Spektakulär.    Arrogant!        Kunst?

Ai Weiwei im Berliner Martin-Gropius-Bau

Aber ob das Kunst ist?

WaSa.     -     „Aber ob das ein Gedicht ist?“, überlegt Rose Paal, als sie zum ersten Mal Brechts „Fragen eines lesenden Arbeiters“ hört. In ihrem bisherigen Leben als Landarbeiterin wurde sie wohl kaum mit moderner Lyrik konfrontiert; doch jetzt ist sie Studentin der „Arbeiter- und Bauern-Fakultät“. Und hier bekommt sie für ihre kritische Frage die erste „Eins“ in der Geschichte dieser revolutionären Universitätsabteilung, die in der frühen DDR eigens gegründet wurde, um Angehörigen der Arbeiterklasse eine akademische Laufbahn zu eröffnen – so beschrieben in Hermann Kants wunderbarem Roman „Die Aula“. 

„Aber ob das Kunst ist?“, hätte die Landarbeiterin Rose Paal womöglich gefragt, hätte man sie in den Berliner Martin-Gropius-Bau geschickt, wo vom 3. April bis zum 13. Juli 2014 unter dem Titel „Evidence“  Werke des chinesischen Künstlers Ai Weiwei gezeigt werden. Zwei schäbige Mäntel auf einem Kleiderständer. Eine Ansammlung verbogener Moniereisen. Alte, weggestellte Möbel.

 

„Aber ob das Kunst ist?“

Spektakulär.     Beliebig.     Politisch.

Gewiss: Ai Weiwei ist zur Zeit der wohl spektakulärste Künstler Chinas. Vielleicht auch einer der spektakulärsten der Welt-Gegenwarts-Kunst. Doch gerade die Ausstellung „Evidence“ provoziert die Frage: Vor allem Künstler? Oder vor allem spektakulär? 

Ist es schon Kunst (ist es auch nur spektakulär?), das Atrium des Gropius-Baus bildbeherrschend mit 6000 gebrauchten chinesischen Holzhockern dicht an dicht vollzustellen? Hocker, die zwar teilweise aus der Ming- (1368-1644) und der Quing-Dynastie (1644-1911) stammen sollen, vor allem aber „zum Standardinventar vieler chinesischer Haushalte“ gehören? 

Zweifellos: die zum „monumentalen Schrottplatz“ zusammengefügten  Marmornachbildungen von Türen zerstörter historischer Gebäude sind handwerklich gut gemacht. 

Ebenso die 12 Bronze-Statuen der Tiere des chinesischen Tierkreises, die zudem in einer beeindruckenden Reihe nebeneinanderstehen. Aber: Wieso sind solche Figuren dann Kunstgewerbe (um nicht zu sagen: Kitsch), wenn sie im Souvenirshop angeboten werden; und wieso sind sie Kunst, wenn ein Ai Weiwei sie ins Museum stellt?

 

Laut dem Kunstwissenschaftler und Ausstellungspraktiker Robert Fleck schafft Kunst „Erlebnisse jenseits dessen, was man sieht“. Die Wirkung eines Kunstwerkes erklärt er so: „Man versteht es nicht recht, wird aber innerlich berührt“ 1)  – Tut mir leid, aber das ist mir zu großzügig, oder besser: zu nichtssagend. Kunst erklärt sich also aus individuellem Empfinden. Natürlich ist das nur eine weitere Formulierung der uralten These, Schönheit (oder eben: Kunst) liege im Auge des Betrachters. Aber macht man es sich damit nicht zu einfach? Überlässt der Beliebigkeit die uneingeschränkte Herrschaft?

 

Immerhin: Fleck versucht zu erklären, was die „innerliche Berührung“ auslöst: „Es ist ein zusätzliches Moment vorhanden“, ein „Plus“, das „über das, was man sieht, hinaus fasziniert“. Natürlich ist damit nicht viel gewonnen. Die Frage bleibt: was ist dieses Plus?

 

Bei Ai Weiwei könnte man dieses „zusätzliche Moment“ schnell finden: seine Widersetzlichkeit gegen ein autokratisches Regime, seine Drangsalierung durch eine mächtige Obrigkeit, kurz: die politische Dimension seiner Arbeit.

