Mehr als ein schwarzes Quadrat

„Kasimir Malewitsch und die russische Avantgarde“ in der Bonner Bundeskunsthalle

Bei Van Gogh denkt man an Sonnenblumen, bei Gauguin an Tahiti, bei Rubens an üppige Nackte, bei Beuys an Fett. Zu Picasso fällt einem als erstes „Guernica“ ein – vielleicht; vielleicht aber auch die „Demoiselles d’Avignon“, Dora Maar oder aber die Vielfalt der Stile, die das Genie beherrschte. Wohl keinen Maler verbindet man aber so eindeutig mit einem Bildtitel wie Kasimir Malewitsch. Selbst zu Leonardo assoziiert man außer „Mona Lisa“ noch „Abendmahl“, zumindest aber „Universalgenie“. Malewitsch aber ist das „Schwarze Quadrat“, und das „Schwarze Quadrat“ ist Malewitsch.

Ausstellungs-Katalog

Da ist es gut, dass die Bundeskunsthalle in Bonn jetzt ein umfassenderes Porträt des russischen Avantgardisten zeigt: in der Ausstellung „Kasimir Malewitsch und die russische Avantgarde“ (Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, Museumsmeile, Friedrich-Ebert-Allee 4; vom 03.03.14 bis 22.06.14; vorher im Stedelijk Museum Amsterdam; danach vom 16.07.-22.10.14 in der Londoner Tate Modern).

Vielseitiger Malewitsch

... mehr als ein schwarzes Quadrat!

Die Ausstellung zeigt den „Künstler, Theoretiker und Lehrer“ Malewitsch (1879 – 1935) als eine der „prägendsten Künstlerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts ... zwischen den Polen Abstraktion und Figuration, zwischen einer universalen Idee vom Menschsein und dem erklärten Willen, mit künstlerischen Mitteln eine neue Welt zu gestalten“ (Bundeskunsthalle) – kurz: sie zeigt, dass Malewitsch weit mehr gemalt hat, als ein schwarzes Quadrat!

 

Die Ausstellung erfüllt nicht nur den selbst gesetzen Anspruch, Malewitschs „große Vielfalt ... von den symbolistischen Anfängen über die ... abstrakten Bildfindungen bis zu den figürlichen Darstellungen der späteren Jahre“ vorzuführen, sie ermöglicht dem Betrachter auch (notfalls mit Hilfe des gut gemachten Katalogs oder während einer der empfehlenswerten Führungen) den Weg nachzuvollziehen, den der Erfinder des „Suprematismus“ bis zum „schwarzen Quadrat“ zurückgelegt hat – und darüber hinaus!

 

Dabei fehlt in Bonn ausgerechnet das „schwarze Quadrat“! Dieses lange beschimpfte und verhöhnte, 79,5 x 79,5 cm große Stück Leinwand gilt inzwischen so sehr als „Ikone der modernen Malerei“, dass die Eigentümerin, die Staatliche Tretjakow-Galerie in Moskau, nicht mehr zu einer Ausleihe bereit ist. So muss man sich also mit einem kleinen Foto in der Ausstellung und zwei Abbildungen im Katalog begnügen – was nicht weiter schlimm ist, denn die Vorstellung, die wir uns vom „schwarzen Quadrat“ machen, ist – wie wir noch sehen werden – ohnehin wichtiger als das Werk selbst. So können wir uns also gut und gerne mit den über 300 Exponaten der Ausstellung begnügen, die aus aller Welt nach Bonn gebracht wurden: vom Stedelijk Museum Amsterdam, dem Centre Pompidou in Paris und dem MoMA in New York; aus dem Staatlichen Russischen Museum in St. Petersburg und natürlich auch aus der Tretjakow-Galerie.

Die Anfänge: Vorbilder aus dem Westen und aus Russland

In 10 Stationen kann man Malewitschs Entwicklung chronologisch nachvollziehen – und erfahren, dass er, was die Vielfalt der Stile anbelangt, dem großen Picasso kaum nachsteht (obwohl er einige Dekaden weniger Zeit hatte). Dem Betrachter hilft, dass die einzelnen Abteilungen mit Jahreszahlen sowie einem Epochenbegriff gekennzeichnet sind.

