Kinder oder Kultur? – Kinder und Kultur!
Kulturmetropole London
British Museum: Raubkunst oder Schutz vor IS-Vandalen?
g.WaSa - London ist eine DER europäischen Kulturmetropolen. Der Kunstfreund mag von der Tate Britain über National Gallery und Victoria&Albert Museum bis zur Tate Modern pilgern und dazwischen noch x-mal Zwischenstation machen.
Und erst der Theater-Fan ... der kann sich morgens am Leicester-Square vor der Ticket-Box anstellen und sich überlegen, welchen der reichlich angebotenen Restplätze für diesen Abend er für wenig Geld erwerben möchte; oder er hat sich schon vorab Tickets reserviert und hatte dabei die Qual der Wahl zwischen experimentellen Theaterformen der zahllosen Off-Bühnen, dem gutbürgerlichen Theater der klassischen Moderne und der Nostalgie in „Shakespeare’s Globe“, wo das Publikum (fast) sitzt wie im Jahr 1603, als der Hamlet uraufgeführt wurde, wo die Darsteller (fast) spielen wie zu Shakespeares Zeiten und wo man (beinahe) erwarten möchte, dass der Meister selbst plötzlich auf die Bühne gesprungen kommt.
Am langen Fronleichnams-Wochenende beispielsweise stand „King John“ auf dem Globe-Spielplan und „The Merchant of Venice“; das Coliseum spielte „Carmen“ – eine meiner Lieblingsopern, dazuhin noch in einer Inszenierung des international wohl spektakulärsten (um nicht zu sagen: skandalträchtigsten) Regisseurs Calixto Bieito ...
Kultur für Kinder
Allerdings: diesmal waren wir mit den Enkeln unterwegs – und da galt es immer abzuwägen, wieviel (und welche) Kultur für einen 8-jährigen erträglich sei (dem Einjährigen ist eh egal, wo er ist, Hauptsache: Mama, Papa & großer Bruder sind dabei und es gibt regelmäßig was zu futtern).
Also gings – anstatt in die Tate Britain - zum riesigen Saurier-Skelett im Natural History Museum. Die direkt am Ufer der Themse gelegene Tate Modern bewunderten wir diesmal nur von außen – vom Bootsdeck während einer Flußrundfahrt. - Im Royal Opera House mussten La Bohème, La Traviata, oder der nachmittägliche Faun auf uns als Publikum verzichten; stattdessen unterhielt uns die Royal Horse Guard mit ihrem Wachablösungs-Spektakel.
Auch auf den Kaufmann von Venedig im Globe haben wir verzichtet, um uns lieber die Gaukler von Covent Garden anzusehen. Hier, mitten zwischen Straßencafés, den Markthallen, die wie eine Mischung aus Basar und Flohmarkt anmuten, und all den Musikanten, Akrobaten, Zauber- und Entfesselungskünstlern darf man sich durchaus einbilden, immer noch ein klein wenig vom alten Eliza-Doolittle-Flair zu erahnen, auch wenn der traditionelle Obst- und Gemüsemarkt längst in die verkehrsgünstigeren Außenbezirkte verlegt worden ist.
Von den Gauklern, allerdings, – die im übrigen nicht etwa „spontan“ auftreten, sondern nach genau vorgegebenem Stundenplan – sollte man nicht allzu viel erwarten. Ein paar gängige Entfesselungstricks, etwas sparsam dosierte Akrobatik – egal, dem 8-jährigen Enkel hat’s ganz gut gefallen (der hat ja auch das eher dümmliche Geschwätz nicht verstanden, aus dem die Nummern vor allem bestanden). Immerhin hübsch anzusehen und anzuhören: ein Quartett (3 Streicher + Flöte), das klassische Musik mit witzig-pantomimischer Körpergestik verband.