 

Diese politische Dimension beherrscht auch die Evidence-Ausstellung. Mag sich bei vielen Exponaten die Frage aufdrängen: „Warum ist DAS Kunst?“ – bei mindestens ebenso vielen drängt sich die Antwort auf die Frage auf: „Was will uns der Künstler damit sagen?“

 

So, wenn er kritisch Bezug nimmt auf das verheerende Erdbeben vom Mai 2008, indem er aus den Trümmern geborgene Armierungseisen nicht nur im Original ausstellt, sondern auch in Marmor nachbildet: damit erinnert er an den Verdacht, dass Behördenschlamperei beim Bau (von Schulen und anderen Gebäuden) für die zahlreichen Toten und Verletzten mitverantwortlich seien. Und er konterkariert das offizielle Bestreben, die Folgen der Katastrophe mit einer Politik des Stillschweigens zu übergehen.  

Seine schematischen Landschaftsmodelle kann man so ähnlich - wenn natürlich auch nicht aus edlem Marmor gefertigt – zu Dutzenden in jedem geografischen Institut betrachten. Ai Weiweis Modelle werden dadurch politisch „aufgeladen“, dass es dabei um die Diaoyu-Inseln geht, um deren Zugehörigkeit sich China und Japan streiten. 

In zahlreichen Arbeiten reflektiert Ai Weiwei seine eigene Situation als Kritiker / Verfolgter des Regimes: wenn er einfach das Büromaterial auf dem Boden ausbreitet, das aus seinem Atelier konfisziert wurde. Oder – besonders eindrucksvoll -: Wenn er die Zelle nachbaut, in der er 81 Tage lang in Isolationshaft gehalten und rund um die Uhr überwacht wurde. Das spricht für sich!

Andere Exponate bedürften – für uns Westler zumal – der Erläuterung: der Haufen aus Tausenden von Flusskraben beispielsweise, die zahlreiche Helfer für Ai Weiwei aus Porzellan geformt haben: Dazu muss man wissen, dass die chinesische Bezeichnung für Flusskrabbe – He xie – so klingt wie Hexie, das klassische Wort für „Harmonie“, das aber in jüngerer Zeit vor allem für „Harmonie mit der Regierung“ steht, also für „Erhaltung der Stabilität“, Konformität, Gleichschaltung ...

 

Also, kein Zweifel: Ai Weiwei ist begabt, vielleicht sogar genial ... als politischer Aktionist, als ideenreicher Kritiker eines kritikwürdigen Systems. Als solcher hat er unstreitig beeindruckende Werke geschaffen! Aber muss ich die deshalb schon für Kunst halten? Ai Weiwei ist nicht der erste Große der Kulturgeschichte, der die Politik kritisiert, ohne dass damit eine große künstlerische Leistung verbunden wäre. Ein Musterbeispiel dafür ist Brechts Gedicht  Die Lösung. Manche schätzen Brecht als Lyriker noch höher ein denn als Dramatiker. Mit Recht, finde ich; aber „Die Lösung“ ist dafür kein Beleg: Das ist eine genial-ätzende Kritik am DDR-Regime, ja -  aber es ist kein Gedicht. Das ist Prosa, und noch nicht mal gute!

 

Also: Ai Weiwei genoss (!) meinen Respekt als mutiger, engagierter, unermüdlicher Regimekritiker! Mit Respekt für ihn als Künstler tue ich mich erheblich schwerer. Wegen der (teilweisen) Beliebigkeit seiner Werke.

 

Aber auch: weil er selbst Respekt für fremde Kunst vermissen lässt!

 

Ai Weiwei – ein Herostrat der Gegenwart?

Im Gropiusbau sind auch die „Vasen aus der Han-Dynastie mit Autolack“ ausgestellt: Vasen also aus der Zeit um Christi Geburt, der Anfangszeit chinesischer Porzellankunst. Und diese antiken Stücke hat Ai Weiwei mit ordinärer Autofarbe lackiert; früher hat er auch mal eine mit der Aufschrift „Coca Cola“ verunziert.