 

Im ersten Raum („1903-1910: Impressionismus, Symbolismus und Fauvismus“) wird deutlich, wie der junge Mann aus Kiew (der aus einem eher „kunstfernen“ Milieu stammte) sich mit den großen Vorbildern aus dem Westen (Monet, Cezanne u. a.; später auch die Expressionisten) auseinandersetzte, aber auch mit der volkstümlichen russischen Malerei sowie  der klassischen Ikonenmalerei.

Der Rückgriff auf diese russischen Wurzeln wird vor allem in der zweiten Periode wichtig („1911 – 1913: Neoprimitivismus und Kubofuturismus“). Die Abkehr vom Naturalismus wird radikal: Malewitsch wollte nicht bloßer „Kopist“ der Realität sein, was er später so beschrieb:

 

meine Vertrautheit mit der Ikonenmalerei überzeugte mich davon, dass das Wesen der Kunst nicht darin liegt, Anatomie und Perspektive zu studieren, und auch nicht in der Wiedergabe der Wahrheit der Natur. Vielmehr geht es um das Erfühlen der Kunst und der künstlerischen Realität durch Emotionen. Mit anderen Worten: Ich erkannte, dass die Realität oder das Sachthema etwas war, was in eine ideale Form überführt werden musste“ (1933)

 

Seine Bilder verlieren an Perspektive und Tiefe; stattdessen werden kräftige Farben zum Ausdrucksmittel; an die Stelle anatomischer Genauigkeit treten streng-geometrisch-schematische Elemente, die den dargestellten Personen (wie dem „Holzfäller“) etwas Maschinen-, Roboterhaftes verleihen. Schließlich lösen sich die Formen ganz auf: der „Kopf eines Bauernmädchens“ besteht nur noch aus übereinandergeschichteten geometrischen Flächen.

Ausflug in die Oper: „Sieg über die Sonne“

Die dritte Abteilung („1913: Sieg über die Sonne“) stellt ein Ereignis vor, das von Tschechow erdichtet sein könnte: Dieser beschreibt in der ersten Szene seiner „Möwe“ die Uraufführung des avantgardistisches Werks eines jungen Dichters, das aber selbst in Intellektuellen-/Künstlerkreisen auf pures Unverständnis und aggressive Ablehnung stößt – womit Tschechow das Schicksal seiner „Möwe“ selbst prophetisch vorweggenommen hatte, die das Petersburger Theaterpublikum gnadenlos durchfallen ließ   (mehr) .

Bühnenbildentwurf für die Oper „Sieg über die Sonne“, 1913, Stedelijk Museum Amsterdam, Leihgabe Stichting Khardzhiev

Genau so ergeht es der „futuristischen“ Oper „Sieg über die Sonne“: zum Text von Alexej Krutschonych und der Musik von Michail Matjuschin steuerte Malewitsch das Bühnenbild und die Kostümentwürfe bei. Die Oper von 1913 feiert nicht nur das Bestreben einer zukünftigen Menschheit, die Sonne aus der Welt zu eliminieren – in einem von Malewitschs Bühnenbild-Entwürfe verschwindet die Sonne hinter einem schwarzen Quadrat -; mit der Sonne (als einem Sinnbild der Aufklärung) soll auch das rationale Denken und „der zahnlose gesunde Menschenverstand“ ausgemerzt und durch ein kreatives und intuitives „unbewusstes Denken“ ersetzt werden, das mit dem russischen Wort „Zaum (= Hintersinn)“ bezeichnet wird.

 

Zu Beginn und am Schluss der Oper treten „zwei futuristische Kraftmenschen“ auf:

 

„Anfang gut, alles gut ... Ein Ende wird es nicht geben. Wir beginnen den Kampf gegen das Weltall“

...

Anfang gut, alles gut, was ohne Ende ist. Die Welt wird vergehen, doch wir sind ohne Ende.“

 

Die jungen Künstler erklärten also nicht nur herkömmliches Denken und überlieferte Sprache für hinfällig, sie bildeten sich auch ein, sie selbst würden die vergehende Welt überdauern. Einer derartigen Arroganz konnte natürlich kein Erfolg beschieden sein! Die Oper erlebte genau zwei Aufführungen! Und anders als Tschechows „Möwe“, die es nach anfänglicher Ablehnung in den Kanon des Welttheaters geschafft hat, war der „Sieg über die Sonne“ lange vergessen und erlebte erst in jüngerer Zeit wieder einige – auch heute noch avantgardistisch anmutende! – Aufführungen.

