Viel Kunsthandwerk: diesmal auch in der Halle
Detmolder "Kunsttage 2015": Begeisterung und Enttäuschung
g.WaSa Detmold - Es ist schon ein Kreuz, mit der niedrigen Geburtenrate und der Auflösung des Großfamilien-Verbandes! Früher war‘s normal, dass Großeltern mit ihren Enkeln auf den Spielplatz gingen. Da war die Begeisterung dann groß, wenn der Dreijährige erstmals allein aufs Klettergerüst stieg („Aaah!“), zum ersten Mal über den Laufbalken wackelte („Oooh!). Wo gibt es das heute noch? Doch zum Glück kann man für derartige Erlebnisse ins Museum oder zur Eröffnung der 42. Detmolder Kunsttage gehen:
Selbstgebauter Abenteuerspielplatz:
Jonas Jahnke (* 1983 in Lichtenfels)
Studium der bildenden Kunst/Bildhauerei an der Akademie Nürnberg
Denn da hat ein kind-gebliebener, fleißiger Handwerker (Jonas Jahnke) sich eine Baustelle als Abenteuerspielplatz gebaut, wo er – zur Faszination des Publikums - über schmale Planken balanciert und durch Auslösung von Kontakten mal eine Tür öffnet, mal einen Eimer nach oben oder unten schweben lässt. Aah! Oooh!
Wenn einem dazu (im Programmheft) noch universelle Erkenntnisse präsentiert werden („Handlungen haben eine Wirkung“) und die ewige philosophische Frage nach dem Wesen des Menschen völlig neu gestellt wird („Angetrieben oder betreibend?“) – dann, ja, dann muss es wohl Kunst sein!
Kunst ist Kunst weil sie Kunst ist
Kunst ist es natürlich schon deshalb, weil es bei den Kunsttagen gezeigt wird. Denn schließlich ist diese Definition für Kunst genauso legitim, wie die allgemein übliche, die aus folgendem Zirkelschluss besteht: „Kunst ist, was von einem Künstler gemacht wurde. Und Künstler ist jemand, der Kunst macht.“
Zwischen Kindergarten und Giacometti:
Udo Unkel (* 1966 in Lüdinghausen)
Ausbildung zum Steinbildhauer, Diplom-Studium Objektdesigner FH Dortmund
Das Kindlich-Spielerische des 32-jährigen Jünglings Jahnke mag man mit Amüsement quittieren. Aber wie ist das bei Udo Unkel, der uns doch als gestandenes Mannsbild entgegentritt und dessen Werke dennoch an Kinderspielzeug erinnern? Ja, bei ihm darf man sogar mitspielen! - Wie so oft liegt der Unterschied zwischen Banalität und Kunst in der Formulierung. Wo mein Enkel auf dem Spielplatz mit einem einfachen „Opa, tomm! Mitspiel‘n!“ auskommt, drückt das die promovierte Kunsthistorikerin Annette Georgi schon elaborierter aus:
„Die Kommunikation zwischen Kunst und Betrachter ist dem Künstler wichtig … Sie strebt … hin zu einer kritischen und selbstkritischen Auseinandersetzung mit dem Menschen und seinem Verhalten in der Welt“.
Im konkreten Fall der Unkelschen Ausstellungsobjekte heißt das: der Besucher … Entschuldigung, bleiben wir doch im Jargon: der Rezipient darf auf Knöpfchen drücken, damit sich die quietschbunten „Monster“ im gelben Vogelkäfig gar anmutig bewegen, damit das schweinchenrosa „Snowball Monster“ in der transparenten Plastikdose allerliebst mit den Flügeln flattert und ein fulminantes Styropor-Kügelchen-Schneestürmchen verursacht …
Dabei kann Unkel doch viel mehr! Neben dem Video einer Geldzählmaschine, zu dem nichts weiter zu sagen ist, stellt er zwei Metallskulpturen aus, die man aus der Entfernung für Miniaturen von Giacometti halten möchte: „Der Reisende“ und „Cisseis“ (nicht einmal Wikipedia weiß, wer Cisseis war. Aber Google führt zu „Vollmer’s Mythologie aller Völker“ von 1874; und dort erfährt man: „Eine von den Nymphen … welche von den Göttern unter die Sterne versetzt wurden, wo sie als Hyaden im Stier zu sehen sind“).
