Der ewige Kampf zwischen Gut und Böse

Detmolder Ballett tanzt „das kalte Herz“

(alle Fotos: Landestheater Detmold)

Menschen wie Du und Ich im Schwarzwald

(g.wasa     -     Detmold.)     Mit einem getanzten „Dschungelbuch“ hat sich die Detmolder Ballettcompagnie im Vorjahr einen rauschenden Erfolg ertanzt. Jetzt hat Choreografin Katharina Torwesten wieder einen Wald als Schauplatz ausgewählt: dieses Mal den Schwarzwald. Anstelle von Panther, Bär und Schlange treffen wir dort Menschen (fast) wie du und ich: Arme und Reiche, Fleißige und Tagediebe, Gewinner und Versager, Liebende und Egoisten; die oberen schauen auf die unteren herab, die unteren möchten gern hoch kommen …

 

Um hoch zu kommen, lässt sich der eine oder andere gern auch mal von übernatürlichen Mächten helfen. Obwohl der Autor der Geschichte gleich zu Beginn „den Bewohnern dieses Waldes ihren törichten Aberglauben an Waldgeister“ vorwirft, macht er kurz darauf zwei dieser Geister zu entscheidenden Figuren seiner Sage mit dem Titel „Das kalte Herz“.

 

Dieser Autor, Wilhelm Hauff (1802 – 1827) hat trotz seines frühen Todes ein breites Œuvre hinterlassen. Zu seiner Zeit machte er Furore mit dem historischen Roman „Lichtenstein“, heute sind vor allem noch seine Märchen bekannt („Der kleine Muck“, „Der falsche Prinz“), die er in mehreren Sammlungen veröffentlicht hat: als „Märchenalmanach(e) für Söhne und Töchter gebildeter Stände“. In dieser Formulierung kommt Hauffs literarischer und pädagogischer Anspruch zum Ausdruck: „… damit bediente er eine Mode seiner Zeit: Literatur zum Zwecke der moralischen Bildung stand bei den Romantiker*innen hoch im Kurs“, heißt es im Programmheft. Diese Absicht wird gerade in unserer Vorlage immer wieder deutlich.

 

„Das kalte Herz“ ist die zentrale Geschichte in der Rahmenerzählung „Das Wirtshaus im Spessart“ (welche vor allem durch den gleichnamigen Film von 1957 in Erinnerung geblieben ist).

 

Hauffs Erzählung

Peter Munks Vater und Großvater waren Köhler im Schwarzwald – ein eher verachteter Beruf. Als der „Kohlenmunkpeter“ mit 16 den Vater verliert, steigt er in das Gewerbe ein – doch anders als seine Vorfahren ist er nicht zufrieden, will höher hinaus, Glasmacher werden oder gar Holzhändler, jedenfalls: Reichtum und Ansehen gewinnen. Zu seinem Glück ist er ein „Sonntagskind“, und solchen pflegt das „Glasmännlein“, ein guter Waldgeist, drei Wünsche zu erfüllen. Den ersten Wunsch erfüllt der Geist nur widerwillig: Peter will mit seinen Wirtshaus-Bekannten gleichziehen und immer ebenso viel Geld in der Tasche haben wie der reiche Ezechiel und zudem besser tanzen können als der Tanzboden-König. Der zweite Wunsch ist vernünftiger: Eigentümer „der schönsten und reichsten Glashütte im ganzen Schwarzwald“ zu werden; doch anstatt sich den nötigen Sachverstand dazu zu wünschen, nimmt Peter lieber noch ein Pferd mit Wagen. Einen dritten Wunsch verwehrt im das Glasmännlein vorerst.

