Ganz ohne „ach“:    Welch‘ Schauspiel!

Kušejs Münchner Faust mit Knalleffekten

Sucht nur die Menschen zu verwirren,
Sie zu befriedigen ist schwer – – 
Besonders aber lasst genug geschehn!
Drum schonet mir an diesem Tag
Prospekte nicht und nicht Maschinen.
Gebraucht das groß’ und kleine Himmelslicht,
Die Sterne dürfet  ihr verschwenden;
An Wasser, Feuer, Felsenwänden,
An Tier und Vögeln fehlt es nicht.

 

(Theaterdirektor im „Vorspiel auf demTheater“;
Goethe: Faust)

Alle Fotos: Residenztheater München

„Das ist ja alles völlig durcheinander“

WaSa     -     München.     Sage keiner, man habe ihn nicht gewarnt! Nicht nur im Internet, auch auf Plakaten an den Eingängen weist das Residenzthater darauf hin, „dass in dieser Vorstellung extreme Lautstärken (Schüsse, Explosionen) und Stroboskoplicht eingesetzt werden“. Und so wird dann auch schon wenige Minuten nach Beginn der Faust-Aufführung  das bescheidene Hüttchen des greisen Ehepaares Philemon und Baucis unter ohrenbetäubendem Krachen und blendenden Lichtblitzen zertrümmert. 

Offenbar ist bei einer Probesprengung, schon früh während der Erarbeitungsphase, Kušejs Textbuch mit in die Luft geflogen. Die aufgefundenen Fetzen hat er dann mit Hilfe Albert Ostermaiers irgendwie wieder hintereinandergefügt. Das Ergebnis kommentiert der Bildungsbürger auf dem Platz rechts von mir zu Beginn der Pause dann so: „Das ist ja alles völlig durcheinander“ (dabei hatte er vor Beginn doch noch voll Stolz seiner Begleiterin die ersten ein-ein-halb Dutzend Verse des Eingangsmonologs vordeklamiert).

 

Oder hat sich Kušej etwa unsere Bundeskanzlerin zum Vorbild genommen, die ja angeblich gerne „vom Ende her denkt“? Jedenfalls eröffnet er seine Faustinszenierung mit Fausts Frage nach „der Weisheit letzter Schluss“ (=“nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muss“), was (als Erkenntnis) bei Goethe ganz hinten, im V. Akt von „Faust II“ steht (11.574). Ab da geht es munter hin und her, mal Faust II, mal Faust I. Und immer wieder Walpurgisnacht ...

 

Erst nach der Pause, mit Beginn der Gretchentragödie, läuft’s eine Zeitlang geradezu klassisch, findet man sich beinahe im bekannten Gang der Handlung wieder – bis gegen Ende, wo dann erneut alle Register gezogen werden: noch einmal wird die Philemon-und-Baucis-Hütte mit grellem Blitz und Donner vernichtet; der Moderator dieses Events referiert in wohlgesetzten geschliffenen Sätzen den Tod der Alten als unvermeidlichen Kollateralschaden; die „drei Gewaltigen“ geben ein passendes zeitgemäßes Statement ab: „Krieg, Handel und Piraterie, Dreieinig sind sie, nicht zu trennen“(11.187); und Faust wird von Mephisto durch „düstere Gänge“ (6.173) zu den „Müttern“ geführt, trifft aber nur ein halbes Dutzend ziemlich abgetakelte Nutten an; und endlich die obszönste, schockierendste Szene dieser an obszönen Szenen reichen Inszenierung: Faust und Mephisto schicken ein Kind als Selbstmordattentäter in den Tod  –  Euphorion 2014?   

Endzeit-Kulissen

Nein, ein „klassischer“ Faust ist das nicht! Ein aktueller? ein zeitgemäßer? oder gar ein endzeitlicher? In der 19.-Jahrhundert-Industrie-Architektur des Bühnenbildes glaubt der eine oder andere Betrachter Sin City wiederzuerkennen! Auf der wieder und wieder rotierenden Drehbühne steht ein würfelförmiger Aufbau. Er enthält Fausts Studierstube: ein schäbiges Hotelzimmer mit billigem Waschbecken und mattem Spiegel; und er enthält – hinter hässlichen Lagerhallen-Schiebetoren – die in unschuldig-strahlendem Weiß gehaltene saubere Gretchen-Welt. Oben drauf: wuchtige Metallkonstruktionen: ein Kran, an dem während einer der Walpurgisnächte ein Pferd herumgewirbelt wird; und eine maschendrahtumschlossene Fläche: Gefangenenlager? Eher: Kampfarena, „fight club“, Disco.

