Gnadenloses Familien-Mobbing

Wirre Inszenierung von Kleists "Familie Schroffenstein" in Bielefeld

(Foto: Philipp Ottendörfer / Theater Bielefeld)

 

 

 

 

Was für ein seltsamer Kauz, dieser Kleist?

(WaSa   Bielefeld)  Dem Spross eines preußisch-adligen Offiziers¬geschlechts war die militärische Karriere vorgezeichnet, die er denn auch mit 15 im Garderegiment hoffnungsvoll begann. Aber schon mit 22 zog er seine Leutnants¬uniform aus und schrieb später nicht gerade standesgemäße Geschichten über einen sprichwörtlich gewordenen Aufrührer wider die Obrigkeit oder über eine Marquise, die per Zeitungsanzeige nachforscht, wer sie wohl geschwängert habe. Außerdem Stücke, in denen wildgewordene Amazonen, korrupte Richter oder Erzengel auftreten. Ach!  Dabei hatte er sich nach seinem Abschied vom ungeliebten Militär zunächst auf die Wissenschaften und die Philosophie geworfen – was allerdings eine Krise auslöste, von der noch zu sprechen sein wird. Daraufhin plante er, als einfacher Bauer in den schweizer Bergen zu leben. Stattdessen traf er in Bern auf die Literaten Heinrich Zschokke und Ludwig Wieland. Zschokke besaß übrigens einen Kupferstich mit dem Titel „La cruche cassée – Der zerbrochene Krug“ der Anlass zu einem Dichterwettstreit gab: Zschokke selbst verfasste über die Szene eine Erzählung, Wieland eine Satire und Kleist ein Lustspiel. Doch zunächst schrieb Kleist ein Trauerspiel, „Die Familie Schroffenstein“, über das Zschokke berichtet:

 

„Als uns Kleist sein Trauerspiel vorlas, ward im letzten Akte das allseitige Gelächter der Zuhörerschaft wie auch des Dichters so stürmisch und endlos, dass bis zu seiner letzten Mordszene zu gelangen, Unmöglichkeit wurde.“

 

 

„Familie Schroffenstein“ - was ist das für ein komisches Stück?

Ein Stück, über das sich Autor wie Zuschauer halb tot lachen? (Und das Kleist selber später als „elende Scharteke“ diffamieren sollte?) - Es beginnt mit der Leiche eines neunjährigen Jungen und endet mit den Leichen eines Romeo-und-Julia-ähnlichen Liebespaares. Zwischendurch ist noch der eine oder andere auf der Strecke geblieben. Und das kam so:

Zwischen den beiden Linien Rossitz und Warwand der gräflichen Familie Schroffenstein besteht ein Erbvertrag: bei Aussterben einer Linie erbt die andere alles. Seither vergiftet Misstrauen die Beziehung. Bei jeder Krankheit, jedem Übelsein, erst recht natürlich bei jedem Todesfall gerät die jeweils andere Linie in Verdacht, aus Habgier die Hände im Spiel zu haben. Als der jüngste Rossitz-Sohn tot aufgefunden wird, an seiner Seite zwei Warwander, ist für Rossitz alles klar: die ganze Sippe schwört „auf die Hostie“ dem ganzen Haus Warwand tödliche Rache. In Wirklichkeit ist der Junge im Fluss ertrunken, und das Ganze ließe sich wohl durch ein ruhiges Gespräch aufklären. Doch das verhindern die Vorurteile. Dass sich der junge Ottokar von Rossitz und Agnes von Warwand lieben, hilft auch nichts mehr: nachdem die beiden ihre Kleider getauscht haben, werden sie von den eigenen Vätern verwechselt und ermordet. Als einziger Erbe ist jetzt noch der uneheliche Sohn des Grafen Rossitz übrig, und der ist über die tragischen Ereignisse verrückt geworden.

Die Wissenschaft hat sich ausgiebig damit beschäftigt, inwieweit Kleists „Kant-Krise“ in diesem Stück zum Ausdruck kommt. In aller Kürze: Kleists begann seine wissenschaftlichen Studien in der Überzeugung, die wahre Bestimmung des Menschen sei der fortgesetzte Erwerb von Kenntnissen, um so „unaufhörlich einem höheren Grade von Bildung entgegenzuschreiten. ... Wahrheit (schien mir) der einzige Reichtum, der des Besitzes würdig ist“. Vor allem die Beschäftigung mit Kant brachte ihn aber zu der (für ihn: niederschmetternden) Überzeugung: „Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint“ (Brief vom 22.03.1801 an seine damalige Verlobte Wilhelmine). Diese Unmöglichkeit, Wahrheit zu erkennen, ist das zentrale Problem des Stücks. Zwar setzt Kleist dem das Prinzip des Vertrauens entgegen: „etwas, das über alles Wähnen und Wissen hoch erhaben – das Gefühl der Seelengüte anderer“ (Agnes). Doch dieses Vertrauen gilt immer nur den eigenen Angehörigen; die andern werden gnadenlos gemobbt; und so muss es zum bösen Ende kommen.

