in die anderen verlieben. Angesichts der damaligen Moralvorstellungen musste Goethes Geschichte tragisch enden. Doch das Sujet der zwei Paare hat sich bis heute als literarisch fruchtbar erwiesen und ist angesichts der dramaturgischen Möglichkeiten, die eine solche Viererbeziehung bietet, vor allem auf der Theaterbühne eine beliebte Konstellation, von Albee bis Yasmina Reza.
Den 1967 in Worpswede geborenen Moritz Rinke als den „Goethe unserer Zeit“ zu bezeichnen, wäre wohl doch (noch) etwas hoch gegriffen. Jedoch darf man ihn gewisslich einen der bedeutendsten und fähigsten Dramatiker der Gegenwart nennen. Er weiß sich auszudrücken: seine Sprache ist klar, differenziert und farbig. Seine Stücke bieten nicht nur einen roten Faden, einen nacherzählbaren Inhalt (was heutzutage ja schon etwas Besonderes ist), sie erfüllen sogar die klassische Bedingung der Einheit von Zeit, Raum und Handlung. Und sind dabei keineswegs verstaubt – im Gegenteil: ihr größter Vorzug ist, dass sie drängende Probleme unserer Zeit behandeln, und zwar nicht ideologisch, sondern spannend, nicht pädagogisch, sondern amüsant. Seine „Republik Vineta“ (2000) war überhaupt eines der ersten Stücke, das ein Thema aus dem aktuellen Wirtschaftsleben anschaulich auf die Bühnen der deutschen Theater gebracht hat – auch in Bielefeld, unter der Regie des damaligen Schauspieldirektors Michael Heicks. Später, als Intendant, inszenierte Heicks Rinkes Arbeitslosenstück „Café Umberto“.
Und jetzt also „Wir lieben und wissen nichts“. Diesen recht sperrigen Titel trägt Moritz Rinkes jüngstes Stück, Ende 2012 mit großen Erfolg in Frankfurt uraufgeführt und bereits auf den Spielplänen eines halben Dutzend weiterer Bühnen.
Zum Inhalt: Hannah und Sebastian kennen sich seit dem Studium. Damals wollten sie die Welt verbessern; und der Kulturwissenschaftler Sebastian verweigert sich bis heute der globalisierten, wirtschafts- und kommunikationsorientierten Gegenwart, schreibt stattdessen kleine Artikel über Katzen in der Kunstgeschichte und über Orgien im Vatikan. DAS große Werk will er gleich nächste Woche beginnen – und das seit Jahren. Hannah dagegen nutzt ihre Fähigkeiten und Kenntnisse in der fernöstlichen Meditations- und Lebenskunst Zen, um üppig Geld zu verdienen. Spätestens die Tatsache, dass sie sogar Finanzkapitalisten mit Zentechniken zu noch mehr Erfolg verhilft, sieht der empörte Sebastian als Verrat an allem, was ihnen je heilig war. Jetzt soll er Hannah ins „dekadente“ Zürich begleiten, wo sie in zwei Monaten ein Jahresgehalt verdienen wird, indem sie mittels Zen-Atmung den dortigen aggressiven Bankern auch noch die Fähigkeiten von Samurai-Schwertkämpfern beibringt (so Sebastian, der ihr vorwirft: „Du trittst den Buddhismus mit Füßen“). Jetzt streikt Sebastian. Er will in seiner (in Hannahs!) Wohnung bleiben, in der vertrauten Umgebung, mit den vertrauten Geräuschen und vor allem den vertrauten Büchern.
Dabei steht bereits das Paar aus Zürich vor der Tür, mit dem Hannah für die zwei Monate die Wohnung tauscht: Roman, der tüchtige Ingenieur, der Kommunikationssatelliten ins All schießt und deshalb dringend W-Lan braucht, um den bevorstehenden Start live miterleben zu können. Und seine Frau: Magdalena arbeitet aushilfsweise in einer Tiertherapie-Praxis und hat schon mal ein Pferd von Schockemöhle behandelt. Ihre Liebe gehört aber den Bonobos, den kleinen Schimpansen, die zwischenäffische Probleme am liebsten dadurch lösen, dass sie sie einfach wegvögeln. Damit hat sie schon mal eine gemeinsame Basis mit Sebastian, der für die Sekte der Adamiten schwärmt, die öffentliche Nacktheit propagieren und alles teilen, auch die Frauen (und, wie Sebastian auf Magdalenas Nachfrage bestätigt: auch die Männer). Eine weitere Gemeinsamkeit ist ihr Sinn für Sprache: Sebastian kann sich darüber echauffieren, dass Roman „die Formulierung ‚im Endeffekt‘ benutzt“; Magdalena begeistert sich: „Ich finde das Wort ‚hochherzig‘ so schön“. Auf der andern Seite verstehen sich die Erfolgsfrau Hannah und der Macher Roman – offenbar sind sie sich schon bei der ersten gemeinsamen Fahrstuhl-Fahrt ziemlich nahe gekommen ...
