Zwischen peinlich und Nichts

Faszinierende, dichte Inszenierung der Bremer Shakespeare-Company

(alle Fotos: Marianne Menke, Shakespeare-Company)

 

Dieses Reich wird zu Ende gerichtet, und niemand

Kümmert sich darum oder vergießt

Tränen deswegen ...

Ich zeige dir das Land in schwerer Krankheit ...

Man lacht mit bitterem Lachen;

Man wird den Tod nicht mehr beweinen

Denn ein jeder ist nur mehr

mit sich selbst beschäftigt. ...

 

(Prophezeiung des Neferti,

Mittleres Reich, 12. Dynastie;

zit. aus Lear-Programmheft)

 

G.WaSa    -     Bremen     -     Wie peinlich! Als man dem Affen seinen Zucker nicht gibt, sprich: als seine Lieblingstochter Cordelia dem König die geforderte schwülstige Liebeserklärung verweigert, da schmeißt sich der Alte auf den Boden und plärrt wie ein kleines Kind, das im Supermarkt kein Bonbon kriegt. 

 

Was für ein altes Ekel!

Zugegeben: Ich konnte diesen Typen nie ausstehen! Diesen König Lear: Der war nie ein Patriarch sondern immer schon ein (Familien-) Tyrann! Kein würdiger Greis, sondern ein egomanisch-aufbrausender Wüterich. Mag sein, dass man als absolutistischer König das Recht hat, bei der geringsten Unbotmäßigkeit derart auszurasten. Das Problem: Lear ist kein König mehr! Den Job, die Arbeit, den Stress hat er seinen Schwiegersöhnen überlassen. Dabei war zu Shakespeares Zeiten die Demission eines Königs so undenkbar wie der Rücktritt eines Papstes. Oder (nach dem schlechten Beispiel, das Benedikt gegeben hat): zu Lebzeiten des Königs/der Königin wurde am Hofe Elisabeths I. die Krone eben so wenig an die Kinder weitergegeben, wie in der Epoche Elisabeths II. Vielleicht beansprucht der zurückgetretene Lear deshalb immer noch den Titel und die ganze Würde des Königs für sich. Die Privilegien sowieso: den Gehorsam der Töchter sowie ein Gefolge von 100 Rittern (was sich bei einem Knappen pro Ritter und den zusätzlich benötigten Waffenmeistern, Köchen, Pferdeknechten, Beichtvätern, Huren, …. leicht zu 300 Personen aufsummiert). Wenn sich auch nur ein Teil dieser Ritter auch nur annähernd so aufführt wie ihr Chef, dann hat man jede Sympathie für die Forderung der Töchter, der Alte möge doch gefälligst diese Schar von Schmarotzern (die aus ihren Palästen „ein Bordell machen“) deutlich verkleinern.

 

Komplexe Familien- und Staats-Geschichte

Die gängige Interpretation dieses großen Shakespeare-Stückes geht allerdings ganz anders: da sind Goneril und Regan die bösen undankbaren Töchter, die den armen alten Mann hinaus auf die Heide, ins Unwetter, in den Wahnsinn treiben! Und weil dieser Vater-Kinder-Konflikt so schön ist, verdoppelt ihn Shakespeare gleich noch in einer Parallel-Handlung: auch Graf Gloucester verstößt irrigerweise den guten Sohn,  wird vom gehätschelten bösen ans Messer geliefert und landet schließlich – brutal geblendet – beim wahnsinnigen Lear in der Wildnis; ihr verbleibendes Gefolge: der treue, aber dennoch (oder gerade deshalb) in Ungnade gefallene (und daher inkognito auftretende) Graf Kent, der verstoßene (und sich deshalb für einen verrückten Bettler ausgebende) brave Gloucester-Sohn Edgar und schließlich der Narr, der (wie öfters bei Shakespeare) der eigentliche Weise in dieser Geschichte ist (und mitten im Stück plötzlich spurlos verschwindet). Zusammen mit der einen oder anderen Nebenhandlung (einem Krieg zwischen Frankreich und England zum Beispiel, oder einer Eifersuchtstragödie zwischen den „bösen“ Schwestern) ergibt sich eine umfangreiche komplexe Handlung mit erheblichem Personalaufwand: das Personenverzeichnis nennt 21 Rollen, das an Fürstenhöfen nun mal unverzichtbare Personal noch nicht mitgezählt. 

Konzentriertes Drama

Das zweite Verdienst des Bremer Lear-Regisseurs Bernd Freytag war, aus diesem Konvolut ein konzentriertes Drama herausgefiltert zu haben. (Sein erstes Verdienst:  die Wahl der modernen Übersetzung von Rainer Iwersen). Shakespeares Riesenstück ist auf wenig mehr als zwei Stunden eingedampft, die ohne Pause durchgespielt werden (zum Glück bieten die Sitzreihen im Theater am Leibnitzplatz nicht nur hervorragende Sicht auf die Bühne, sondern auch erfreulich viel Beinfreiheit). 

