Ich, Terrorist

„Ich rufe meine Brüder“: Intensives Kammerspiel im Bielefelder TAM-2

C. Cavatore (Amor), F.. Spielberger - Inszenierungsfotos: Philipp Ottendörfer, Theater Bielefeld

„Gehen 90 Deutsche und

ein Araber in einen Raum,
wer hat mehr Angst?“

(Motto der Bremer „Brüder“-Inszenierung)

 

„Wir sind der Meinung, dass alle

als einzigartige Individuen

respektiert werden müssen,
unabhängig davon, ob sie
vier Beine oder einen Pelz haben.“

(Karolina)

g.WaSa     -     Bielefeld     -     Stell dir vor, du bist ein ganz normaler Deutscher. So wie Millionen andere. . Schon deine Mutter war eine Deutsche wie Millionen andere. Du bist deutschsprachig aufgewachsen; seit deutschen Kindergartentagen hast du eine deutsche Freundin, in die du bis heute verliebt bist, auch wenn sie längst mit einem anderen Kinder hat. Du hast Abitur gemacht, wie Millionen andere junge Deutsche, ein Studium begonnen.

C. Cavatore (Amor), G. Schikore (Shavi) - Inszenierungsfotos: Philipp Ottendörfer, Theater Bielefeld

Du trägst einen Bart, einen nicht gerade alltäglichen Vornamen, gelegentlich einen Rucksack – so wie Hundertausende andere Deutsche  …  Manchmal fährst du U-Bahn;  hin und wieder gehst du tanzen – dann wird’s schon mal spät, so wie bei Millionen anderen Deutschen. Du hast einen Kumpel, früher wart ihr sehr eng, aber seit er Vater eines Babys ist und kein anderes Thema mehr kennt, nervt er dich mit seinen begeisterten Berichten, dass „die Kleine“ zum ersten Mal Banane gegessen habe … und du ignorierst seine dauernden Anrufe immer öfters, weil du nicht auch noch hören willst, dass die Kleine die Bananen wieder ausgespuckt habe …. genauso wenig, wie Millionen andere Deutsche das hören wollen  …

 

Stell dir vor, deine deutsche Mutter hat sich als Vater für dich einen Tunesier ausgesucht. Stell dir vor, deine Haut ist dunkler als die von Millionen anderen Deutschen, deine Augen und Haare schwärzer. Dein Bart sieht dann aus wie der Bart eines Islamisten. Dein Vorname „Amor“ ist exotisch. Dein Rucksack ist geeignet, eine Bombe zu transportieren …

 

Stell dir vor, eines Nachts gehen in der Innenstadt zwei Autobomben hoch. Während DU in der Innenstadt bist, mitten in der Nacht, tanzen. Zur Tatzeit nimmst du Anrufe deines Freundes nicht entgegen … Stell dir vor, ein Verdächtiger wird beschrieben: dunkle Haut, schwarze Haare, Bart, großer Rucksack …

Jonas Hassen Khemiri - Foto: Rowohlt-Theaterverlag

Die ersten zwei Absätze passen ganz gut auf den 1978 in Stockholm geborenen Jonas Hassen Khemiri; man muss lediglich „deutsch“ durch „schwedisch“ ersetzen. Als 2010 die Stockholmer Innenstadt durch zwei Bomben erschüttert wird, macht sich Khemiri so seine Gedanken, schreibt sie auf, in Form eines Stücks, das zurzeit landauf – landab in deutschen Theatern gespielt wird: Hamburg, Bremen, Essen, Frankfurt … jetzt also auch in Bielefeld.  

 

Nein, dieses Stück erzählt keineswegs stringent die Geschichte eines jungen Mannes, der unter seinem „Migrationshintergrund“ leidet, gar daran zugrunde ginge. Es beschreibt einfach das ereignisarme Leben Amors, der allein in der Disco vor sich hin tanzt, dessen soziale Kontakte ausschließlich über’s Handy laufen. In fünf Episoden – sprich: Telefongesprächen – lernen wir seine wichtigsten Bezugspersonen kennen:

Da ist zunächst sein alter Kumpel Shavi, jetzt hauptberuflich Vater eines Babys. - Amors Cousine Ahlem, die früher der Schrecken des Kiezes war, inzwischen aber mit klugen Sprüchen aus „Wischi-Waschi-Selbsthilfebüchern“ nervt, lebt jetzt wieder „da unten“ - das könnte von Bielefeld aus gesehen Bayern sein. Oder Griechenland. Oder Tunesien. An Tunesien denkt nur, wer die Biografie des Autors kennt; die paar Brocken „tunesisches Arabisch“, die Khemiri im Telefonat mit der Cousine versteckt hat („Höflichkeitsfloskeln“), sind in Bielefeld auch noch gestrichen. - Und irgendwo gibt’s die alte Liebe Valeria – aber in Bielefeld ist gerade jene Episode gestrichen, in der Amor sich mal aufrafft, ein Auto leiht und zu ihr fährt, um sie persönlich zu sehen, womöglich gar ein neues Leben mit ihr zu beginnen. - Dann noch: Karolina (wenn sie denn so heißt); Was will denn die hier? fragt man sich; einfach nur Amor für den Tierschutzverein werben? - Und schließlich die tote Oma, die Urlaub aus dem Jenseits kriegt, wenn sie „von ihrem Enkelkind gebraucht wird“.  