 

Endloses Event statt ewige Erkenntnis

In diesem Ambiente beginnt also Faust mit seinem zusammengestückelten Monolog. Wirft zwischendurch Pillen ein; fühlt sich einsam (auf sein verzweifeltes „Ist jemand hier“-Rufen erscheint schemenhaft Mephisto im Spiegel); bald verwandelt dieser Faust sich in den netten Besucher, der mit Philemon und Baucis artige Konversation macht (11.043), switcht plötzlich zurück zu Faust, den das „verfluchte Läuten“ nervt. Und schon fliegt das Haus der Alten spektakulär in die Luft. Was für ein Event!

 

Und darum gehts! Um das Event. Immer wieder Event. Nicht um ewige Erkenntnis, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Sondern um Leben. Um Er-Leben. Und für dieses Er-Leben ist diesem Faust jedes Mittel recht; jedes irdische Mittel, wohlgemerkt, anders als beim alten Zauber-Faust. Auch der Münchner Faust jammert: „Es möchte kein Hund so länger leben!“, doch macht er sich nicht den von Goethe vorgesehenen Reim darauf, sich „der Magie zu ergeben“. Dem Erdgeist neidet er nicht das Wissen, sondern die Jugend; denn dieser ist nicht ein der geistigen Sphäre angehöriges Flammenbildnis, sondern ein ganz realer, ephebischer, halbnackter Jüngling, vielleicht ein Bruder des Knaben Lenker, sicher aber ein Gesinnungsgenosse des jugendlich-arroganten Schülers aus Faust II: „am besten wär’s, euch (über 30jährige) zeitig totzuschlagen“ (6.789). Natürlich ist es auch nicht das erhabene Geläut der Kirchenglocken, nicht der fromme Chorgesang, die diesen Faust vor dem Selbstmord bewahren – nein, es ist der „trockene Schleicher“ Wagner, der ihm ganz profan den Finger in den Hals steckt, damit er das tatsächlich geschluckte Gift wieder ausspeie. 

Drastische Bilder

Wenig später wird aus einer Osterspaziergangs-Orgie („hier ist des Volkes wahrer Himmel“) plötzlich ein Massaker – nur ein Beispiel für Kušejs berserkerhaften Zugang zu diesem titanischen Stück. An weiteren drastischen Bildern ist kein Mangel: Gretchens gruselig-tote Mutter (die in Goethes Original ja nicht selbst auftritt, hier aber – beispielsweise – auch das klatschhafte Lieschen vertrat und auch mal Mephistos Text übernahm); erst recht Gretchens Kind, das hier durch eine blutige Spät-Abtreibung getötet wird. Oder gar die „Sudelköcherei“ (2.341), die fellationäre Zubereitung des Verjüngungstranks, die hier nicht genauer geschildert werden muss (stattdessen zwei Reaktionen aus dem weiblichen Publikum: links hinter mir ein fassungslos-beeindrucktes „Oh mein Gott!“; rechts vor mir ein angeekelt-empörtes „pfui Teufel“).

 

Das Personal

Apropos „Teufel“ – reden wir vom Personal: Werner Wölbern überzeugt als Faust von heute: den treibt nicht der Erkenntnisdrang des greisen Weisen, sondern die Midlife crisis des etablierten Mittelständlers in seinen sogenannten besten Jahren. Das Gretchen wird von Kušej am stärksten in seiner klassischen Rolle als naive Unschuld belassen – das gibt der Rolle einen engen Rahmen, den aber Andrea Wenzl perfekt ausfüllt. Den Rahmen der Kupplerin sprengt dagegen die Marthe dieser Inszenierung: Hanna Scheibe gibt sie als ansehnlich-verführische Erz-Schlampe.

 

Allesamt: Welch Schauspieler-innen! – Aber ach! Sie müssen gegen den Mephisto einer Bibiana Beglau anspielen! Schon immer, nicht erst seit Gründgens, war der Mephisto die bunteste, lebendigste, frechste, dramatischste ... kurz: die beste Rolle in diesem ehrwürdigen Stück. Und die ist jetzt besetzt mit der „Schauspielerin des Jahres“, Bibiana Beglau. Ich gestehe: nicht in erster Linie wegen des Regisseurs Kušej konnte ich es nicht erwarten, nach München zu kommen, sondern vor allem wegen dieser Mephisto-Besetzung! 

