„Süßes Mädel“ und Me-too-Opfer

„Else (ohne Fräulein)“ nach Schnitzler auf Detmolder Grabbe-Bühne

(Fotos: Landestheater Detmold)

Eine alte Geschichte

Ein Mann aus bester Wiener Familie ist zum Tode verurteilt. Sein Vergehen: Er hat seine Verlobte, seine so-gut-wie-Ehefrau geschwängert. Seine letzte Hoffnung ruht auf Isabella, seiner attraktiven Schwester, „die sich von einem Herrn begehrt sieht, der durch Einfluss bei Gericht“ den Bruder retten könnte, wenn sie „die Schätze ihres Körpers diesem Herrn bescherte“. Doch Isabella ist „ein äußerst sittenstrenges Mädchen; und im Begriff, ins Kloster einzutreten“. Keinesfalls will sie ihre Keuschheit opfern, also muss der Bruder sterben. Das Dilemma löst sich mit Hilfe eines Herzogs ex machina und mit einem Trick, einem Betrug an dem Lüstling.

 

Die Geschichte wurde 1604 unter dem Titel „Measure for Measure“ („Maß für Maß“) in London veröffentlicht und stammt – na klar! - von Shakespeare. Unter Kennern gilt „Maß für Maß“ als „eines der aufregendsten“ und interessantesten Stücke Shakespeares, allerdings auch als „eines der komplexesten“ (GÜNTHER) und wird wohl deshalb nur selten gespielt.

 

Schnitzler anstatt Shakespeare – Innerer Monolog anstatt Drama

So hat auch das Landestheater nicht auf den Altmeister zurückgegriffen, um den Konflikt zwischen Familien-Solidarität und Keuschheit auf die Detmolder Grabbe-Bühne zu bringen, sondern auf einen Text von Arthur Schnitzlers (1862 – 1931).   Und nein – nicht etwa „Das weite Land“, nicht die „Komödie der Verführung“. Stattdessen eine Tragödie des sexuellen Übergriffs: „Fräulein Else“ nannte der Autor anno 1924 seinen Text, und es ist kein Theaterstück sondern eine Novelle. Als „innerer Monolog“ kommt der relativ kurze Text daher; und das führt folgerichtig (wenn auch nicht zwangsläufig – es gibt auch andere Inszenierungen) zur Umsetzung in ein Ein-Personen-Stück.

 

Meine Abneigung dagegen, Erzählungen für die Bühne umzumodeln habe ich oft genug geäußert; ähnlich groß sind meine Vorbehalte gegen Ein-Personen-Stücke, denn das Drama braucht nun mal die – eben: dramatische! - Auseinandersetzung zwischen Protagonist und Antagonist

 

Ich gehe also mit äußerst gedämpften Erwartungen in die Premiere hinein …

 

Vorweggenommen: mein Fazit

 

 

... und komme fasziniert wieder heraus!

 

Gelungen: die Übertragung in die Gegenwart.

 

Begeisternd: Die Darstellerin der Else.

Zunächst: Schnitzlers Originalgeschichte

(mehr zu Schnitzlers "Else" in Kürze hier)

Die Erzählung des Wieners Schnitzler spielt zwar nicht – wie „Maß für Maß“ – in Wien; die Hauptpersonen gehören aber der feinen Wiener Gesellschaft an: Else ist die Tochter eines - angeblich „genialen“ - Juristen. Allerdings ist der leichtsinnig, kann nicht mit Geld umgehen. Er hat Mündelgelder unterschlagen – und die muss er jetzt innerhalb weniger Tage erstatten; sonst droht Verhaftung, Anklage, Gefängnis.

 

Zu der Zeit verbringt die bildhübsche 19jährige Tochter einige Ferientage in einem Luxus-Hotel in den Dolomiten. Weitere Gäste sind u. a. ein „schöner Schwarzhaariger“: ein „Filou“, von dem sie regelrecht schwärmt. Und ein „alter Lebemann“, Herr von Dorsday („Widerlicher Kerl“). Doch eben dieser Dorsday ist die letzte Hoffnung des Vaters, da sonst niemand mehr bereit ist, ihm nochmals Geld „zu leihen“, sprich: zu schenken. Deshalb soll Else den alten Freund des Hauses anpumpen. Der zeigt sich durchaus geneigt, die „lächerliche Summe“ zur Verfügung zu stellen, allerdings unter der Bedingung, Else nackt sehen zu dürfen.