 

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Peter ist jetzt reich, übertrumpft als „Tanzboden-Kaiser“ den „Tanzboden-König“, ist als Glasherr ein angesehener Mann und beeindruckt im Wirtshaus, indem er mit Geld um sich schmeißt: je mehr er im Kartenspiel an den dicken Ezechiel verliert, umso mehr hat er – seinem Wunsch entsprechend – in seiner eigenen Tasche. Bis er eines Tages dem Ezechiel dessen ganzes Geld abgewinnt, und demzufolge plötzlich auch nichts mehr hat – was ihn in den Verdacht der Hexerei bringt. Gleichzeitig hat seine Misswirtschaft seine Glashütte in die Pleite getrieben – und Peter ist mehr denn je der verachtete Außenseiter.

 

Da lässt er sich mit dem „Holländer Michel“ ein, der in Gestalt eines riesenhaften Flößers auftritt, seinen Gefolgsleuten Reichtum schenkt, dafür aber deren Herz verlangt und bereits „eine Sammlung der angesehensten Herzen in der Umgegend von zwanzig Stunden“ sein eigen nennt. Dieser stattet Peter mit hunderttausend Gulden aus und ersetzt dessen lebendiges Herz durch ein steinernes. Diesmal weiß Peter sein Kapital zu vermehren, indem er sich auf Finanzgeschäfte zu Wucherzinsen verlegt und seinen Schuldnern – herzlos, wie er nun ist – das Dach über den Köpfen wegpfänden lässt. Bettler, die er früher mit Almosen bedacht hat, jagt er jetzt mit „ein paar tüchtigen Fleischer-Hunden“ vom Hof; und selbst seine alte Mutter wird meist weggejagt, wenn sie als Bettlerin an die Tür des reichen Sohnes klopft.

 

Eines Tages erscheint das Glasmännlein, verkleidet als alter Lastenträger. Peters mitleidige Frau reicht ihm ein Glas Wein und ein Stück Brot – was ihren Ehemann so erbost, dass er seine Frau erschlägt. Diese Untat und die Vorhaltungen des guten Waldgeistes bringen Peter zur Besinnung. Mit Hilfe des Glasmännleins und mit einem Trick schafft er es, sein Herz vom Holländer Michel zurückzubekommen. Jetzt ist er auch zur Reue fähig, und damit steht einem märchenhaften Happy End nichts mehr im Wege: Seine Frau Lisbeth ist wieder am Leben; sie verzeiht Peter ebenso wie die Mutter, und das gute Glasmännlein ermöglicht einen wirtschaftlichen Neu-Anfang.

 

„Von jetzt an wurde Peter Munk ein fleißiger und wackerer Mann. Er war zufrieden mit dem, was er hatte … und wurde durch eigene Kraft wohlhabend und angesehen und beliebt im ganzen Wald … So lebten sie still und unverdrossen fort“, in der Erkenntnis: „Es ist doch besser, zufrieden zu sein mit wenigem, als Gold und Güter haben und ein kaltes Herz.“

 

Die Moral

Hauff kritisiert den fortschreitenden (frühen) Kapitalismus seiner Zeit, mit dem er alle moralischen Felle davon schwimmen sieht“ (Programmheft). Es geht um die alte Geschichte von den zwei Wegen zum Erfolg: dem einfachen aber gefährlichen, der letzten Endes ins Verderben führt, und dem ehrlichen aber anstrengenden Weg zum verdienten und beständigen Erfolg. Kurz: die fundamentale Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse.

 

Nicht ganz einfache Kost also, eine komplexe Geschichte voller anspruchsvoller Ideen, und man ist gespannt, wie Torwesten das alles in der Sprache des Tanzes erzählen wird. Vielleicht fragt man auch, warum es denn ausgerechnet dieses Stück sein müsse; andere Hauff-Märchen – „Zwerg Nase“ etwa oder „Kalif Storch“ – böten sich doch viel eher für eine tänzerische Umsetzung an.

 

Aber: „‘Das kalte Herz‘ hat mich schon als Kind bezaubert“ (Torwesten). Natürlich ist es gerade der moralische Gehalt, der dieses Stück interessant macht, „diese Parabel über menschliche Habgier in bildgewaltiger Sprache“ (Landestheater). Schon immer sind die Menschen vom ewigen Kampf zwischen Gut und Böse fasziniert, hier personifiziert im Holländer Michel, der „über Leichen geht, um Erfolg zu haben“ und im Glasmännlein, das „für Transparenz steht, für Offenheit und Erfolg durch eigenes sauberes Handeln“ (Torwesten).