 

All diese Telefonate könnten Millionen junge Deutsche (oder Schweden) genauso führen. Amor bleibt unauffällig. Ein kleiner Hinweis auf einen arabischen Hintergrund ist, dass er jemanden, der „einer von uns“ ist (sein könnte), mit „Bruda“ anredet. Erst nach dem Bombenanschlag wird er von zwei „Überwachern“ beobachtet – aber womöglich redet er sich das auch nur ein. Denn viele seiner Probleme „spielen sich nur in meinem Kopf ab“, nur in seiner Einbildung: „zwei blonde Kinder, sie lachten, aber tief im Innern hatten sie Angst“; wenn Polizisten vor einem schwarzhaarigen Fremden („mein Bruder“) stehen, dann muss es sich da um einen fremdenfeindlichen Übergriff handeln („sie sollten ihn abschieben, ihn abknallen“) – in Wirklichkeit erklären sie ihm nur den Weg zur Autobahn.

Es gibt allerdings Erinnerungen: an die kleinen gemeinen Gehässigkeiten: der Bademeister nennt den Platz, an dem Amor im Freibad sitzt: „Affenfelsen“ (was in Bielefeld gestrichen ist), aber auch an brutale Übergriffe: Erinnerungen „an den Polizisten, der auf Houdas Cousin losgegangen war, die Wachmänner, die Nasims Schienbein gebrochen hatten und ihn dann wegen Gewalt gegen Beamte angeklagt haben“).  Und es gibt (daraus resultierende?) exzessive Gewaltphantasien („ich werde euch häuten wie Katzen, euch zertreten wie Kakerlaken …“).  Andererseits ist da das Bestreben, nicht aufzufallen, der bessere Schwede / Deutsche zu sein: Amor macht ein ziemlich gutes Abitur; nicht mal ein winziges Etikett lässt er einfach auf die Straße fallen, sondern trägt es solange mit sich rum, bis er endlich einen Papierkorb findet („ich versuchte, es so natürlich zu machen, damit die Leute sich erinnern … Das ist nicht so einer“).

 

Sein Problem: Er selbst weiß / glaubt eben doch, „so einer“ zu sein. Vor allem in den „Zwischenspielen“, zwischen den einzelnen Episoden: die (imaginierten?) Gespräche mit seinen „Brüdern“ entwickeln sich von Warnung und Beruhigung („Bleibt zu Hause … Wir sind unschuldig“) über die Aufforderung, offensiv aber unauffällig zu sein („Verlasst eure Wohnungen … Das Ziel ist, zu verschmelzen, unsichtbar zu sein“) bis zur aggressiven Abgrenzung („Besetzt Kaufhäuser … Wir sind nicht wie sie“).

 

Und endlich ist er es selbst, der an seiner Unschuld zweifelt:  

Ich muss es gewesen sein. Alles deutet darauf hin. Ich war’s. - Du warst es aber nicht. - Es kommt mir aber so vor, als ob ich es war.“

 

 

So manches an dem Stück bleibt rätselhaft. Den Sinn des letzten Gesprächs mit Shavi (eine Panikattacke??) hat keiner von den drei Zuschauern verstanden, die ich danach gefragt habe. Und warum sind in Bielefeld von den wenigen Kürzungen gerade Stellen betroffen, die der Charakterisierung von Personen oder Situationen dienen?

 

Aber sei’s drum! Insgesamt erleben wir ein intensives, herausforderndes Stück Biografie eines Menschen, der so ist wie du und ich – oder doch ganz anders?

Die TAM-2-Bühne ist dafür ideal: ein kleines Podium, umgeben von nur zwei Sitzreihen rundum; man ist buchstäblich auf Tuchfühlung mit den Darstellern, die denn auch immer wieder einzelne Zuschauer direkt ansprechen (auch wenn sie eigentlich ihre Mitspieler meinen). Und diese Darsteller machen ihre Sache hervorragend: Felicia Spielberger für alle weiblichen Rollen und Guido Schikore für alle männlichen neben dem Hauptdarsteller. Letzterer scheint wie geschaffen für die Rolle des Amor, auch wenn (oder: weil?) man seinen Migrationshintergrund lediglich an seinem Namen ablesen kann: Cédric Cavatore – „Mama Deutsche, Papa Franzose mit italienischen Vorfahren“, wie er selbst im Wir sind viele“-Blog des Bielefelder Theaters mitteilt. Dort berichtet er auch von seinem „Unmut“, seiner „Wut“, wenn jemand seinen Namen nicht richtig aussprechen kann, es nicht einmal versucht. – „Mein Gott, Junge“, möchte man da sagen, „Deine Luxusprobleme – so mancher Syrienflüchtling oder Asylbewerber aus Eritrea hätte die gerne, gewiss auch mancher ‚echte‘ Deutsche vom unteren Rand der Gesellschaft …“.

 

Vielleicht hat ihm ja dieses „Problem“ geholfen, die Rolle des Amor derart überzeugend und anrührend zu gestalten? Ich vermute den Grund dafür allerdings eher darin, dass er einfach ein verdammt guter Schauspieler ist.   

 

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Theater Bielefeld - TAMzwei

Ich rufe meine Brüder

Von Jonas Hassen Khemiri

Deutsch von Jana Hallberg

 

 

Inszenierung:        Dirk Schirdewahn

Ausstattung:         Lorena Díaz Stephens, Jan Hendrik Neidert

Dramaturgie:         Katrin Enders

 

Amor:                     Cédric Cavatore

Shavi u. a.:             Guido Schikore

Valeria u.a.:            Felicia Spielberger

 

 

 

 

 

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