 

Als die Taliban die Buddha-Statuen von Bamiyan zerstörten, gab es in der Kulturszene weltweit (zumindest außerhalb islamischer Gesellschaften) einen empörten Aufschrei wegen dieses Kulturvandalismus. Wenn Ai Weiwei dafür sorgt, dass „keine der Vasen mehr als antikes Artefakt zu erkennen“ ist, dann lässt man ihn im Ausstellungskatalog herumsülzen: unter der neuen „Oberfläche verbergen sich der Schimmer und die Textur der Vasen ...  unterhalb der dünnen Oberflächenschicht (ist) die Geschichte und Komplexität des Originals intakt geblieben“ 2)

 

Schon vor 20 Jahren hat Ai Weiwei eine solche Vasen fallen und am Boden zerschellen lassen und diese  Aktion zum „Kunstwerk“ erklärt. Nein – die Fotoserie, der er voll Stolz davon hat anfertigen lassen, zeige ich nicht auch noch! 

 

Die Taliban hatten für ihren Akt des Ikonoklasmus wenigstens eine religiöse Begründung, konnten sich sozusagen auf eine höhere Autorität berufen (NEIN! Das heißt NICHT, dass ich diese Auffassung teile!). Ai Weiwei beruft sich allein auf sein „Künstlertum“, das er offenbar höher einschätzt als das der Vasenmacher. So, wie Herostratos einst den Tempel der Artemis (eines der sieben Weltwunder der Antike) angezündet hatte, nur um berühmt zu werden, so zerstört Ai Weiwei ein Kulturgut, allein um seinen eigenen Ruhm zu mehren. 

Welche Arroganz!

Die Respektlosigkeit gegenüber Künstler- (oder auch: Architekten-) Kollegen setzt sich fort in seiner Fotoserie „Study of Perspektive“: Rund um den Globus hat Ai Weiwei markante Fotomotive gesucht, um ihnen seinen „Stinkefinger“ zu zeigen. Ai Weiweis Stinkefinger für eine Überwachungskamera? – Aber ja doch! – Ai Weiweis Stinkefinger für den Platz des Himmlischen Friedens? – Verständlich, angesichts der blutigen Geschichte dieses Platzes. – Der Stinkefinger für ein Kreuzfahrtschiff, die New Yorker Skyline? – Nun ja ...  Der Stinkefinger für den Petersdom, den Yasukuni-Schrein und andere religiöse Stätten? – Hmm? – Für das Kolosseum? Für die Oper in Sydney? Die Tate Modern? Den Louvre im Allgemeinen und die Mona Lisa im Besonderen? (Nein, auch diese Fotos zeige ich nicht!)

 

Als ich die Fotoserie zum ersten Mal gesehen hatte, schoss mir spontan durch den Kopf: „Was für ein arrogantes A ...!“ – Dann habe ich erst mal recherchiert, ob mit diesem emporgereckten Mittelfinger tatsächlich der „Stinkefinger“ gemeint sei, oder ob die chinesische Kultur damit womöglich etwas ganz anderes verbinde ... Nach allem, was ich gefunden habe (einschließlich des Fotografen eigenen Beitrag im Ausstellungskatalog): Es ist der Stinkefinger!

 

Und mit der Verächtlichmachung anderer Kunst und Architektur hört Ai Weiwei noch nicht auf. Dieser hehre Kämpfer gegen ein Unrechtssystem beehrt mit seinem Stinkefinger auch: Das weiße Haus. Den Berliner Reichstag. Das Parlament in Bern. The Houses of Parliament in London ...  Nein – ich behaupte nicht, dass in all diesen Institutionen DIE perfekte Demokratie praktiziert werde. Aber der Reichstag beherbergt sicherlich das „demokratischste“ Parlament, das Deutschland je hatte. The Houses of Parliament gilt als „Mutter aller Parlamente“ und hat damit zumindest eine Symbolfunktion. Und wenn selbst die schweizer Demokratie verächtlich gemacht werden kann ...

 

Durch diese Fotos ist mein Respekt, mein Mitgefühl für den Fotografen als den Verfolgten eines Unrechtsregimes schlagartig auf Null gesunken. 

  1. Robert Fleck: Was kann Kunst?. – Edition Konturen. Wien Hamburg 2014. S. 7 ff.
  2. Ai Weiwei: Evidence. – Ausstellungskatalog, herausgegeben von Gereon Sievernich. – 2014. – S. 185