Bei näherer Betrachtung zeigt sich dann schnell der eigenständige Charakter dieser Figuren: in der individuellen Körpergestaltung und vor allem in den ausdrucksstarken Gesichtern – für mich gehören die beiden zu den wenigen Höhepunkten dieser Ausstellung; davon hätte ich gerne mehr gesehen, sehr gerne auch auf Kosten der albernen Spiel-Monster (oder Monster-Spiele)
„angetrieben“
Jedoch passen die Knöpfchen-drück-Spielchen natürlich viel besser zum diesjährigen Ausstellungsmotto: „angetrieben“, das bei den Besuchern „viele Assoziationen“ wecken soll:
„Was treibt wen und wie an? Wer treibt was und wen an? … ein Ziel wird nur mit entsprechendem Antrieb erreicht … (Es) wird etwas in Bewegung gebracht. Und Bewegung bedeutet … Veränderung.“ Vom lateinischen „motus“ kommt nicht nur „Motor“, sondern auch „Motiv“ – was wiederum reichlich Assoziationen erlaubt:
„Wovon werden Künstler angetrieben? Was treibt die Kunst im Betrachter an? … In der Ausstellung treibt die Kunst Kunst an. Bewegte Kunst und bewegende Kunst darf zum Wundern antreiben. Denn das Höchste, wozu ein Mensch gelangen kann, ist das Erstaunen (Goethe).“ (Christiane Fischer im Ausstellungskatalog)
Insofern scheint die Ausstellung gelungen. Denn das „Erstaunen“ ist fast allgegenwärtig. Erstaunen darüber, was alles Kunst sein kann. Oder: Was alles es dieses Jahr von draußen, vom Schlossplatz (wo das sogenannte „Kunsthandwerk“ seinen Platz hat) herein geschafft hat in die Stadthalle, wo eigentlich die „richtige Kunst“ ausgestellt werden soll.
„Maschinen, die sich selbst genügen“:
Jörg Wiedemeier (* 1969 in Detmold)
ausgebildeter Energieanlagenelektroniker; Arbeiten mit Holz
Beispielsweise die Holzarbeiten von Jörg Wiedemeier, die Namen tragen wie „Uhrwerk“, aber nur so aussehen, als würden sie etwas bewegen. Denn – wie Dr. Joachim Kleinmanns, Vorsitzender des „Kunstraum Detmold e. V.“ in seiner Einführung verriet – diese Werke können zwar „mit Muskelkraft angetrieben werden, ohne aber selbst etwas zu bewegen“, es sind also „Maschinen, die sich selbst genügen“. Fast drängte sich der Begriff „l’Art pour l’Art“ auf, eben: „Kunst, die sich selbst genügt“, aber dann erscheint das Wort „Kunst“ doch zu sehr als Euphemismus für diese aufwendige Bastelei – unabhängig davon, ob (und wie lange) das „Uhrwerk“ nun tatsächlich die richtige Zeit anzeigt oder nicht.
Schattenspiele – kosmisch bis biedermeierlich:
Mario Krohnen (* 1968 in Detmold)
ausgebildeter Energieanlagenelektroniker und examinierter Altenpfleger
Kunsthandwerk auch: die Schattenspiele („Sternlauch“ zum Beispiel) von Mario Krohnen, die – von einem Motor angetrieben – einfach nur um sich selbst kreisen und halt hübsch-dekorativ sind. Biedermeier!
Über erheblich mehr "Antrieb", über Power verfügen die planetaren Installationen: zusammengesetzt aus Objekten, die wie zufällig gefunden wirken: Metallteile, Hölzer, eine Flasche, eine Distel, ein Tierschädel … Sein „MARS“ erinnerte mich – gerade auch in seiner Konfrontation mit dem eigenen Schatten – an ein Calder-Mobile, wie es kürzlich als Unikat in der Berliner „Sammlung Berggruen“ ausgestellt war. Allerdings ist Krohnens „Hänge-Installation“ erheblich komplexer als Calders Mobile und besitzt außerdem eine zusätzliche interessante Dimension in Form eines Kreises aus weißen Flußkieseln und schwarzer Kohle, der auf dem Boden die Grenzen (?) des rotierenden MARSes markiert, und dessen faszinierende Rätselhaftigkeit durch einen Kompass und einen rotierenden roten Laser-Point noch akzentuiert wird.
