Happy End für Gretchen

Detmolder „Wildschütz“ zwischen Biedermeier und Science Fiction

(alle Fotos: Landestheater Detmold)

 

 

 

"Ländliche Gegend: Das Haus des Schulmeisters,

gegenüber Gretchens Wohnung, im Hintergrunde das Wirtshaus.

Landleute tanzen, die älteren sitzen auf Bänken und sehen zu.

ALLE: Es lebe das Brautpaar!“

 

 

Derart heimelig lässt Lortzing das Libretto seiner Komischen Oper „Der Wildschütz“ beginnen. Und ebenso idyllisch könnte es weitergehen: Der Lehrer wird in Kürze Gretchen heiraten, wodurch das junge, hübsche Waisenmädchen zwar einen hässlichen alten Mann bekommt, aber eben auch den erstrebenswerten Sozialstatus der Schulmeistergattin. Und der Bräutigam gedenkt so dem Alleinsein in dem sich nahenden „Lebens Winter“ zu entgehen.

 

Happy End, also: „Ach, das wird ein Leben sein, dass sich darob die Engel freun!

 

Verkleidungsspektakel mit Adel und Volk

Für die unverzichtbaren retardierenden Momente (wir sind ja immer noch in Szene 1) sorgt dann der Landadel, der im nahen Schloss residiert und sich den genre- bzw. klassen-typischen Hobbies widmet: Der Graf frönt der Jagd, gerne auch auf zweibeiniges Schmalwild, die Gräfin hat die damals virulente Mode der Antikenbegeisterung für sich entdeckt, die sie durch langatmige Lesungen aus der „Antigone“ auch bei ihrem Personal erwecken will.

 

 

 

  

Die für komische Opern schier unvermeidlichen Verkleidungs- und Verwechslungselemente (gerne auch erotisch grundiert) werden von den (vorerst unerkannten) Geschwistern von Graf und Gräfin beigesteuert.

 

Am Happy End führt dennoch kein Weg vorbei: Zum Brautpaar des Anfangs, Schulmeister–Gretchen, gesellt sich nach einigem Hin und Her das Paar Baron–Baronin. Und die gräfliche Ehe bleibt unbeschädigt, da sich die vom Grafen angebaggerte Baronin als dessen Schwester erweist, und da der vermeintliche Verführer der Gräfin deren Bruder ist. – Fazit: 

 

„Wie heut sich alles uns zum Heil gestaltet!

Es erblüht ein neues Leben durch der Ehe heilig Band,
Liebe wird uns Freuden geben, da sich Herz zum Herzen fand.“

 

  Im Biedermeier

Also: eine harmlos-nette Geschichte aus der guten alten Zeit, als „Oben“ und „Unten“ zwar nicht gleichberechtigt, aber immerhin harmonisch ko-existierten und wo unüberwindliche Zerwürfnisse am Schluss notfalls durch einen „Deus ex machina“ bereinigt werden, wobei der „Deus“ in diesem Fall ein „Asinus“ ist (für Nicht-Lateiner: ein ordinärer Esel). Biedermeier eben.

 

Gefällige Oper fürs Jubiläum

Dazu passend: die Musik, die (nicht nur) von Reclams Opernführer eifrig gelobt wird: von der Ouvertüre („Feinheit der Faktur“ [=“kunstgerechter Aufbau einer Komposition“]) bis zum Finale („nahezu mozartsche Süße“); mit ausdrucksvollen musikalischen Charakterisierungen dazwischen: mal  „überschäumende Lebensfreude in prickelnden Rhythmen“ („Heiterkeit und Fröhlichkeit“), mal „grotesk-dämonisch“ („Fünftausend Taler“-Arie).  

 

Eine Oper also wie geschaffen für eine Festvorführung, wie geschaffen für das Jubiläumsjahr „100 Jahre Landestheater“, in welchem das Theater einen besonderen Schwerpunkt auf „unsere Hausgötter“ (E. Wirtz) legt, die „eng mit Detmold verbundenen Komponisten“. Und zu denen gehört - neben Johannes Brahms und Giselher Klebe – auch Albert Lortzing: Er kam 1826 als 25jähriger nach Detmold und wirkte hier nicht nur als Komponist (z. B. der Bühnenmusik zu Grabbes „Don Juan und Faust), sondern auch als Sänger und Schauspieler am damaligen „Hoftheater“.

 

Noch einmal also: Diese Komische Oper, in der Musik wie in der Story „immer locker und heiter“, könnte für ein feierseliges Publikum zu einem gefälligen Höhepunkt der Jubiläums-Spielzeit werden.