Trotz dieser Unabwendbarkeit der Katastrophe bleibt vieles unklar. Bei allem Respekt vor Kleists dichterischer Leistung: Logik der Zusammenhänge, Folgerichtigkeit der Entwicklungen, Wahrscheinlichkeit der Ereignisse sind seine Sache nicht. Soll man wirklich glauben, dass ein neunjähriger Grafensohn irgenwo mitten im wilden Gebirge allein „spazieren geht“ und dann ertrinkt oder ermordet wird? Beides ist gleich unwahrscheinlich. Ähnlich unwahrscheinlich ist so manches (konstruierte) Missverständnis, etwa Jeromes Glaube, Johann wolle Agnes ermorden sowie dessen angebliches Geständnis (das wird allenfalls wohlfeil mit Irrsinn erklärt). Konstruiert wirkt z. B. Sylvesters Ohnmacht. Besonders rätselhaft: das Verhältnis Ottokar – Agnes: wie kam es dazu? Warum all die Heimlichkeiten? Und so weiter.

G. Hensel versucht, Kleist zu entschuldigen: Dessen Stück hieß nämlich ursprünglich „Familie Ghonorez“ und spielte in Spanien. Auf Wielands Rat wurde der Schauplatz nach Schwaben verlegt und der Name eingedeutscht; dies ließ man durch einen „Abschreiber“ erledigen; dabei wurden „Prosapartien in Jamben umgeformt, was zu einigen Entstellungen geführt“ habe. Es ist aber kaum zu glauben, dass mit diesen „Entstellungen“ alle genannten Mängel zu erklären sind (um so weniger, als sich ähnliche Mängel in sämtlichen Dramen Kleists wiederfinden).


Eine ver-wirre-nde Inszenierung

Nun könnte man sich vorstellen, eine Regisseurin habe den Ehrgeiz, ein solch erratisches Stück dem Zuschauer als geschlossenes Ganzes mit verständlicher Handlung vorzustellen. Zu Beginn der Bielefelder Inszenierung darf man ein solches Bestreben noch vermuten. Da wird dem hereinströmenden Publikum zunächst einmal sehr gekonnt eine Atmosphäre des Misstrauens vermittelt: durch Gestalten, die rund um den Zuschauerraum postiert sind und jeden auffällig-unauffällig im Auge behalten. Und dann wird erst mal erklärt, was es mit dem Erbvertrag auf sich hat, der Grundlage all der Verdächtigungen (für die Auseinandersetzung zwischen den Häusern das, „was der Apfel für den Sündenfall“ war) – so weit so gut. Aber schon diese (vorgezogene) Erklärung wird von einem allgemeinen Flüstern, Raunen, Zischeln der im ganzen Raum verteilten Darsteller begleitet, was zwar dem „Atmosphärischen“ dienen mag, aber nicht unbedingt der (akustischen) Verständlichkeit nutzt. Und in der Folge hat man den Eindruck, diesem ohnehin komplizieren Stück solle die akustische und inhaltliche Verständlichkeit systematisch ausgetrieben werden.

Jeder Gymnasiast lernt, dass die Jamben unserer Klassiker im Sinnzusammenhang zu lesen sind. Den Bielefelder Schauspielern wurde diese Selbstverständlichkeit wieder abtrainiert, und so wird also die Sprache Kleists zeilenweise deklamiert:


 „Die Stämme sind zu nah gepflanzt. Sie    --- Pause ---
zerschlagen sich die Äste“.