Und ja – von allem anderen abgesehen: Es hat sich gelohnt! Allein wegen ihr hätte es sich gelohnt, nach München zu fahren! (Natürlich habe ich zu überprüfen versucht, ob diese Beglau-Begeisterung nur ein Vorurteil von mir ist, und habe ein gutes Dutzend Faust-Kritiken daraufhin durchgesehen. Ums kurz zu halten: so gut wie einhellige Begeisterung!)

 

Dieser Mephisto! Diese Brutalität! Diese Obszönität! Dieser Witz! (Auch so ziemlich das einzige aktualisierende Späßchen wird dieser Figur in den Mund gelegt: Wenn Mephisto dem verjüngungswilligen Faust in Aussicht stellt: „Ernähre dich mit ungemischter Speise“, so erläutert Beglau: „Das heißt: vegan“). Und erst recht: Diese Verzweiflung, diese Einsamkeit, diese fast schon depressive Traurigkeit des gestürzten Engels, auf dessen Rücken noch die Wunden schwären, wo einst Flügel wuchsen. Und ausgerechnet dieser arme Teufel muss den Lobgesang auf Gott anstimmen (der bei Goethe Aufgabe der Erzengel ist): er/sie tut es, zögerlich, nachdenklich, versonnen, bis es dann aus ihr hervorbricht: „Herrrr!!!“ Stets in dem Bewusstsein, den göttlichen „ew’gen Glanz“ auf immer verloren zu haben: „Uns hat er in die Finsternis gebracht“. 

Welch ein Zufall in der Aufführung, die ich besuchte (Zufall?): Dieser Mephisto traktiert seinen Faust mit einem höllischen Schmerzzauber – und offenbar nicht nur den Bühnenpartner. Während Mephisto mit all seiner Gedankenkraft „Schmerz“ ausstrahlt, wird tatsächlich in der dritten Reihe, genau gegenüber, eine Zuschauerin schwach und muss hinausbegleitet werden. Hab ich mir den Triumph, der sich bei diesem Anblick auf Beglaus Gesicht abzeichnete, nur eingebildet? Oder hat sie ihn doch gespielt? Oder war er gar echt?

 

Fazit: Hohe Schule des Regietheaters

Zumindest eines ist sicher: dieser Faust polarisiert – nicht das schlechteste Ergebnis eines Theaterabends! Die einen sehen hoffnungsvoll, dass Kušej sich von der – bisher in München gezeigten – Inszenierungs-Zahmheit wieder löst und zu seinem alten „Regie-Extremismus“ zurückkehrt. Andere machen ihm die Häufung von Krach- und Knall-Effekten zum Vorwurf, finden seinen Rückgriff auf „Faust II“ unnötig und auf jeden Fall störend.

 

Als ob wir nicht allzuviele Inszenierungen hätten, die dieses monumentale Spektakel auf ein hoch- (oder klein-)geistiges Kammerspiel reduzieren, die alle Mühe darein stecken, einen pennälergerechten Zitatenfriedhof einigermaßen unterhaltsam auf die Bühne zu bringen! Allzu viele Theater, die froh sind, mit den (um die Hälfte gekürzten) 4600 Versen des „Faust I“ ein Ein-Abend-kompatibles Stück zu haben,  die den „Faust II“ eh für unspielbar halten! (Ganz abgesehen von den unsäglichen Versuchen, mit dem sogenannten „Urfaust“ einer Faust-Pflicht Genüge zu tun – mit einer rudimentären Zufallsversion also, von deren Existenz Goethe keine Ahnung gehabt hatte!)

 

Nein, dieser „Übermensch“ Faust (490) ist mit dem „verhallenden ‚Heinrich‘“ (4614) noch lange nicht am Ende! Dieses „edle Glied der Geisterwelt“ (11.934) mit den „zwei Seelen in seiner Brust“; dieser „übersinnlich sinnliche Freier“ (3534), den „keine Lust sättigt“, dem „kein Glück genügt“ (11.587) verdient es nicht, auf den Studierstuben-Gelehrten und den Jungfern-Verführer reduziert zu werden!

 

Für diese „umano commedia“, diese Menschheitskomödie, dieses Dramen-Universum kann Gretchens Kerker nicht Endstation sein! Danach liegt noch ein weiter Weg („vom Himmel durch die Welt zur Hölle“) vor Faust, vor Mephisto; vor den Dramaturgen und Regisseuren. Vor dem Zuschauer! Ohne den Faust II wird der Faust I immer Fragment bleiben. Und deshalb hat Kušej Recht – hat jeder Regisseur Recht –, wenn er den „Zweiten Teil“ mit einbezieht. Natürlich kann man sich lange darüber streiten: Was aus „II“ ist aufzunehmen? Was aus „I“ ist dafür zu streichen? Im Zweifelsfall wird immer zu wenig aus „II“ genommen, wird immer zu viel aus „I“ gestrichen! Aber der „ganze Faust“ auf der Bühne wäre nun mal gar zu Steinig!