 

Nun träumt Else immer wieder davon, sich nackt zu zeigen. Zum Beispiel „dem Filou“. Aber ausgerechnet Dorsday? 

 

So ist sie hin und hergerissen: zwischen der Verpflichtung gegenüber dem Vater; der Solidarität mit der Familie, welcher der Abstieg aus den feinen Kreisen droht; zwischen der gesellschaftlich erwarteten Schamhaftigkeit; zwischen ihren exhibitionistischen Neigungen und dem Widerwillen gegenüber Dorsday: „Wenn er mir nur nicht so unsympathisch wäre.“

 

Sie findet eine Lösung, indem sie Dorsday austrickst: Nicht ihm persönlich präsentiert sie sich in dessen Hotelzimmer, sondern allen Anwesenden im Musikzimmer des Hotels, also einer – wenn auch begrenzten – Allgemeinheit (Hauptsache, „der Filou“ ist dabei!).

 

Und somit könnte alles gut sein. Doch dann siegt doch noch die (zeitübliche?) Schamhaftigkeit: Else bringt sich um. Auch das kommt nicht ganz unerwartet: Schon vorher kam ihr immer wieder der Gedanke an Selbstmord als Alternative.

 

Dabei schien es doch, als habe Else mit ihrem „Trick“ des öffentlichen Auftritts eine ideale Lösung für ihr Dilemma gefunden. Insofern ist Schnitzlers Schluss nicht wirklich nachvollziehbar. Unbefriedigend und enttäuschend für die Leserin bleibt er sowieso.

 

1604 - 1924 – 2019 – 2022

„Wichtiger als ein Bruder muss uns Keuschheit sein“ – dieses Prinzip der angehenden Nonne verwundert nicht wirklich – anno 1604, also unmittelbar nach der Regierungszeit der „jungfräulichen Königin“ Elisabeth I (1533 – 1603).

 

Dagegen ist die Situation im Erscheinungsjahr von „Fräulein Else“, 1924, differenzierter zu sehen. Zumal Else nicht „ihm ihre Jungfernschaft hingäb“, sondern sich „lediglich“ nackt zeigen soll. Wir sind in der Endphase der „Wiener Moderne“. Die Folgen des Krieges (der Schock des Untergangs der k.&k.-Monarchie) sind allmählich überwunden, wir bewegen uns auf die Phase der Zwanziger Jahre zu, die man heute „die Goldenen“ nennt. Die feine Wiener Gesellschaft (zumindest wie sie sich in Schnitzlers Werk spiegelt) ist vergnügungssüchtig-hedonistisch, aber auch bigott-verlogen, mit einer scheinheiligen Doppelmoral. Neben der Frau Gemahlin für’s Repräsentative leistet sich der feine Bürger ganz selbstverständlich ein „süßes Mädel“ für’s Separée; die brave Hausfrau hält sich mit dem jungen Gspusi schadlos. Als allerdings Schnitzler diesen „Reigen“ der unmoralischen Begegnungen auf die Bühne bringt, führt das zu einem der größten Theaterskandale aller Zeiten: Auf die (offizielle) Uraufführung (Berlin 1920) folgt der Reigen-Prozess; in Wien machen katholische Fundis 1921 Kleinholz aus dem Theatersaal. Entnervt schloss der Autor sein Werk in den Giftschrank. Erst 1982 gab der Sohn das Stück frei. – Der fragwürdige Held von Schnitzlers „Das weite Land“ macht seiner Frau Vorwürfe, dass sie sich einem berühmten Künstler verweigert und damit seinen Selbstmord verschuldet habe. Als sie bald darauf tatsächlich eine Liebesbeziehung eingeht, erschießt der Ehemann den Nebenbuhler im Duell.

