Kitsch oder Shakespeare?

Der Vetter aus Dingsda kommt ins Detmolder Landestheater

(alle Fotos: Landestheater Detmold)

 

g.wasa     -     Detmold.     -     „Wer nach jeder Nummer klatscht, macht das Musikdrama zum Liederabend“, hat August Everding mal gemosert. „Nur gut, dass der Alte DAS nicht mehr erleben musste!“, möchte man da fast stoß-seufzen.

 

Begeistertes Publikum

„DAS“ – das ist die Premiere vom „Vetter aus Dingsda“, am letzten Oktoberwochenende im Landestheater Detmold. Da hat ein klatschfreudiges Publikum wirklich ALLEM applaudiert: nicht nur jeder (JEDER!) Gesangsnummer, nicht nur dem wirklich applauswürdigen Spiel des Dieners mit dem Tennisball, sondern auch so banalen Dingen wie Brigitte Baumas Herabhüpfen von einem 30 Zentimeter niedrigen Sockel. (Wer natürlich Brigitte Bauma und ihr komisches Talent kennt, weiß sehr wohl, dass sie auch aus so einem kleinen Sprung einen großen Schritt für … also … ein beklatschenswertes Ereignis machen kann.) - Da braucht es dann kaum noch des langanhaltenden, kräftigen, mit reichlich „Bravi“ durchsetzen Schlussbeifalls um zu konstatieren: Wir haben soeben der Geburt eines Publikumsrenners beigewohnt!

 

Edel-Operette

Und ja – warum auch nicht?! Zwar hat beim Reingehen ein Bekannter, Mitglied der Detmolder Kultur-Bourgeoisie und langjähriger Theater-Habitué, gespottet: „Na, heute auch mal bei der leichten Muse?“. Doch darf man Eduard Künnekes bekannteste Operette getrost zu den Schwergewichten des Genres zählen. Einen kleinen Hinweis auf die Qualität des Werkes gibt schon der Titel, der mit seinem „Dingsda“ die (nicht nur geographische) Ignoranz des gemeinen Spießbürgers verspottet. Sabine Müller, die sich dem Phänomen Künneke wissenschaftlich genähert hat, zitiert in ihrem lesenswerten Originalbeitrag im Programmheft einen zeitgenössischen Kritiker, welcher Künnekes Werk „weit über dem Niveau der durchschnittlichen Operettenware“ einstuft. Und der sonst so gestrenge Volker Klotz lobt in seinem Standardwerk „Operette“: „Schon das Libretto reicht an die besten Stücke Offenbachs und Suppés heran“, um dann – für seine Verhältnisse fast schon euphorisch – die intelligente Komik des Werks und vor allem die Musik zu preisen: Der (vom Niederrhein stammende) Künneke setzt sich nämlich von seinen Wiener Kollegen mit ihrer aufgesetzten k.u.k.-Exotik ab und schafft stattdessen (ausgehend „von der deutschen spätromantischen Oper … - teils über Wagner, teils neben Wagner her - … in Humperdinks Spuren“)  einen „spezifisch deutschen Klang“ mit einer „mitunter volksliedhaften Melodik“, wobei er dem „drohenden Traditionalismus und Provinzialismus“ durch die gekonnte Mischung von Alt und Neu begegnet, z. B. durch die gelungene Integration der damals modernen Tänze wie Foxtrott, Tango oder One-Step. Mit anderen (mit Klotz‘) Worten: eine „eigenwillige Verschränkung von spätromantischer Opernmusik und zeitgenössischer Gassenhauerei“.

 

Eine Ohrwurm-Sammlung

Ein bisschen freundlicher als „Gassenhauer“ klingt vielleicht „Ohrwürmer“, mit denen dieses Stück reichlich durchsetzt ist: Vom frechen „Onkel und Tante, ja das sind Verwandte, die man am liebsten von hinten sieht“ und dem rhythmisch-eingängigen „der Roderich, der Roderich“ über das sprichwörtliche optimistische „ganz unverhofft kommt oft das Glück“ bis – natürlich! – hin zu der Schnulze „Ich bin nur ein armer Wandergesell“. Mindestens ebenso sentimental: das erinnerungsselige „Weißt du noch, was wir als Kinder gefühlt“, bei dem die Bühne folgerichtig in kirschrotes … äh … kitschrotes Licht getaucht wird – nicht der einzige Anlass für den materialistischen Onkel Josse zu stöhnen: „Ist das kitschig!“ (Oder sollte hier Andreas Jören aumüpfigerweise aus seiner Rolle herausgetreten sein? – Zu verdenken wär’s dem anspruchsvoll-ernsthaften Sänger nicht.)

 

 

Operetten-Exotik

In eine ähnliche Richtung geht es, wenn der falsche Vetter im Foxtrott-Rhythmus schmettert: „Sieben Jahre lebt ich in Batavia“, und das ganze Ensemble sich um ihn gruppiert: mit Phantasiekostümen ausstaffiert als Operetten-Chinesen oder (was wohl dasselbe ist) Operetten-Malaien.

 

(Für die Bildungsbeflissenen unter Ihnen habe ich für diese Stelle eine Erläuterung zum Thema Dingsda – Holländer – Kolonien - Batavia – Jakarta vorbereitet; aber mein Text ist eh mal wieder viel zu lang, und die Quellen meines Wissens sind nur zwei Klicks entfernt: Bataver + Batavia . – Dass das Stück in Holland spielt, wissen Sie ja wohl hoffentlich! ).