Erlebnis für Großvater und Enkel: London Transport Museum
Als besonders kindgerechtes Museum kann ich das London Transport Museum empfehlen, das die Entwicklung des (öffentlichen) Verkehrs von der Sänfte bis zum U-Bahn-Netz von Shanghai nachzeichnet. Der Enkel konnte hier nach Herzenslust am Steuer eines Londoner Buses kurbeln und durfte vor allem am Fahrsimulator bis zur Erschöpfung eine U-Bahn lenken. Aber auch der Opa hatte hier noch das eine oder andere Aha-Erlebnis: z. B. dass schon im 19. Jahrhundert um’s Rauchen in der U-Bahn gestritten wurde – wobei das bisschen Zigarrenrauch wohl kaum ins Gewicht fiel gegenüber den Abgasen der kohlebeheizten Loks! – Oder: welchen Umfang schon vor dem Dampfzeitalter der Öffentliche Nahverkehr in London hatte: mit Pferden als Kraftquelle – und was das für (logistische) Folgen hatte!
Und eine Installation erinnerte mich verblüffend an Andreas Kriegenburgs „Don Juan kommt aus dem Krieg“-Inszenierung, August 2014, in Salzburg: dort wurde das Bühnenbild beherrscht von Hunderten von Feldpostkarten, die von der Decke hingen. – Hier nun ein ganz ähnliches Bild: Anlässlich der Ausstellung „Goodbye Piccadilly: from Home Front to Western Front“, die ab Mai 2014 an den Beginn des Ersten Weltkriegs erinnerte, wurden Besucher eingeladen, ihre Grüße an Weltkriegs-Teilnehmer auf Reproduktionen damaliger Bus-Tickets zu schreiben: und diese hängen jetzt zu Hunderten von der Decke des Transportmuseums. Zufall? Oder wer hat da von wem abgekupfert?
British Museum: Kultur für die ganze Familie
Und ein bisschen klassisches Kulturerlebnis, auch für die Großeltern, musste einfach sein. Da bot sich das British Museum an, das mit seinen kaum überschaubaren Schätzen auch nach dem x-ten Besuch noch nicht abgehakt ist und das für alle Alters- und Interessengruppen Sehenswertes anzubieten hat. Zudem ist der Eintritt – außer für Sonderschauen – frei. Und während viele Museen (wohl aus Angst um ihre Katalogverkäufe) ein mehr oder weniger striktes Fotografierverbot verhängt haben, darf man hier nach Herzenslust fotografieren (wenn ich das richtig mitbekommen habe: sogar mit Blitz).
Schätze aus aller Welt – zusammengestohlen? Oder gerettet?
In den großartigen Beständen dieses imposanten Museums spiegelt sich immer noch die Vielfalt und der kulturelle Reichtum des alten British Empire wider, aus dessen verschiedenen Teilen die einstigen Kolonialherren die Schätze zusammengetragen haben. Oder: zusammengestohlen, wie es ihnen beispielsweise Brecht in seiner unnachahmlichen Lakonie unter dem Buchstaben „I“ seines „Alfabet“ (1934) vorgeworfen hat:
„Indien ist ein reiches Land.
Die Engländer stehlen dort allerhand.
Die Leute in Indien
Müssen sich drein findien“
Parthenon-Fries oder Elgin-Marbles?
Eines der bekanntesten Beispiele für diesen Streit um „gestohlen oder gerettet“, um den rechtmäßigen Standort von Kulturgütern ist der Parthenon-Fries im British Museum:
Parthenon ist der große, zentrale Athene-Tempel auf der Akropolis in Athen. Entlang der Mauerkrone des Tempels verlief über die volle Länge aller vier Seiten ein Fries, der angeblich von dem berühmten Bildhauer Phidias (* um 490 v.Chr.) (mit-)gestaltet wurde. Er bestand aus über 90 Marmorplatten von 106 cm Höhe und einer Gesamtlänge von 160 m und zeigte 360 Götter- und Menschenfiguren sowie zahlreiche Tiere, Wagen usw. (mehr:)
1801 war Lord Elgin britischer Botschafter im Osmanischen Reich, zu dessen Herrschaftsgebiet auch Athen gehörte. Er erhielt die Genehmigung, die Akropolis zu untersuchen – was er dazu nutzte, einen großen Teil des Frieses sowie einige weitere Marmorskulpturen abzubauen und nach England zu bringen; 1816 wurden diese „Elgin Marbles“ vom British Museum gekauft, wo sie bis heute eine der Haupt-Attraktionen bilden.