 

Ende 2017 tauchte erstmals der Hashtag #MeToo auf, woraus schnell eine mächtige Bewegung wurde. - 2019 verpflanzte der österreichische Autor Thomas Arzt (*1983; s.u.) das „Fräulein Else“ in die Gegenwart. Aus der jungen Frau machte er den 15jährigen Teenie „Else“, konsequenterweise „ohne Fräulein“. Und nun, 2022, zeigt das Landestheater Arzts Version auf seiner kleinen Grabbebühne in einer Inszenierung des jungen Regisseurs Alexander Vaassen. - Ist unsere Gesellschaft weiter als die von 1924? Oder gar von 1604?  

 

Gelungen: Arzts Neufassung und Detmolder Inszenierung

Hier ist „Else, 15“ nicht normaler Hotelgast wie das originale „Fräulein Else“, sondern zu Besuch bei ihrer Tante, der Hotelbesitzerin. Und das Hotel liegt nicht unbedingt in den Alpen, sondern an einem See und verfügt über einen langen weißen (Boots-) Steg – eine Reminiszenz an Schnitzler, an Fräulein Elses Zukunftsträume von einer Villa an der Riviera mit weißen Marmorstufen, auf denen sie dereinst – nackt, natürlich – liegen wird …

 

Der Steg beherrscht das Bühnenbild, gibt den Rahmen für Elses Geschichte. Ein Loch dient als Badewanne und symbolisiert so das Hotelzimmer; ein Segel steht für eine Bootsfahrt.

 

Gleich der erste Auftritt ist ein kleines Highlight. Stella Hanheide, die 27jährige Schauspielerin, gibt glaubwürdig den Teenie, das Schulmädchen. Wie sie da von hinten den Steg erklimmt, wie sie halb schüchtern, halb keck in die Runde blickt – da könnte man in ihr das „süße Mädel“ sehen, diese typisch Schnitzlersche Figur, diesen Männertraum der besseren k.k.-Gesellschaft.  Jedenfalls gewinnt sie schon mal die Sympathie des Publikums.

 

 

Else genießt – mit Papas Kreditkarte – ihr Leben, genießt ihren Aufenthalt in Tantes Luxushotel, genießt ein Schaumbad in der stilisierten Badewanne: „Es ist alles gut, Else“. Aber da ist auch die Sexualität, die der 15jährigen „Lust auf dumme Gedanken“ macht: Was, wenn auf dem einsehbaren Balkon „der Bademantel runterrutscht? … Splitternackt flanieren … im Salon … ‚so‘ in den See hüpfen …“. – „Am Strand haben zwei gefickt“ – das wollte sie möglichst genau beobachten, ist „in Gedanken schon mal die Frau am Strand“.

 

Aber das bleibt alles harmlos, alterstypisch. Auch der frühreif-provokante Spruch „Wer was von mir will, muss Gangbang mindestens buchstabieren können“ fügt sich ein in eine Reihe altkluger Formulierungen.

 

Aber dann geht das „Es ist alles gut“ nahtlos über in ein „Es ist nichts gut, Else“. Der Papa hat Probleme. Hier hat er keine Mündelgelder unterschlagen, sondern irgendwelche unsauberen Finanztransaktionen getätigt („Konto in der Schweiz – Briefkasten in Costa Rica“) und zwar im Auftrag (auf Drängen) seiner Firma. Die Schuldfrage ist also nicht so eindeutig, der Richter im anstehenden Prozess hat wohl einen weiten Spielraum für seine Entscheidung „schuldig / nicht schuldig“.

 

Und in dieser Version ist es dann eben dieser Richter, der als Gast im Hotel wohnt, ein ähnlich unsympathischer Kerl wie der potentielle Geldgeber im Original („Glatzkopf“, „komischer Typ“, „Perverser“). Aber Else will ihn bezirzen, für den Vater gnädig stimmen, macht mit ihm eine Bootstour … - Einer von vielen darstellerischen Höhepunkten: Elses (lasziver? oder verzweifelter?) Traumtanz mit einer Richterrobe …

 

Die Kern-Geschichte bleibt gleich: Er stellt ihr in Aussicht, den Vater zu retten. Gegen Gegenleistung. Eigentlich: „Ich will nur dich!“ (Bei Schnitzler: „Je vous désire“), aber er begnügt sich mit weniger: „Ich will nicht viel“ – sie nur für einen Moment sehen – nackt.