 

Operetten-Happ-End

Aber wieso sollen hier keine Operetten-Chinesen auftreten? Schließlich SIND wir in einer Operette! Bester Beweis ist die Handlung (welche wir über dem ausführlichen Lob der Musik nicht aus den Augen verlieren sollten, und) die soweit operetten-typisch ist, dass es hier genügen möge, das Endergebnis zu resümieren:

 

Am Schluss stehen auf der Detmolder Bühne vier Paare (man ist geneigt zu unterstellen: überwiegend glückliche). Dass darunter ein sich umarmendes Männerpaar ist, wird heute wohl keinen mehr erschüttern. Nur der aufdringliche Blumenkavalier Egon (überzeugend: Nando Zickgraf) bleibt am Ende solo. Zum Trost lässt man ihn in Detmold so ein bisschen wie Harry Potter aussehen. Und schickt ihn nach Dingsda, also: nach Batavia. Denn Hauptperson Julia braucht keinen Zauberlehrling: sie inszeniert ihr eigenes Zaubermärchen. Und in dessen Verlauf und Folge gibt’s dann die operetten-üblichen Verkleidungen Verwechslungen, Verliebungen … Die müssen Sie sich einfach selber anschauen (-hören)!

 

Sie werden Ihren Spaß haben!

Spaß am Bühnenbild, das von der Eröffnung der Frühlingssaison in der Gartenabteilung eines Baumarktes inspiriert ist. Mit einer – vielleicht? – exotischen Komponente: einem Büschel Tabakblätter (Stichwort: Sumatra) in der rechten oberen Ecke (falls ich das richtig erkannt haben sollte).

 

Spaß, natürlich, an der mal eingängigen, mal mitreißenden Musik, die György Mészáros seinem begeistert/begeisternd aufspielenden Orchester entlockt. Und erst recht: Spaß an den Darsteller-Sänger-innen: an dem köstlich aufeinander abgestimmten (Liebes-)Paar Emily Dorn und Stephen Chambers, ebenso wie an dem reizenden Buffo-Pärchen Annina Olivia Battaglia und Jakob Kunath; an Brigitte Bauma und Andreas Jören, die sich regelrecht als komisches Traum-Paar präsentieren, und nicht zuletzt an den Dienern Stefan Anđelković und Kevin Dickmann, die sich mit ihrer vielseitigen Drögheit ganz schnell ganz tief in die Herzen des Publikums spielen!

 

Viel Spaß macht auch die eine oder andere hübsche Idee der Regie (Guta Rau), allen voran die außergewöhnliche Ankunft des Vetters aus Dingsda, die hier zwar der (auch musikalisch vorgegebenen: „Ta tü taa“) Handlungslogik widerspricht, aber sich derart vergnüglich präsentiert, dass es mich in allen 10 Fingern juckt, Ihnen dieses überraschende Event in allen Einzelheiten zu schildern … Aber dann wär’s ja keine Überraschung mehr!

 

Vergleich mit Shakespeare – nicht zu hoch gegriffen

Auf einen weiteren Aspekt muss dagegen unbedingt hingewiesen werden: Wenn Julia schwankt zwischen ihrer (mehr als) sieben Jahre andauernden Liebe zu einem Phantom, zu der Erinnerung an einen Verschwundenen einerseits, und andererseits der gerade kräftig aufkeimenden Leidenschaft für eine reale Person aus Fleisch und Blut, dann rührt das an das ur-philosophische Problem „Wer oder was bin ich?“ und an die zentrale Frage der Zwischenmenschlichkeit: „Wer oder was bist du für mich?

 

Die entsprechende Szene wird von Regie und dem Darsteller Chambers derart gekonnt und feinfühlig gestaltet („Ich bin’s nicht und ich will’s auch nicht sein. – Ich bin nur ein armer Wandergesell …“), dass hier tatsächlich ein Hauch shakespearscher Tragik über die Operettenbühne weht (oh Gott, muss ich wirklich einen derartigen Schwulst schreiben?!). Dramaturgin Elisabeth Wirtz hat demnach alles Recht, im Programmheft auf Shakespeares „Komödie der Irrungen“ zu verweisen. Ist doch der Theater-Übervater nicht nur ein Meister darin, die tragischen Aspekte seiner Komödien herauszuarbeiten (wie er umgekehrt in jeder Tragödie eine kräftige Prise handfester bis derber Komik unterbringt), ein ganz besonderes Anliegen scheint ihm – gerade in seinen Verwechslungs-Komödien – die Frage nach der menschlichen Identität zu sein (mehr dazu in meiner Kritik der „Komödie der Irrungen“).  

 

Und deshalb wollen wir die in der Überschrift gestellte Frage – „Kitsch oder Shakespeare?“ – mit einer Gegenfrage beantworten: Wieso „oder“?

 

 

 

Landestheater Detmold:

 

Der Vetter aus Dingsda

 

Operette in drei Akten von Eduard Künneke

 

Musikalische Leitung:        György Mészáros
Inszenierung:                    Guta G. N. Rau
Ausstattung:                      Markus Meyer
Choreografie:                    Kirsteen Mair
Dramaturgie:                     Elisabeth Wirtz

Julia de Weert:                  Emily Dorn / Simone Krampe / Megan Marie Hart
Hannchen:                        Annina Olivia Battaglia
Josef Kuhbrot (Josse):      Andreas Jören
Wilhelmine:                       Brigitte Bauma
Egon von Wildenhagen:     Nando Zickgraf
Ein Fremder:                     Stephen Chambers / Alexander Geller
Ein 2. Fremder:                 Jakob Kunath / Richard Hamrin
Hans (Diener):                   Stefan Anđelković
Karl (Dienere):                   Kevin Dickmann / Kolja Martens

(Doppelbesetzung in alphabetischer Reihenfolge!)

Premiere: Freitag, 26. Oktober 2018, Landestheater Detmold

Fotonachweis: Landestheater Detmold/Birgit Hupfeld / Landestheater detmold/Jochen Quast