Auch eine Kunst: faszinierende Präzision:
Achim Stiermann (* 1975 in Nürnberg)
Kunstakademien in Wien und Nantes
Kunsthandwerk schließlich: die sich bewegenden Figuren aus bunten Trink-Strohhalmen, zusammengefügt von Achim Stiermann: ein von einem Elektromotor angetriebener „Mercedes“ (oder eine Mercedes? schließlich ist das eigentlich ein Mädchenname).
Und vor allem: die Tennisball-Kreislaufmaschine: ein wahres Faszinosum! Wie dieser Ball nach oben transportiert und dann „freigelassen“ wird – aber über mehrere Zwischenstationen gerade so hüpfen muss, dass er wieder genau am Ausgangspunkt landet, bereit für einen neuen Kreislauf! Dies in der Installation so präzise hinzubekommen, ist wahrlich eine Kunst! Aber ob dieser volkstümliche „Kunst“-Begriff das trifft, was man gemeinhin von einer „Kunst-Ausstellung“ erwartet?
Die Maschine als Künstler:
Burchhard Garlichs (* 1969 in Düsseldorf)
Kunsthochschule Bremen; Bildhauer-Meisterschüler an der Akademie Düsseldorf
Ausdrücklich kein „Handwerk“, sondern Maschinenwerk (aber deshalb Kunst?) präsentiert uns Burchhard Garlichs: an die rotierende Spule eines Kassettenrekorders hat er einen Stift gehängt, der zufällig erzeugte Punktwolken auf Papier zeichnet – nüchtern „Kassettenrekorderzeichnungen“ genannt. War man dafür „Meisterschüler“? Um später Kunst an ein Maschinchen zu delegieren?
Einen vergleichbaren Effekt kann (sogar mit etwas mehr Handarbeit) erreichen, wer draußen, auf dem Kunsthandwerkermarkt, für sagenhafte 12 Euro ein primitives Spielzeug kauft: einen ordinären Bleistift, der durch eine billige blaue Plastikscheibe zum Kreisel gemacht wurde, und nun beim Kreiseln auf Papier Ringe und Linien hinterlässt. Wer wollte mich hindern, die Ergebnisse als „Kunst“ an die Wand zu hängen?
Zwischen Getrieben-Sein und Antrieb
Das alles mag ja ganz dekorativ sein – aber zeugt es wirklich von einem „Getrieben-Sein“, wie es Joachim Kleinmanns den Ausstellern bescheinigt hat, die sich nach seinen Worten „alle kritisch mit der heutigen Welt und Gesellschaft auseinandersetzen“? Da ist Detmolds stellvertretende Bürgermeisterin Christ-Dore Richter in ihrem Grußwort bescheidener – und realistischer, wenn zwar auch sie (natürlich!) auf den Begriff „Antrieb“ zurückgreift, den aber eher in einen privaten anstelle des großen gesellschaftspolitischen Zusammenhang stellt und den Beteiligten immerhin zugesteht, sie seien „angetrieben, Kunst zu machen“.
Aber was bleibt denn nun noch an „Kunst“?
Da sind noch zwei Videoarbeiten. Zunächst, im Getriebensein des Eröffnungsabends, habe ich sie nur oberflächlich, en passant, wahrgenommen. Da schienen sie mir belanglos. Nach einem zweiten Betrachten, mit der erforderlichen Muße, mochte ich mein Urteil nicht revidieren.
Wirklich beeindruckt haben mich – neben Unkel mit seinen Metallskulpturen und, ein bisschen, Krohnens Planeten – lediglich zwei Aussteller mit Werken in (zugegeben) reichlich „konventioneller“ Technik:
Blühende Albtraumlandschaften:
Alexander Schellbach (* 1976 in Blankenburg/Harz)
Studium „Keramik“ und „Grafik“, Kunsthochschule Halle
Da sind einmal die Fotos von Alexander Schellbach: in einer düsteren Schwarz-Weiß-Optik zeigen sie verlassene Industrieruinen. Die Ortsbezeichnung „Rödersdorf“ bietet der Phantasie ein weites Feld – was mag da wohl geschehen sein? Sind das Helmut Kohls „blühende Landschaften“? Irritiert wird man durch „Fremdkörper“ wie Tannen, die mitten im Gebäude wachsen oder durch rätselhafte Objekte wie das „Relikt“. Dadurch zum genauen Hinsehen geradezu gezwungen, erkennt man, dass dies gar keine Fotos sind, sondern äußerst akribisch gefertigte Kohlezeichnungen.