 

Anstatt im Musikzimmer kommt Else dem Verlangen in der Hotel-Lobby nach. Bei Schnitzler, 1924, fürchtete die Tante an dem „Skandal“ vor allem, dass „es in die Zeitung kommt“. Bei Else, 2022, klicken bei ihrem Striptease die Handy-Kameras, gehen die Bilder binnen Minuten viral.

 

Das lässt Böses ahnen, wenn man an zahlreiche Berichte denkt, wonach sich Mädchen wegen Oben-ohne-Fotos im Netz umgebracht haben. Und tatsächlich: auch diese „Else (ohne Fräulein)“ denkt gelegentlich mal an Selbstmord. Nicht mit Gift, wie die Schnitzlersche Else; sie würde ins Wasser gehen; die stilisierte Badewanne im Zentrum des Bühnenbildes würde sich anbieten. Regisseur Alexander Vaassen spricht von „einer Ophelia-Pose, einem ästhetisierten Bild, das sich für den weiblichen Freitod etabliert hat

 

Doch zumindest die Detmolder Else ist robuster. Zum Glück. Ihr Happy End mag man für naiv und – nach der Erfahrung mit realen Fällen – für kaum glaubhaft halten. Aber sei’s drum: 

 

Else geht zu Polizei um den Richter anzuzeigen. Sie gerät an eine verständnisvolle Polizistin. Vorletzter Satz: „Else, 15, hat Glück gehabt. Ihr wird geglaubt“.

 

Letzter Satz: „Soll ich mich jetzt schämen?“ – Nein, warum denn?!

 

Dem heftigen Beifall nach zu urteilen, waren die übrigen Zuschauer ebenso begeistert wie ich.

 

Der Autor

Thomas Arzt, geboren 1983 in Schlierbach in Oberösterreich, studierte Drehbuch in München und Theaterwissenschaft in Wien. Er jobbte zunächst als Sozialarbeiter und Sprachlehrer und schrieb dann erste szenische Texte für und mit Kindern und Jugendlichen. Im Rahmen des Schreibprogramms «stück/für/stück» am Schauspielhaus Wien entwarf er 2008 sein erstes Theaterstück «Grillenparz», das 2011 …dort uraufgeführt wurde. Seither entstanden zahlreiche Arbeiten für Theater ... Seine Stücke wurden in mehrere Sprachen übersetzt und auf Festivals in New York, Buenos Aires und Kiew gezeigt. Daneben verfasste er Hörspiele und politische Essays, u.a. im Kollektiv «Nazis & Goldmund». 2021 erschien sein erster Roman «Die Gegenstimme» im Residenz Verlag. Thomas Arzt lebt mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern in Wien.

Quelle: https://www.thomasarzt.at/bio/

 

 

 

 

Landestheater Detmold – Grabbe-Bühne:

 

Else (ohne Fräulein)

Schauspiel von Thomas Arzt nach Arthur Schnitzlers innerem Monolog „Fräulein Else“

 

Besetzung:

  • Inszenierung            Alexander Vaassen
  • Bühne                       Alexander Vaassen
  • Kostüme                    Wynonna Nixel
  • Dramaturgie              Sophia Lungwitz
  • Maske                        Kerstin Steinke
  • Licht                           Dirk Pysall Patrick Engelke
  • Ton                             Dirk Pysall Patrick Engelke
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  • Else                            Stella Hanheide
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Nächste Aufführungen im Grabbehaus, Detmold

(ohne Gewähr – s. Landestheater )  

 

So, 04.12.22, 18:00 Uhr

Fr, 09.12.22, 19:30 Uhr

So, 11.12.22, 18:00 Uhr

So, 15.01,23, 18:00 Uhr

Sa, 11.02.23, 18:00 Uhr

Sa, 01.04.23, 18:00 Uhr

 

Weitere Aufführungen:

 

Do, 11.05.23, 20:00 Uhr – Bocholt, Drosselsaal im Textilwerk

Do, 01.06.23, 19:30 Uhr – Hameln, Theater