Trotzdem: ein Lehrstück!

Das Tagebuch der Anne Frank im „Jungen Theater“ in Detmold

 

Gespräch mit einer Geschichts-und-Deutsch-Lehrerin an einer lippischen Gesamtschule:

 

Frage: Inwieweit kennen deine 14- bis 15-jährigen Schüler noch Anne Frank?

Antwort: Am Ende der Schulzeit sollten eigentlich alle von ihr gehört haben.

F: Anne Frank und ihr Tagebuch sind also immer noch Unterrichtsstoff?

A: In der Regel ja.

F: Und in welchem Fach? Deutsch? Geschichte?

A: Idealerweise in beiden, fachübergreifend.

F: Wenn du nun in einer Klasse ankündigst: Ab der nächsten Stunde behandeln wir das „Tagebuch der Anne Frank“ …

A: … bricht nicht gerade Jubel aus.

 

Konstanze Kappenstein & Jenni Schnarr: die neuen Leiterinnen des "Jungen Theaters"

 

g.wasa     -     Detmold.     -     Konstanze Kappenstein, die neue Leiterin des „Jungen Theaters“ am Landestheater Detmold hat aus dem „Tagebuch der Anne Frank“ eine Bühnenfassung für die Zielgruppe 14+ erarbeitet. Dabei hatte sie eine pfiffige Idee, um die Distanz zu überbrücken zwischen den heutigen Jugendlichen und einem Mädchen, das zwischen 1942 und 1944 versteckt in einem Amsterdamer Hinterhaus lebte: 

 

Schulalltag 2018: das Referat

 

Auftritt Emma, gespielte 15, 16, neu in der Stadt und damit neu in ihrer Schulklasse. Die soll mal schnell ein Referat schreiben: über das Tagebuch der Anne Frank. – Hä? Anne wer? Also: Google! Dass Google 400 Millionen Einträge ankündigt, erschreckt zunächst, beeindruckt aber auch; so, wie nachher das „Tagebuch“ sowohl erschreckt („300 Seiten!“) als auch beeindruckt („Oh – ein Bestseller – cool!“)

 

(Fotos: Landestheater Detmold)

Die Einleitung des Wikipedia-Artikels wird per Copy & Paste flugs zum ersten Teil des Referats. Soweit also ganz normal. Aber so allmählich erwacht in Emma doch ein gewisses Interesse für das Thema. 1933 – was war da eigentlich? Weimarer Republik? – „Hatte ich 1000mal in der Schule, aber ich raff’s einfach nicht“. So wird der Zielgruppe mit leichter Hand die eine oder andere Geschichtslektion untergejubelt, illustriert durch alte Wochenschau-Filme (Wochenschau, das war so eine Art Tagesschau – ääh … Tagesschau? kennt ihr schon noch? -, nur eben für eine ganze Woche; die wurde früher, als noch längst nicht in jedem Haus ein Fernseher stand, im Kino vor dem eigentlichen Film gezeigt): Naziaufmärsche, Bücherverbrennung, Judenverfolgung …

 

Judenverfolgung!

Die jüdische Familie Frank floh 1934 ins holländische Exil. Als die Nazis ab 1940 die Juden auch in Holland verfolgten, und als Annes ältere Schwester Margot im Juli 1942 deportiert werden sollte, tauchte die Familie unter, versteckte sich im Hinterhaus eines Amsterdamer Geschäftshauses. Wenige Wochen vorher hatte Anne zum Geburtstag ein Tagebuch bekommen; und das einsame Mädchen ernennt dieses Tagebuch zu seiner „Freundin Kitty“, der sie Alltägliches und ihre innersten Geheimnisse anvertraut. Der letzte Eintrag datiert vom 1. August 1944. Drei Tage später wird die Familie verraten, von der Gestapo verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Dort muss die 15jährige harte Arbeit verrichten und stirbt im Februar oder März 1945 im KZ Bergen-Belsen. Insgesamt acht Juden hatten in dem Versteck im heutigen „Anne-Frank-Haus“ Zuflucht gefunden: neben den Schwestern Margot und Anne Frank und ihren Eltern auch noch das Ehepaar Pels – im Tagebuch van Daan genannt – mit Sohn Peter sowie der Zahnarzt Pfeffer, von Anne Albert Dussel genannt. Von ihnen allen überlebt nur Annes Vater Otto Frank.

 

Das Tagebuch

Was noch überdauert ist Annes Tagebuch – und das ist bis heute eines der beeindruckendsten und ergreifendsten Dokumente über den Alltag der Verfolgten des NS-Regimes! Allerdings muss – um gut 300 Buchseiten in 80 Minuten Bühnenzeit unterzubringen – viel Inhalt herausgekürzt werden. Da kann vieles, was im Tagebuch breiten Raum einnimmt, auf der Bühne nur angedeutet werden: das schwierige Verhältnis zur Mutter ebenso wie die aufkeimende Liebe zu Peter; der ganz reale alltägliche Hunger der Untergetauchten, die in ohnehin kargen Zeiten auf die Versorgung durch Freunde angewiesen sind; der Wissensdurst der von der Schule verbannten Kinder (Anne lernt Englisch, Französisch, Stenografie; beschäftigt sich mit Geschichte, Literatur, griechischer Mythologie …). Viele Details müssen ganz wegfallen (die Ratten auf dem Vorratsspeicher; die Freude über die kümmerlichen Geburtstagsgeschenke). Ja, selbst vom Kriegsverlauf ist auf der Bühne so gut wie nie die Rede – dabei ist das doch ein ganz wesentliches dramaturgisches Element dieser tragischen Geschichte: denn natürlich verfolgen die Versteckten den Vormarsch der Alliierten gegen das Nazireich, immer schwankend zwischen Hoffen auf Rettung und Enttäuschung über die langsame Entwicklung. Die Hoffnung sollte vergeblich bleiben: als Holland befreit wird, ist Anne schon zwei Monate tot. 