Die Griechen betrachten das als Diebstahl ihres Kulturerbes und verlangen die Rückgabe. Dagegen argumentiert die britische Seite, der Fries sei bereits zu Lord Elgins Zeiten stark beschädigt gewesen und wäre inzwischen ganz zerstört oder verschwunden, sie verweisen dabei – durchaus nachvollziehbar – auf das Desinteresse der dortigen Behörden und die Baufälligkeit des mehr als 2000 Jahre alten Gebäudes, auf Räubereien und schließlich Schäden durch Luftverschmutzung. Lord Elgin sei daher nicht als Räuber, sondern als Retter der „Elgin Marbles“ anzusehen, was offensichtlich werde, wenn man den Erhaltungszustand der in London aufbewahrten Teile mit dem der in Athen verbliebenen vergleiche. Zudem habe gerade die aufsehenerregende Ausstellung des Frieses im British Museum erst wieder auf die Akropolis im Besonderen und auf das griechische Kulturerbe im Allgemeinen aufmerksam gemacht und sei so zum Auslöser für die Griechenlandbegeisterung der internationalen Kulturwelt im 19. Jahrhundert geworden.
Nofretete & Co.: Nationaleigentum oder Weltkulturerbe
Das Thema „Raubkunst“ spielt also nicht nur im Zusammenhang mit Drittem Reich und Zweitem Weltkrieg eine Rolle. Der Parthenon-Fries ist nicht das einzige Kulturgut, um dessen Verbleib gestritten wird. Auch deutsche Museen sind betroffen, allen voran die Berliner Museumsinsel: Ägypten hätte gern die Nofretete zurück, die Türkei den Pergamonaltar ... Die derzeitigen Besitzer argumentieren mit der „gewachsenen Museumslandschaft“, die durch massenhafte Rückgaben veröden würde. Wie ist es: Wenn ein Werk schon „WELT-Kulturerbe“ ist – kann es dann nicht überall auf der Welt ausgestellt werden? Oder: Gehören alle Gutenberg-Bibeln nach Deutschland? Alle Rodin-Skulpturen nach Frankreich? Alle Turner-Gemälde nach England? Alle Warhol-Werke in die USA? Nun sind die Rückgabeforderungen längst nicht so umfassend. Es werden bei jedem Objekt die jeweiligen Umstände zu diskutieren sein. Im Fall des Parthenon-Frieses: Wäre es nicht besser, das ursprüngliche Gebäude würde wieder komplettiert, um als Ensemble, als Gesamtheit wirken zu können? Diese Frage verliert allerdings an Gewicht, da Athen inzwischen ein eigenes Museum für die in Griechenland verbliebenen Reste des Frieses gebaut hat. Damit ist zwar der britische Vorwurf – „Ihr könnt den Fries ja gar nicht angemessen unterbringen!‘ – ausgeräumt, allerdings fällt auch das Argument der Wiederherstellung des ursprünglichen Gebäudes weg. Denn wenn der Fries schon nicht am Parthenon zu bewundern ist, sondern in einem Museum – ist es dann mehr als ein gradueller Unterschied, ob dieses Museum 600 Meter Fußweg oder dreitausend Kilomenter Luftlinie entfernt ist?
Islamischer Staat und „Fowling Bulls“
„An ihrem Ursprungsort hätten die Kunstwerke gar nicht bis heute überdauert.“ - Das Argument, mit dem die Briten bereits den Verbleib des Parthenon-Frieses in London rechtfertigten, hat in jüngerer Zeit erheblich an Gewicht gewonnen: Durch die Zerstörung uralter Kunstschätze im arabischen Raum. Es ist schon ein Aha-Erlebnis, wenn man in der assyrischen Abteilung des British Museum plötzlich vor den überdimensionalen geflügelten Stieren mit Menschenköpfen steht, die im Palast König Sargons II. als „Torwächter“ dienten und jetzt im klimatisierten Museumssaal eine sichere Heimat gefunden haben – wenn man kurz zuvor noch in den Medien gesehen hat, wie islamistische Kulturbarbaren ganz ähnlichen Figuren mit Presslufthämmern zu Leibe rückten.