 

Wenn nicht …

Wenn da nicht die Dramaturgin, Elisabeth Wirtz, dem Publikum eine Menge Nachdenkstoff in Form des Programmheftes mit in den Saal gegeben hätte!

 

Das geht los mit der brutalen Mitteilung, das Lortzing mit 49 Jahren „verhungert“ ist. Gerade er, der Repräsentant des Biedermeiers, der bis heute als „liebenswerter, humorvoller Mann mit schelmischem Blick“ gilt. Die Frage schließt sich an, wie solch ein bettelarmer, „verschuldeter, verzweifelter“ Komponist einen derartigen „goldenem Schatz an Melodien und Gemüt“ hervorzubringen vermochte. Die Antwort: „Vielleicht war gerade nichts anderes verkäuflich“, und der Familienvater mit elf Kindern musste einfach „die Zeit und ihre Stimmung“ bedienen!

 

Allerdings entdeckt der kritische, ja sezierende Blick der Musikdramaturgin auch die „unterdrückte Aufsässigkeit“ in Lortzings Komischen Opern. 1842, das Entstehungsjahr des „Wildschütz“, fällt ja nicht nur in die Epoche des Biedermeier, sondern auch des Jungen Deutschland, die Zeit „des Heinrich Heine und des Georg Büchner“ (E. Wirtz – die interessanterweise ausgerechnet den Jungen Wilden aus Detmold, Grabbe, nicht nennt, der gerade mal sechs Wochen nach Lortzing geboren wurde). Insofern ist es kein Wunder, dass Lortzing  „mitten im Obrigkeitsstaat ein bisschen Demokratie auf die Bühne“ brachte. – Die Versuchung ist groß, die klugen Programmheft-Texte ausführlich zu referieren, doch begnügen wir uns mit dem Appell: Unbedingt nachlesen!

 

Schauen wir uns stattdessen die Detmolder Inszenierung an:

Keine Angst – wer das kulinarische Opernerlebnis sucht, der wird auf seine Kosten kommen – dank der Story mit ihren Verwechslungen und Happy Ends, dank der „immer lockeren und heiteren“ Musik:  

 

Musikalisch ist die Aufführung rundum gelungen (in den Sprechpartien stört gelegentlich ein allzu fremder Akzent). Besonderes Lob gebührt Seungwoen Lee für seinen lächerlichen Helden, den Schulmeister, und dem Darsteller des Barons, Eungdae Han, der kurzfristig als Vertretung für einen erkrankten Kollegen eingesprungen ist. Beeindruckend auch die Ensemble-Szenen, denen ja Lortzings besondere Liebe galt – auch das ein demokratischer Akt: die Aufwertung des Ensembles gegenüber den Solisten-Stars.

 

 

Schon Lortzing ließ seine Ouvertüre (man erinnere sich: „Feinheit der Faktur“) mit einem Schuss enden – normalerweise ein überraschender, gar erschreckender Paukenschlag. Das Landestheater-Publikum ist darauf vorbereitet: denn schon die ganze Zeit schlichen schemenhafte Gestalten dunkelmännerartig über die Bühne: die eine trägt ein Gewehr, bei der anderen könnte es sich um einen Hirsch handeln – so wird schon einmal das Motiv des Schulmeisters als Wildschütz eingeführt, woraus sich später ein Handlungsstrang entwickeln wird.

 

Dystopische Bühne

Die Bühne ist alles andere als die vom Libretto vorgegebene Spitzweg-Idylle. Ein Haufen Gerümpel bestimmt den ersten Eindruck: Hirschgeweihe als ausrangierte Jagdtrophäen. Und Würfel, die anstelle der Augen die Porträts von - ebenso ausrangierten? – abendländischen Geistesgrößen zeigen. Als Teil dieser Abfallhalde: Schriftzüge mit so erstrebenswerten Idealen wie „Freiheit“, „Love“, „Phantasie“ und (natürlich) „Geld“; aber auch „Rausch“ (worauf der Graf später mal hingebungsvoll Luftgitarre spielt).

 

Diese (dystopische?) Landschaft und überhaupt die Inszenierung ist inspiriert von dem Roman „Der futurologische Kongress“ des polnischen Sciencefiction-Autors Stanislaw Lem – wie man aus den (im Programmheft abgedruckten) „Vorüberlegungen“ der Regisseurin Martina Eitner-Acheampong erfährt. 