 

Viel Verlust an Inhalt also! Kaum erträgliche Verluste!

 

Das Bühnenstück

Und doch: Selbst ich verzichte hier auf meine sonst so penetrante Ablehnung von Buch-Dramatisierungen! Gerade heute ist es einfach zu wichtig, dieses Tagebuch den Jugendlichen nahe zu bringen, als dass man auf eine Art der Vermittlung verzichten könnte, geschweige denn eine Vermittlung, die derart eingängig, derart überzeugend ist wie dieses Stück.

 

Wenja – Emma – Anne

(Foto: Landestheater Detmold)

Je mehr sich Emma, unsere heutige Schülerin, in Annes Tagebuch vertieft, umso mehr wird die Darstellerin Wenja Imlau zu Anne. Meint die Regie zunächst noch, uns den Übergang von Emma zu Anne dokumentieren zu müssen, indem sie die Schauspielerin einen altbackenen Rock über ihr aktuelles Outfit ziehen lässt, so kann sie darauf bald verzichten. Entweder ist ohnehin klar, zu wem der soeben gesprochene Text gehört. Oder die phänomenale Darstellerin macht durch Körpersprache, Mimik, Stimmlage deutlich, wen sie gerade verkörpert. Oder es ist eh egal, wer gerade spricht – Hauptsache, der Inhalt kommt rüber.

 

Und so sehen wir also zunächst ein lebhaftes, fröhliches Mädchen, das sich guten Mutes in den Untergrund begibt. Wir erleben ihr „Frühlingserwachen in meinem Körper, in meiner Seele“ mit. Und wir müssen zur Kenntnis nehmen, wie sich die Stimmung verdüstert, je länger das enge Zusammenleben von acht – sich teilweise fremden – Menschen dauert, je mehr sich die äußeren Bedingungen (Versorgungslage, Gefahr der Entdeckung …) verschlechtern. Die Freude über das jüdische Lichterfest Chanuka kippt fast übergangslos in die Angst vor der Zukunft.

 

Nicht nur zu Weihnachten (24.12.1943) schwankt Annes Stimmung zwischen „zu Tode betrübt“ (wenn sie sich wünscht, mal wieder draußen spazieren gehen, radfahren oder einfach nur laut pfeifen zu dürfen) und „himmelhochjauchzend“, wenn sie daran denkt, „wie gut wir es hier haben, im Vergleich zu anderen jüdischen Menschen“.

 

Die Bühne

(Foto: Landestheater Detmold)

 

Den ersten Eindruck vom Schauplatz bestimmen die herumstehenden Umzugskartons. Das passt sowohl zur Situation der soeben zugezogenen Emma als auch der kürzlich untergetauchten Anne (wobei schon klar ist, dass Juden sich 1942 nicht mit Umzugskartons durch die Straßen Amsterdams bewegen konnten).

Stehen die Kartons für das Nomadische, Unbehauste, symbolisiert die Schrankwand das Ordentlich-Beständige. Hier geht beides ineinander über: die Elemente der Schrankwand gleichen in Farbe und Form den Kartons, bestehen teilweise sogar aus diesen Kartons. Wenn die Schrankwand im Laufe der Vorstellung – je mehr Emma zu Anna wird - immer löchriger wird, so ist dies ein deutliches Symbol für die Auflösung Gut-Bürgerlichen unter dem Druck der schrecklichen Verhältnisse im „Untergrund“.

 

 

Und die Lehre? – Ein dezentes Angebot

Kappenstein bekennt, sich hinsichtlich „Parallelen zu heute bewusst zurückgehalten“ zu haben. So ist dieses Bühnen-Tagebuch kein Lehrstück für Jugendliche, sondern zunächst: die Geschichte einer Gleichaltrigen. Aber selbst wenn die Macherinnen es nicht wollten (ich vermute doch sehr: sie wollten schon), so macht dieses Stück mit seinem menschlich-historischen Hintergrund ein Angebot an die jugendlichen Zuschauer: und sei es nur das Angebot, sich die Situation einer geschmähten Minderheit, der Opfer eines unermesslichen Mobbings einmal klarzumachen, das Angebot: nachzudenken.  

 

Am Ende, als sich Wenja Imlau bereits wieder mit strahlendem Gesicht sichtlich über den ebenso heftigen wie verdienten Beifall freut, da ist den Zuschauern rund um mich herum die tiefe Betroffenheit immer noch ins Gesicht geschrieben. Das Angebot wurde angenommen!

 

 

 

 

Landestheater Detmold – Junges Theater:

 

Anne Frank

nach dem Tagebuch der Anne Frank
(nach der einzig autorisierten Fassung: Otto H. Frank und Mirjam Pressler in der Übersetzung von Mirjam Pressler)

 

Textfassung für das Junge Theater: Konstanze Kappenstein


Inszenierung:                  Konstanze Kappenstein
Ausstattung:                   Jule Dohrn-van Rossum
Dramaturgie:                   Jenni Schnarr

 

Emma / Anne Frank:       Wenja Imlau
 

 

Premiere: Mittwoch, 19. September 2018, 10.00 Uhr, Junges Theater

 

Weitere Termine:

http://www.landestheater-detmold.de/theaterstueck/anne-frank-249/