Apokalypse in Mischtechnik:
Benjamin Burkard (* 1986 in Kandel)
Studium Kunst und Biologie, Uni Landau
Und da sind die großformatigen Gemälde von Benjamin Burkard (ein paar kleinere gibt’s auch noch). Das Neben- und Ineinander von düsteren und grellen Farben verleiht ihnen eine eigene Ästhetik. Vor allem die Motivwahl erzeugt eine abstoßende Faszination: eine Welt, immer noch beherrscht von Maschinen, die längst ihre ursprüngliche Funktion verloren haben. Dazwischen gesichtslose Menschen und seltsame Maschinen-Tier-Zwitterwesen. Apokalypse in Mischtechnik auf Leinwand.
Fazit:
Die insgesamt (wenn man die Einzelobjekte von drei, vier Ausstellern aufsummiert) ein bis zwei Dutzend wirklich gute Kunstwerke sollten Anlass genug sein, sich auf den Weg in die Detmolder Stadthalle zu machen, wo „angetrieben“ noch
bis zum Freitag, dem 18. September 2015
bei freiem Eintritt zu sehen ist (täglich 11:00 – 18:00 Uhr).
Und sicherlich rechtfertigt auch so manches der übrigen Objekte den Appell, „sich damit auseinanderzusetzen“, auf den zur Einführung weder Joachim Kleinmanns vom „Kunstraum Detmold“ verzichten wollte, noch Christ-Dore Richter:
„Sie sollten sich antreiben lassen, anzusehen, was es hier an ‚Treibendem‘ und an ‚Getriebenem‘ zu sehen gibt“.
Detmolds stellvertretende Bürgermeisterin verbindet diese Aufforderung mit Lob und Dank für den „Kunstmarkt Detmold e.V.“: diesen kleinen Verein mit zehn Mitgliedern, der (mit Unterstützung zahlreicher ehrenamtlicher Helfer, wie Vereins-Sprecherin Anja Kleinsorge dankbar betont) jedes Jahr diese ambitionierte und von vielen Kunstfreunden immer wieder gern besuchte Veranstaltung ausrichtet – in diesem Jahr bereits zum 42. Mal! (zur Historie: s. Kunsttage 2014).
Ein Lob, dem man sich nur anschließen kann!
PS:
Nein – ich hab ihn weder übersehen noch vergessen: diesen Ventilator, vor den jemand eine brennende Kerze gestellt hat, die ich jetzt beobachten soll, wie sie mal ein bisschen mehr, mal etwas weniger flackert … Das Konzept der „Ready-made“-Kunst hat mich nie überzeugt, weder bei Duchamps, noch bei Beuys, geschweige denn bei den ganzen Apologeten.
Und so drängt sich mir auch bei diesem Objekt – das es ja sogar bis auf den Katalog-Titel geschafft hat! – die Frage auf, von der ich (natürlich!) weiß, wie verpönt sie ist (klar- auch ich mag keine Fragen, die ich nicht beantworten kann), die ich aber dennoch immer wieder stellen werde, zumindest solange, bis ich sie vielleicht doch einmal nachvollziehbar beantwortet kriege: „Was soll daran Kunst sein?“
Oder andersrum: Wenn das Kunst ist – dann ist hier meine Bewerbung für die Kunsttage 2016: Eine alte Leiter aus meinem Schuppen. Die ist eigenhändig aus Holz gefertigt und verfügt – ablesbar an Gebrauchsspuren wie Farbflecken und gebrochenen Sprossen – über eine bewegte künstlerische Vergangenheit, sie war nämlich schon Bestandteil so mancher Performance („artistisches Äpfelpflücken“) und zahlreicher Installationen („Wohnzimmer tapezieren“). Diese Leiter möchte ich vor ein Fenster der Stadthalle stellen. Da kann man sich dann draufstellen, hinaussehen und beobachten, wie der Wind – mal sanfter, mal heftiger – mit dem Laub der Bäume auf dem Schlossplatz spielt …. Die genaue Beschreibung werde ich nachliefern, wenn das Motto der nächsten Ausstellung bekannt ist. Eine darauf passende Formulierung wird mir dann schon einfallen.