Auch die – allerdings wohl unvermeidliche – Aufteilung der ca. 16 Rollen (bei Kleist sind’s noch ein paar mehr) auf sieben Schauspieler erleichtert nicht gerade das Verständnis. Nur Anton Pleva als Ottokar und Felicia Spielberger als Agnes dürfen sich auf eine Rolle konzentrieren. Besonders interessant ist die Rollenverteilung der beiden gräflichen Ehepaare. Es ist nicht selten, dass diese von denselben Darstellern gespielt werden – so lässt sich die spiegelbildliche Parallelität der Handlung und der Charaktere unterstreichen. In Bielefeld geht man noch einen Schritt weiter: Carmen Priego verkörpert den Grafen Rupert von Rossitz und die Gräfin Gertrude von Warwand – die beiden Kriegstreiber in den Familien; Graf Sylvester von Warwand und Gräfin Eustache von Rossitz, die beide zur Besonnenheit mahnen, werden dagegen von Stefan Imholz dargestellt. Das ist eine durchaus angemessene Konstellation, da so die Charaktere geschärft werden, auch wenn man sich als Zuschauer über das Geschlechterdurcheinander erst einmal klar werden muss (das steigert sich dann – ohne einleuchtende Begründung – wenn Barnabe, die man sich als zartes Mädchen vorstellt, von zwei kräftigen aufeinander reitenden Männern gespielt wird).

Am schwersten hat es wohl Nicole Lippold, welche mindestens sechs Nebenfiguren Ausdruck verleihen muss – und diese Aufgabe mit Bravour erledigt, indem sie etwa auf verschiedene Dialekte zurückgreift oder – besonders beeindruckend, da der jungen Frau dafür eigentlich alle Voraussetzungen fehlen – mit schauspielerischem Können einen hinfälligen, blinden Greis verkörpert.

Warum nur muss sie dann auch noch Text von den Hauptfiguren übernehmen? Die Schleierfrage beispielsweise von Ottokar? Womit die Zusammenhänge zusätzlich verwirrt werden. Überhaupt hat man manchmal den Eindruck, Textanteile würden von der Regie willkürlich zwischen den Darstellern hin und her geschoben. So berichtet Jeronimus von einem Mord; wer den Text kennt, weiß, dass er selbst das Opfer ist ...  Und immer wieder werden – anders als bei Kleist – große Textblöcke von einem Chor gesprochen. Gut – damit mag der Gruppendruck durch das Familienkollektiv verdeutlicht werden, was aber wiederum die beschriebene differenzierende Besetzung der beiden Grafenpaare konterkariert.

Oder: ein wesentliches Element für die Verwechslungstragödie am Schluss ist, dass Ottokar und Agnes ihre Kleider tauschen. Dass die Liebenden in Bielefeld identische Mäntel tragen (und tauschen) mag man als Anlass zu vielfältiger Interpretation nehmen – wenn man den Text vorher gelesen hat. Die drei Sitznachbarn, die ich gefragt habe, hatten das nicht und demzufolge hat sich ihnen der Sinn dieser Szene überhaupt nicht erschlossen.


Wo bleibt das Positive?

In der – wiederum: atmosphärisch-stimmigen - Ausstattung beispielsweise: Die Kostüme sind von einer irgendwie alpenländisch-altmodischen Zeitlosigkeit. Das Bühnenbild ist ersetzt durch eine massiv-kompakte Holzwand dicht vor der Rampe, die den Aktionsraum der Akteure arg beengt (wobei diese allerdings den ganzen Theatersaal mit nutzen). Erst das innige Zusammensein des jungen Liebespaars bringt diese Barriere zum Einsturz – doch erhebt sich gleich dahinter eine zweite.

Positiv auch – wie so oft – die Schauspielerleistung. Am beeindruckendsten kam diese zum Ausdruck, als mal auf das vorherrschende hektische Hin-und-Her-Gerenne, auf das stakkatohaft Geschrei verzichtet wurde: in der Szene zwischen Ottokar und Agnes, die sich zu einem langen, vertrauensvollen Gespräch die Zeit und die Ruhe nahmen (ausnahmsweise Zeit und Ruhe von der Regie eingeräumt bekamen). Hier konnte man endlich einen Eindruck von Kleists Sprachkunst, von seinem dramaturgischen Genie gewinnen.

Das Premierenpublikum spendete langanhaltenden kräftigen Beifall.



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Theater Bielefeld (TAM – Theater am Alten Markt):
Familie Schroffenstein
Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen von Heinrich v. Kleist

Inszenierung:    Ivna Zic       
Ausstattung:        Jürgen Höth
Dramaturgie:        Franziska Betz
Musik:            Johannes Kühn


Ottokar      Anton Pleva    
Agnes      Felicia Spielberger    
Rupert / Gertrude      Carmen Priego    
Eustache / Sylvester      Stefan Imholz    
Jeronimus      Niklas Herzberg    
Johann      Georg Böhm    
Joker      Nicole Lippold    

Weitere Termine:
 
20.11.2012, 20:00 Uhr
21.11.2012, 20:00 Uhr
24.11.2012, 19:30 Uhr
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11.12.2012, 20:00 Uhr
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