 

Mein Fazit: Aus der unendlichen Zahl möglicher Zusammenfassungen von „Faust I + II“ haben Kušej/Ostermeier eine Version herausdestilliert, die überzeugen kann. Sie zeigen einen Menschen Faust, der heute vorstellbar ist, ohne aber sein „klassisches Erbe“ zu verleugnen. Vor allem aber beherrschen sie die hohe Schule des RegietheatersZusammenhänge zu zeigen, die man bisher so nicht gesehen hat, Bezüge herzustellen, die überraschen aber doch einleuchten! Und wenn sie das (auch) durch Textumstellungen, durch das kritisierte „Durcheinander“ schaffen – na und? Besser so, als einfach herunter-deklamieren! Wenn Gretchen erst nach dem Sex wissen will, wie’s ihr Geliebter „mit der Religion“ habe, so ist das zunächst ungewohnt, hat aber doch eine gewisse Logik!

 

Wer den Faust-Text im Kopf habe, erleide Schiffbruch, hat die FAZ dekretiert. Im Gegenteil! Musterbeispielhaft zeigt sich hier die alte (nicht nur Theater-) Weisheit: Was man kennt, versteht man besser und genießt man mehr! Es macht einfach Spaß, Zitate an ungewohnter Stelle zu entdecken und im besten Fall einen überraschenden Sinn darin zu finden. So, wenn etwa Mephistos Feststellung „der Teufel, der ist alt“ nicht mehr der Mahnung dient („so werdet alt, ihn zu verstehen“, 6.818), sondern ihn stattdessen zum Auslauflmodell erklärt (Der Teufel hat nichts mehr zu sagen, 6.790).  Im Zweifelsfall fühlt man sich ge-„drängt, den Grundtext aufzuschlagen“ – auch kein Schade, mal wieder den „Faust II“ zur Hand zu nehmen!

 

Hat man während der Vorstellung bei derartigen Neu-Kombinationen noch gelegentlich gedacht: ‚Die Genialität des Faust-Textes verträgt jegliche noch so willkürliche Umstellung‘, so wird bei genauerem Nachspüren doch klar: Da war keine Willkür; vielmehr haben Kušej/Obst/Ostermaier gründliche Arbeit geleistet, den Text genauestens analysiert und dann sorgfältig neu strukturiert. Das Ergebnis ist nicht „Schiffbruch“, sondern Aufbruch zu neuen Ufern der Erkenntnis! Bravo!

 

Und das Spektakelige? All dieses Blitz-Knall-Bumm? Na, da können sich die Münchner doch auf keinen geringeren als Goethe berufen, dessen Alter Ego, der Theaterdirektor im „Vorspiel auf dem Theater“, genau dieses Blitz-Knall-Bumm-Spektakel einfordert (s.o.). Selbst das viele Vögeln auf der Bühne ist durch die Forderung des Direktors gedeckt (oder sollte der das eher ornithologisch gemeint haben?). 

Residenztheater München:

 

FAUST

von Johann Wolfgang Goethe

 

Regie:  MARTIN KUŠEJ

Bühne:  ALEKSANDAR DENIĆ

Kostüme:  HEIDI HACKL

Musik:  BERT WREDE

Licht:  TOBIAS LÖFFLER

Dramaturgie:  ANGELA OBST

Dramaturgische Mitarbeit:  ALBERT OSTERMAIER

 

Mit:

WERNER WÖLBERN    Faust

BIBIANA BEGLAU    Mephisto

ANDREA WENZL    Margarete

ELISABETH SCHWARZ    Baucis, Margaretes Mutter, Böser Geist

HANNA SCHEIBE    Frau Marthe

JÖRG LICHTENSTEIN    Wagner

SILJA BÄCHLI    Hexe

MICHELE CUCIUFFO    Valentin

SIMON WERDELIS    Junger Mann

JÜRGEN STÖSSINGER    Philemon

MIGUEL ABRANTES OSTROWSKI    Flaneur der Nacht

GÖTZ ARGUS    Pate

 

Nächste Vorstellungen:

SO 26. OKT 2014, 18:00 Uhr

SO 16. NOV 2014, 19:00 Uhr

MO 17. NOV 2014, 19:00 Uhr

SO 23. NOV 2014, 19:00 Uhr

MO 24. NOV 2014, 19:00 Uhr