 

Und der Vertrag zwischen Peter und Holländer ist nur eine neue Version des literarischen Dauerbrenners vom Teufelspakt (der ja nicht erst mit „Faust“ beginnt, sondern – z. B. – schon mit der altgriechischen Legende vom Teufelsbündner Theophilus oder mit Calderóns „Magus“, und der vielfältige Abwandlungen, gerade auch im Märchen, erfahren hat: bei „Peter Schlemihl“ ist es der eigene Schatten, der dem Bösen überschrieben wird, bei „Rumpelstilzchen“ das Kind, und hier ist es das Herz).

 

Das ‚Menschenherz‘ ist von universeller Bedeutung“, sagt Torwesten und leitet aus Hauffs Geschichte die Botschaft ab: „Bewahrt euch das! Bewahrt euch euer menschliches Herz. Bleibt Menschen unter Menschen!“ – zum Beispiel auch, indem ihr „beim Wirtschaften Maß haltet“.

 

Noch einmal: Man ist gespannt, wie Torwesten das alles in der Sprache des Tanzes erzählen wird. Um es vorweg zu nehmen: Es gelingt ihr überraschend gut. Und selbst wenn sich dem Zuschauer, der den Text nicht kennt, auch nicht alle Details der ursprünglichen Erzählung erschließen – so wird er dafür doch reichlich entschädigt durch prächtige Bilder, durch fulminante Tanzszenen.

 

 

Die Inszenierung

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Zu Beginn wird Schwarzwald-Stimmung erzeugt: Mit den dunklen Tannen an den Seiten und zwei puppenartigen Figuren in Tracht, wie man sie von Schwarzwälder Spieluhren oder Wetterhäuschen kennt. Hier fällt noch nicht unbedingt auf, dass die („mechanischen“) Figuren von einer düsteren Gestalt dirigiert werden …

 

… denn schon sehen wir uns einer bunten Tanzszene gegenüber, als wären wir beim Folklore-Abend im Schwarzwald-Hotel. Hier allerdings ist ein Außenseiter nicht zu übersehen: Peter Munk, der Köhler, rußverschmiert und in Kleidern, die deutlich in Richtung Prekariat weisen. Da ist es fast schon ein Wunder, wie die schöne Lisbeth auf sein Werben eingeht, wie sie sogar die Rußflecken an ihrem Kleid mit Humor trägt. Ein erster tänzerische Höhepunkt: dieser Pas de deux einer vorsichtig-schüchternen Annäherung (Mario Martello Panno, Mirea Mauriello).

 

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Aber noch ist es natürlich viel zu früh für ein Happy End. Noch muss vor allem der arme, verachtete Peter einen weiten Weg zurücklegen, dessen Stationen immer wieder in plastischen, bunten, anrührenden, aufwühlenden Tanzszenen illustriert werden: wie er von einer Übermacht verprügelt wird. Wie er sich – angesichts galoppierender Inflation (eine erste Anspielung auf die Gegenwart) – kein Bier mehr leisten kann. Wie er sich im Tanzwettbewerb der Dorfjugend blamiert, und wie ihm dann – später – das Glasmännlein die Gabe des Tanzes verleiht.

 

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Zu dem glitzernden Glasmännlein (Giulia Spinelli) assoziiert man zunächst eine Figur aus 1001-Nacht, doch bei näherem Hinsehen erkennt man nicht nur den „spinnweb-dünnen Bart“ aus Hauffs Text, sondern erinnert sich auch daran, dass der Geist dort zwar als Schwarzwälder Glasbläser kostümiert ist, dass seine Kleidung aber aus (glitzerndem) Glas besteht. - Das Gegenbild zu dieser Lichtgestalt ist die düstere Figur des Holländer Michel: Alexander Diedler könnte in jeder Faust-Inszenierung als Mephisto auftreten.