Der Weg zum Suprematismus

Möglicherweise bilden die Bühnenbild-Skizzen für den „Sieg über die Sonne“ den „Keim des Suprematismus“; jedenfalls legt das Malewitsch selbst nahe, wenn er seine suprematistischen Werke als „erstaunliche Früchte“ dessen bezeichnet, was im Zusammenhang mit der Oper „unbewusst geschaffen wurde“ (nach Linda S. Boersma, Katalog, S. 54).

 

Ein Engländer in Moskau, 1914, Stedelijk Museum Amsterdam

Jedenfalls folgte nach der Oper rasch Malewitschs endgültige Abwendung von der herkömmlichen Malerei! Der vierte Abschnitt – „1914 – 15: Kubofuturismus und Alogismus“ zeigt, wie Malewitsch die Kampfansage des Opern-Librettos an Vernunft und Logik in der Malerei nachvollzieht: in „transrationalen Gemälden“ verschwinden kausale Zusammenhänge.

 

Der „Engländer in Moskau“ vereint eine Fülle von Objekten (vom Säbel bis zur orthodoxen Kirche) mit einzelnen geschriebenen Begriffen („partielle Sonnenfinsternis“), die ob ihrer vielfältigen konkreten Gegenständlichkeit noch immense Interpretationsmöglichkeiten bieten; doch zumeist – wie z. B. in der „Haltestelle ohne Halt“ verschwindet das Gegenständliche hinter rätselhaft abstrakten Formen, die regellos neben- und übereinander gehäuft sind.  

Haltestelle ohne Halt, 1913, Staatl. Tretjakow-Galerie, Moskau

Schließlich bleiben nur noch wenige vereinzelte Flächen übrig: „Die Dinge sind verschwunden wie Rauch für eine neue künstlerische Kultur“. Diese neue Kultur verkündet das „Supremat“ (von lateinisch suprematia = Überlegenheit; Oberhoheit) von Farbe und Form; Malewitsch ist bei der „reinen“, der gegenstandslosen Kunst angekommen („1915 – 16: Suprematismus“). Für Malewitsch ist das der wahre „malerische Realismus“: die reine Kreation, die sich nicht mehr mit der Imitation der äußeren Realität begnügt.

 

Vielmehr verlangt Malewitsch vom Betrachter, sozusagen eine innere Realität in seinen Bildern zu erkennen. So im „Selbstporträt in zwei Dimensionen“ von 1915, mit dem die Bonner Ausstellung die Besucher empfängt (s. Ende der Seite).

Rotes Quadrat (Malerischer Realismus einer Bäuerin), 1915, Staatl. Russ. Museum, St. Petersburg

Noch höhere Anforderungen an den Betrachter stellt der das Gemälde „Malerischer Realismus einer Bäuerin“ aus dem gleichen Jahr, das den Obertitel „Rotes Quadrat“ trägt und genau das zeigt (wobei das „Quadrat“ um eine – beabsichtigte! – Winzigkeit aus der Form geraten ist).

 

Es folgt dann eine Fülle „suprematistischer Gemälde“: Ansammlungen geometrischer Formen: Rechtecke vor allem, gelegentliche Trapeze, Dreiecke, Kreise ... wobei sich auch die Farbwahl immer weiter einengt auf rot, gelb .... und schließlich schwarz. Und immer auf weißem, also auf leerem Hintergrund.

1915 zeigt Malewitsch seine ganze Sammlung suprematistischer Werke in „0.10. Die letzte Futuristische Ausstellung“ in St. Petersburg. Das „schwarze Quadrat“ hing in der östlichen Saalecke – eine zusätzliche Provokation, war dies doch im russischen Haus der traditionelle Ehrenplatz für die geheiligte Ikone!