Um so schärfer zeichnen sich die Gegensätze innerhalb der Paare ab. Ein typischer Dialog: Magdalena versucht, die Arbeit ihres Mannes zu erklären: „ein Satellit redet mit dem anderen“; der fährt
ihr verächtlich über den Mund: „Satelliten reden nicht, sie übergeben Datenpakete“. Das zeigt sein Verständnis von Kommunikation. Er begeistert sich daran, dass die Hälfte der Weltbevölkerung
vernetzt ist und sieht kein höheres Ziel, als mit seinen Satelliten auch noch die andere Hälfte (die Amazonas-Indianer und die Menschen im innersten Afrika) zu verbinden. Und wenn ihm seine Frau
vorwirft: „Du bringst die ganze Welt in Kontakt – nur uns nicht“, dann hält er seine Antwort wirklich für einen Trost: „Wenn wir nicht reden, trennen wir uns auch nicht - das ist doch auch
schön“. Den Vorwurf, dass Roman nicht nur in der Liebe, sondern selbst beim Sex auf Distanz achtet, kleidet Magdalena in die schöne Formulierung vom „romanischen Abstands-Ständer“.
So brennt also Rinke in der bewährten Vierer-Konstellation ein wahres Feuerwerk ab: an Wortwitz, an Situationskomik, vor allem aber an Zeit- und Zivilisationskritik. Allenfalls könnte man eine
gewisse Überfrachtung des Stücks mit allzu vielen Themen kritisieren: den Aufwand, der um einen vorsintflutlichen Entsafter betrieben wird; das Verhältnis, das Hannah einst hatte und wiederaufleben
lassen möchte ... Aber all das passt schließlich noch gut in den angenehmen zeitlichen Rahmen von 1 Stunde und 45 Minuten – und ehrlich: keine Minute davon war langweilig!
Denn Heicks‘ Bielefelder Inszenierung setzt Rinkes Sprachkunstwerk kongenial in Szene. Auch der zur Premiere angereiste Autor schien angetan. Timo Dentler und Okarina Peter verleihen dem Geschehen
den passenden Rahmen: eine riesige weiße Regalwand – ausgeräumt, bis auf ein paar verbliebene Bücher – beherrscht die Bühne, die ansonsten fast leer ist. Da wird selbst das Herbeibringen eines
zweiten Stuhles zum Akt. Erst Roman füllt dann die Bühne mit seinem Computer-/Beamer-Equippement – und vor allem mit seiner raumgreifenden Persönlichkeit.
In diesem Ambiente findet Heicks immer wieder beeindruckende Bilder: gerne auch mal durch Rückgriff auf archaische Muster: sie reicht ihm einen Apfel ... Roman und Magdalena tanzen „somewhere over
the rainbow“ eine körperbetonte Rumba ,,, als Romans Satellit gestartet ist, überträgt der Beamer plötzlich eine chaotisch anmutende Folge von Videosequenzen: etwa den im Weltall rotierenden
Knochen aus der Eingangsszene von Kubricks „2001 – Odyssee im Weltraum“ (viel mehr ist leider nicht zu erkennen, da die Regalwand nun wahrlich keine ideale Projektionsfläche bildet!).
Dafür entschädigen die Schauspieler, denen Rinke reichlich Gelegenheit zu brillieren gibt: Thomas Wehling als weltfremd-empfindlicher Wissenschaftler, Christina Huckle als zupackende (und
–greifende) Powerfrau. Carmen Priego, die zuletzt als doppelte(r) energische(r) Kriegstreiber(in) überzeugt hat (-> „Schroffenstein“), schlüpft nun gekonnt in die
Rolle des hübsch-verhuschten Heimchens mit Alkoholproblem (Hannahs edlen Champagner kippt sie, als ob es ordinärer Prosecco wäre). Und Thomas Wolff glänzt als Alpha-Macho, als Macher der schönen
neuen Welt, als Arbeitsnomade aus Überzeugung, der denn auch das Nicht-Zurkenntnisnehmen-Müssen seiner Kündigung mit allen Mitteln – bis hin zum Schusswaffengebrauch – verteidigt. Am Schluss rotiert
er, wie zuvor Kubricks Knochen, mit seinen Satelliten um die Welt – nochmal ein starkes, wenn auch surrealistisches Bild.
Das Premierenpublikum spendete den Darstellern, den Machern und dem Autor den verdienten begeisterten Beifall.
Stadttheater Bielefeld / Theater am Alten Markt:
Wir lieben und wissen nichts von Moritz Rinke
Inszenzierung: Michael Heicks
Ausstattung: Timo Dentler, Okarina Peter
Video: Konrad Kästner
Dramaturgie: Viktoria Göke
Hannah: Christina Huckle
Sebastian, ihr Freund: Thomas Wehling
Roman: Thomas Wolff
Magdalena, seine Frau: Carmen Priego
Termine:
Mi. 20.02.2013 um 20:00 Uhr
Do. 21.02.2013 um 20:00 Uhr
Sa. 23.02.2013 um 19:30 Uhr geschlossene Veranstaltung
Sa. 02.03.2013 um 19:30 Uhr
Mi. 06.03.2013 um 20:00 Uhr
Do. 07.03.2013 um 20:00 Uhr Schauspiel für Blinde und Sehbehinderte (Anmeldung erforderlich)
Sa. 23.03.2013 um 19:30 Uhr