 

Damit ist wohl auch ein seltsames Objekt zu erklären, das bildbeherrschend mitten auf der Bühne steht, und das ich zunächst für ein von einem irren Wissenschaftler zusammengezimmertes Perpetuum mobile halte. Später dient es mal als Rohrpost, und immer mal wieder holt sich jemand was heraus und steckt es sich in den Mund – Kaugummi- oder Popcorn-Automat? Erst aus dem Programmheft erfahre ich, dass es sich bei diesem „zentralen Element auf der Bühne“ um eine „allgegenwärtige Konsummaschine“ handelt, die mitnichten harmloses Popcorn ausspuckt, sondern Alkohol, Pillen, Drogen und das eine oder andere Konsumobjekt. Denn „die Wundermaschine steht für die Kontrolle der Gesellschaften durch Sucht und Abhängigkeit von Maschinen und künstlicher Intelligenz“ (stimmt! Schon die Dramaturgin hat darauf hingewiesen, dass der „Wildschütz“ die erste Oper ist, in der das Wort „Kapitalismus“ vorkommt).

                                                                                                    

Übrigens: Ich habe nicht nur den Charakter der Maschine verkannt; nicht wahrgenommen habe ich auch „das spiegelnde goldene ‚Parkett‘ als Bild für den Reichtum, als Spiegelbild für alle Eitelkeiten“, auf dem „man schnell mal ausrutschen kann“ – dieses Parkett auf der Bühne war vom Parkett im Saal aus (also für eine Mehrheit des Publikums) einfach nicht zu sehen.  

 

Brav bis schrill: die Kostüme

Auch Valerie Hirschmanns Kostüme decken die ganze Bandbreite von Biedermeier bis Science Fiction ab: Der Graf scheint gerade von der Horror Picture Show zu  kommen, die Gräfin führt eine ganze Kollektion phantastisch-bombastischer Ball-Roben vor (unnachahmlich, wie Brigitte Bauma ihre Röcke nonchalant-elegant um sich schleudert). Biedermeierlich ist lediglich das ursprüngliche Liebes- … äh … Vernunftehe-Paar: der Schulmeister mit Weste und Krawatte und Gretchen im braven Krägelchen-Kleid und mit Schleifchen im wohlfrisierten Haar.

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Gretchen als (heimliche) Zentral-Figur

Dieses Gretchen (Annina Olivia Battaglia) wirkt vordergründig recht unscheinbar, erweist sich aber bei genauerem Hinsehen als starke Figur, so, wie auch ihre berühmtere Namensschwester, die ebenfalls einem Lehrer (einem „Magister, einem Doktor gar“) in die Hände gefallen ist und tragisch endete. Lortzings Gretchen hat den Drang zum Höheren, zum Adel (will sich „im Tanz mit ihnen drehen!“). Natürlich erkennt sie die Beschränktheit ihres Schulmeisters („Glücklich kann mich niemals machen Solch verliebter alter Narr“) und will sich von Anfang an nicht mit den klein-, den spießbürgerlichen Gewohnheiten dieses Standes begnügen: schon zum Hochzeitsschmaus soll es nicht banale Hausmannskost geben, sondern Hirschbraten (der eigentlich – wie die „hohe Jagd“ – dem Adel vorbehalten ist). So macht sie ihren Bräutigam zum Wildschützen und löst damit so manche Verwicklung aus. Sie laviert im Verlauf der Verwechslungskomödie nicht ungeschickt zwischen Bräutigam, Baron und vermeintlichem Studenten. – Umso trauriger, dass sie am Ende dennoch dem drögen Schulmeister anheimfallen muss!

 

Doch halt – muss sie wirklich? Zumindest das (durchgehend weiblich besetzte) Detmolder Regieteam hat Mitleid mit ihr und sieht tatsächlich eine Alternative. Eine Alternative allerdings, die man zu Lorzings Zeiten unter gar keinen Umständen hätte auf die Bühne bringen dürfen! – Welche denn nun? – Gehen Sie hin und schauen Sie sich’s an (überhaupt: den Detmolder Schluss). Es lohnt sich!

 

 

 

Der Wildschütz

Komische Oper von Albert Lortzing

 

 

Musikalische Leitung    György Mészáros

Inszenierung                Martina Eitner-Acheampong

Bühne                          Katrin Wittig

Choreografie                Kristin Schaw Minges

Kostüme                      Valerie Hirschmann

Chor                            Francesco Damiani

Dramaturgie                 Elisabeth Wirtz

 

Graf von Eberbach       Benjamin Lewis

Die Gräfin                    Brigitte Bauma

Baron Kronthal             Eungdae Han

Baronin Freimann         Emily Dorn

Nanette                        Lotte Kortenhaus Dorothee Bienert

Baculus                       Seungweon Lee

Gretchen                     Annina Olivia Battaglia

Pankratius                   Georgi Karadjov

 

Symphonisches Orchester

Opernchor des Landestheaters Detmold

Extra-Chor