 

Die Auflösung der Form

Malewitschs Problem: irgendwann musste sich diese ewige Wiederholung geometrischer Flächen totlaufen. Offenbar verband auch er selbst keine Inhalte mehr damit, die Titel wurden zu oberflächlichen Beschreibungen („Suprematistisches Gemälde (mit schwarzem Trapez und rotem Quadrat)“); schließlich nummerierte er nur noch („Suprematistisch Nr. 38“; „Supremus Nr. 55“ ...).

Auflösung einer Fläche, 1917, Courtesy Galerie Gmurzynska AG

Das Folgende ist da nur konsequent: Abteilung 6: „1916 – 19: Suprematismus, sich auflösende Formen und Monochromie“. Beispielhaft ist die Auflösung des roten Quadrats (1917), in der Ausstellung interpretiert als „die aus dem grenzenlosen weißen Raum (= dem unendlichen Universum) auftauchende Form“, die in eben dieser Unendlichkeit wieder verschwindet. Ein bisschen hat mich diese Bild tatsächlich an die von einem Urprimaten ins All geschleuderte rotierende Keule aus Kubricks „2001“ erinnert ... Und die Auflösung setzt sich fort: Der Suprematismus endet mit weißen Formen auf weißen Flächen ... 75 Jahre später lässt die französische Autorin Yasmina Reza in einem Theaterstück diskutieren, ob so etwas „Kunst“ ist und erzielt damit ihren Durchbruch zur weltbekannten Dramatikerin.

 

Für Malewitsch ist damit „die Befreiung der Malerei von der Last des erkennbaren Bildes“ erreicht (Boersma, Katalog, S. 103). Seine Werke werden nicht mehr von einem Motiv belastet, sie sind die reine „Essenz der Malerei“. Für kaum einen Kunststil gilt so sehr die abgegriffene Phrase von der „Kunst, die erst im Kopf des Betrachters entsteht"!

 

Die Konsequenz wäre ein letzter Schritt: sich vollends auf den Kopf des Betrachters zu verlassen, ihm gar keine Vorlage, noch nicht einmal mehr ein weißes Blatt zu präsentieren!

 

Mal-Pause

Es ist nicht ganz klar, ob Malewitsch bewusst genau diese Konsequenz zog. Jedenfalls hörte er für 8 lange Jahre auf zu malen! 1919 verließ er Moskau und wurde Dozent an der von Chagall gegründeten Kunstschule im provinziellen Witebsk, wo er sich dem Unterricht widmete, vor allem aber der theoretischen Aufarbeitung seiner Kunst. Er versuchte auch, dem Suprematismus neue Anwendungsgebiete – Architektur, Design, Gebrauchskunst – zu erschließen. Auch diese Phase ist in der Ausstellung umfassend dokumentiert.

Vorwärts zu den Anfängen: Postsuprematismus

Erst ab 1927 malt Malewitsch wieder. Ein großes Manko der ansonsten doch verdienstvollen Ausstellung ist, dass sie kaum Bezüge herstellt zwischen Malewitschs Leben und künstlerischen Entwicklung einerseits und der – doch wahrlich revolutionären! – historisch-politischen Entwicklung Russlands andererseits. Unter Lenin – auf der Suche nach dem „neuen Menschen“ – stieß Malewitschs neuer künstlerischer Weg durchaus auf Wohlwollen. Doch zu Stalins „sozialistischem Realismus“ passte nun wahrlich kein Suprematismus! Der Katalog erwähnt immerhin einen „immer stärkeren politischen Druck“, dem Malewitsch um 1930 ausgesetzt war. Doch bleibt offen, wie sich das auf seine künstlerische Arbeit auswirkte.

 

Jedenfalls kehrt Malewitsch in den acht Jahren, die ihm bis zu seinem frühen Krebstod mit 56 Jahren noch bleiben, zur gegenständlichen Malerei zurück (10: „1927 – 35: Postsuprematismus“). Sein „Spätwerk“ erinnert in Teilen an seine impressionistischen und neoprimitiven sowie kubofuturistischen Anfänge, teilweise entwickelt er einen geradezu klassisch anmutenden Realismus, vor allem im Porträt der Mutter (1932-34) und in seinem letzten Selbstporträt von 1933, aus dem manche einen Velasquez heraussehen.

 

Signiert hat Malewitsch viele dieser späten Werke mit einem kleinen schwarzen Quadrat.

 

 

Malewitsch: ein Künstlerleben in Selbstporträts