Übrigens hat der Besuch dieser „human-headed winged bulls“ aus dem 8. Jahrhundert v. Chr. endlich ein Rätsel aus meiner Kindheit gelöst: Ich weiß jetzt, was ein „Fowlingbull“ ist. Da gab es nämlich diesen exzentrischen englischen Lord Lindsay, der mit Karl May durchs wilde Kurdistan und von Bagdad nach Stambul geritten ist, immer eine Hacke und einen Spaten am Sattel hängend:
„Habe gelesen von Babylon – Ninive – Ausgrabung ... Will hin – auch ausgraben – Fowlingbull holen – Britisches Museum schenken ... Travellers Club erzählen ...“:
„Fowlingbull“ war also die etwas missglückte (Rück-)Übersetzung von „geflügelter Stier“ – damals konnte ich mir darunter nicht so recht etwas vorstellen. Aber ich hatte ja auch keine Großeltern, die mich mit ins British Museum genommen hätten!
Auch für Kinder interessant:
Löwenjagd, Mumien und Stein von Rosette
Und damit wäre ich also wieder zurück bei meinem Enkel, den wir in dieses vielseitige Museum einfach mitgeschleppt haben – und der auch tatsächlich genug Interessantes dort entdeckt hat; und dabei haben wir die umfangreichen Vorschläge, die das Museum auf seiner Internetseite für den Besuch mit Kindern macht, erst im Nachhinein entdeckt (in Kurzfassung auch auf Deutsch ).
Aber es ging auch so: Die geflügelten Stiere fand er durchaus beeindruckend; noch interessanter war die Löwenjagd im benachbarten Saal. Unseren Besuch des Parthenon-Frieses hat er mit erstaunlicher Geduld begleitet.
Und dann waren da noch die Mumien! Die waren das Lockmittel gewesen, um den 8jährigen überhaupt für einen Besuch im British Museum zu begeistern. Schließlich hatten wir ihm vor einiger Zeit schon die uralte peruanische Kindermumie im Lippischen Landesmuseum gezeigt; und in Münchem hatten wir mit ihm die „Dachauer Moorleiche“ (die in Wirklichkeit eine Inkafrau war, also ebenfalls aus Südamerika stammte) besucht; dort hatte er auch eine Nachbildung des „Ötzi“ gesehen; und zu allem Überfluss hatten ihn die bildungsbeflissenen Großeltern mit der einschlägigen kindgerechten („pädagogisch wertvollen“) Mumien-Literatur versorgt (u. a. aus der empfehlenswerten Reihe „Was ist was?“) – da musste jetzt der Besuch in der reichhaltigen Sammlung ägyptischer Mumien einfach sein!
Zum weiteren Pflichtprogramm haben wir dann noch den Stein von Rosette erklärt. Da war natürlich schon mal beeindruckend, dass die Vitrine dauernd von dichten Menschentrauben umlagert war, insbesondere von Schulklassen in ihren erstaunlichen Schuluniformen! Da hat man sich dann – als endlich der Platz direkt vor der Scheibe erkämpft war – von der Oma gern erklären lassen, wie es mit Hilfe dieses dreisprachigen Steines einst gelungen ist, die ägyptischen Hieroglyphen zu entziffern.
St Martin in the Fields – die überraschende Kultur-Praline
Tja, und gelegentlich findet man ganz überraschend noch eine kleine aber köstliche Kultur-Praline – ganz einfach auf der Straße, oder doch gleich neben der Straße. Auf dem Weg zum Trafalgar Sqare (die Enkel spielten noch, von den Eltern wohlbehütet, im Transportmuseum) kamen wir an der kleinen Kirche St. Martin in the Fields vorbei – Freunden (klassischer) Musik wohlbekannt als Refugium Sir Neville Marriners und seines Kammerorchesters „Academy of St Martin in the Fields“. An diesem Abend sollten hier Händels Coronation Anthems aufgeführt werden, „A Choral Concert by Candlelight“, aber zu der Zeit wollten wir ja mit den Enkeln in China Town chinesisch essen gehen. Und dann – welche Überraschung, als wir die Kirche betraten: Vorne im Chor hatten sich die Künstler eingefunden, um das abendliche Programm noch einmal durchzugehen. Zwar noch in Alltagskleidung und ohne Candlelight, stattdessen mit gelegentlichen kurzen Pausen für letzte Absprachen – aber das beeinträchtigte nicht den unerwarteten musikalischen Genuss - sogar ohne Eintritt.
Einfach so!