Die Personen

Auch Shakespeares verwirrend-reichhaltiges Personaltableau wird reduziert: auf 13 Rollen, die von gerade mal acht Darstellern beeindruckend bewältigt werden. So schafft es Markus Seuß problemlos, neben dem guten Gloucester-Sohn Edmund auch beide Lear-Schweigersöhne zu verkörpern (der Miniauftritt des Herzogs von Burgund läuft da so mit). Schwierig war nur, den Narren vom Grafen Kent zu unterscheiden, auch wenn deren Darsteller Tobias Dürr mehrere Masken mit sich herumtrug und obwohl Peter Lüchinger in seiner Stückeinführung versprochen hatte, die Figuren seien mit Hilfe dieser Masken (=Persönlichkeiten?) zu differenzieren. Trotz Textkenntnis war mir aber oft nicht klar, wer da gerade agierte – und drum hab ich für mich das gemacht, was der Regisseur vielleicht von Anfang an hätte tun sollen: einfach beide Rollen zu dem einen weltklugen Narren verschmolzen – und als solcher hat Dürr denn auch brilliert. 

Brilliert haben auch die übrigen Darsteller: Tim Lee als heimtückischer Stutzer Edmund; Svea Meiken Auerbach, Petra-Janina Schultz und Theresa Rose als so unterschiedliche Lear-Töchter, Peter Lüchinger als Gloucester und allen voran: Erik Roßbander, der selbst aus diesem Lear eine faszinierende Persönlichkeit macht. „Selbst aus diesem Lear“?  Das bezieht sich natürlich einmal auf den eingangs genannten unsympathischen Charakter dieser Figur; vor allem aber bezieht es sich auf die besondere Rollengestaltung in dieser Inszenierung: da wird dem König nämlich die „Fallhöhe“ der klassischen Tragödie weggenommen: bei Shakespeare ist er zu Beginn noch der starke, imposante Herrscher, der im Lauf des Abends absteigt zum elenden Narren. Hier in Bremen ist er von Anfang an vermutlich dement, auf jeden Fall aber eine lächerliche Gestalt, die ohne Hosen zu den letzten Staatgeschäften antreten muss. Wie peinlich!

 

Die Inszenierung

 

So sehen wir eher eine Familientragödie als große Staatsaktion. Auf jeden Fall aber: großes Theater! Wie sollte das anders sein, bei Shakespeare?! Zumal, wenn die Inszenierung die Textfülle entlang klarer Handlungslinien auf ein dichtes Drama fokussiert! Die Fokussierung, die Konzentration wird durch die Bühnengestaltung (Christine Gottschalk) mitgetragen: ein weites, nachtdunkles Halbrund von großen Treppenstufen (oder sind es – in Ergänzung der Zuschauerreihen gegenüber – die Ränge einer Arena?) In der Mitte, hell hervorgehoben: der Schauplatz der Ereignisse, das Forum für die Protagonisten. Wer abtritt, kann hinter den Stufen im Nichts verschwinden. Aus diesem Nichts taucht aber auch immer wieder eine Reihe von Personen auf, um sich in der Art eines antiken Chores einzumischen.

 

Der Rest ist … Nichts

Das Nichts. Die Zerstörung alles Althergebrachten – darauf lief schon Shakespeares Tragödie des irren Ex-Königs hinaus, an deren Ende fast alle tot sind, natürlich und gerade auch Lear und all seine Töchter. Allerdings stellt Shakespeare nach dem Scheitern seiner tragischen Helden gerne eine Neue Kraft in Aussicht – ganz wie in der altägyptischen Prophezeiung des Neferti:

 

Aber ein König aus dem Süden wird kommen ...

Die Gerechtigkeit wird dann an ihren Platz zurückkehren,

das Unrecht hinausgeworfen ....

 

Der eingangs zitierte erste – negative! - Teil dieser Prophezeigung steht am Beginn der Bremer Lear-Aufführung.

 

Und die optimistische Aussicht? 

 

Bei Shakespeare ist Edgar der neue König, der gute Gloucester-Sohn – im Vergleich zu Fortinbras, zu Malcolm oder zu Henry VII. eine eher schwache Figur, aber immerhin. In Bremen hat nicht mal der eine Chance: hier entgeht Lear dem Tod, und dieser alte, demente Narr übernimmt wieder die Krone. Das Elend kann weitergehen! Auch Cordelia ist am Ende (tot oder lebendig?) noch da; und sie, die als es darauf ankam, nicht das kleinste Schmeichelwort über die Lippen gebracht hatte, hängt jetzt am Hals des alten Scheusals und schmachtet ihn an, als sei sie das leidenschaftlich-naive Groupie eines Soft-Rockstars. Fast schon peinlich!

 

 

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Bremer Shakespeare-Company:

 

KÖNIG   LEAR

 

von William Shakespeare

deutsch von: Rainer Iwersen.
Regie: Bernd Freytag.
Musik: Mark Polscher.
Bühne: Christine Gottschalk.
Kostüme: Heike Neugebauer

Lear, König von Britannien:                   Erik Roßbander

Lears Töchter:   
Goneril:                                              Svea Meiken Auerbach 
Regan:                                                Petra-Janina Schultz 
Cordelia:                                              Theresa Rose

Graf Kent  /  Narr:                                 Tobias Dürr

Graf Gloucester:                                  Peter Lüchinger

Edmund, Gloucesters Bastard /            Tim Lee
König von Frankreich   

Edgar, Gloucesters Sohn  /                  Markus Seuß 
Herzog von Cornwall  / 
Herzog von Albany  / 
Herzog von Burgund

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http://www.shakespeare-company.com/programm/koenig-lear