 

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Doch ist dieser Mephisto nicht mehr in alten Holzfällerhütten daheim – mit seinem Auftritt springen wir in eine (nahe?) Zukunft. Nicht in einer mittelalterlichen Hexenküche treibt der Holländer Michel seinen Hokuspokus, vielmehr führt er seine Herzoperationen in einem hochmodernen Labor aus. (Ein kurzer, lesenswerter Beitrag im Programmheft informiert über den realen Hintergrund dieser Szenerie, den „Transhumanismus“, das Bestreben Cyborgs, „Maschinenmenschen“ zu entwickeln). - Anstelle des Marmorherzen pflanzt Michel seiner Klientele nämlich einen Chip ein – da kriegt er gleich alle relevanten Daten in seine Datenbank. Und diese Datenbank teilt denn auch bereitwillig mit, wessen leuchtend-pulsierende Herzen hier gesammelt sind: nicht mehr die der reichen Holzhändler, der Oberförster oder Werbeoffiziere. Zur heutigen Crème de la Crème der Herzlosen gehören: ein Waffenhändler, ein Drogendealer, eine Managerin …

 

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Und jetzt auch Peter Munk, der sich dem lukrativen Geschäft des Datenhandels verschreibt. Fast erkennt man ihn nicht wieder (wäre da nicht das auf seine Brust applizierte Herzsymbol): ein Yuppie, ein Nerd, ganz in Schwarz, nur noch konzentriert auf Handy und Laptop, auf Zahlen, Kurse und Charts. Zwischendurch eine hübsche Miniatur: die typische „Komm jetzt endlich zum Essen“-Situation.  

 

Auf das Kennenlernen von Peter und Lisbeth am Anfang, auf den hoffnungsfroh-anrührenden Tanz, folgt jetzt, gegen Ende, ein weiterer Pas de deux der inzwischen Verheirateten: sie bemüht sich fast schon verzweifelt um ihn, er weist sie unerbittlich ab – wieder ein tänzerischer Höhepunkt, auf den das Publikum mit spontanem Applaus reagiert.

 

Jetzt geht es schnell dem Ende zu. Peters Mutter kommt als Bettlerin, die mitleidige Lisbeth reicht ihr ein Brot, Peter gerät außer sich und erschießt Lisbeth … Peter kommt zur Besinnung, doch ist er (noch) nicht fähig zur Umkehr. Der finale Kampf zwischen Gut und Böse muss zwischen dem Glasmännlein und dem Holländer Michel ausgetragen werden (ist es nötig zu erwähnen: eine furiose Tanzszene?). Schon etwas überraschend siegt das Gute – und damit ist der Weg frei für Peters Rettung. Bei Hauff erobert er sein Herz durch einen Trick (also eigentlich auch einen Betrug) zurück. Torwesten hat eine sympathischere Lösung: durch gemeinsam-solidarisches Bemühen seiner Mitmenschen gewinnt er sein gutes Herz wieder – der letzte, der schönste Höhepunkt eines an Höhepunkten reichen Tanzabends!

 

 

 

 

 

 

 

Landestheater Detmold / Sommertheater:

Das kalte Herz

Tanztheater nach dem Märchen von Wilhelm Hauff

 

Besetzung

Choreografie                    Katharina Torwesten

Komposition                    Maximilian Kremser

Bühne                               Martin Fischer

Kostüme                           Torsten Rauer

Dramaturgie                     Anna Neudert

Maske                               Kerstin Steinke

Licht                                 Udo Groll

Ton                                   Nikolay Schröder

 

Peter Munk                       Mario Martello Panno Felipe / Dos Santos Vasques

Lisbeth                             Mirea Mauriello / Erica Pinangé

Glasmännlein                   Giulia Spinelli / Madoka Sato

Holländermichel              Leony Rafael Boni / Alexander Diedler

Peters Mutter                    Marilena Dolgetta / Josefine Kaus

Ezechiel                            Aidan Cole Grierson

Der lange Schlurker         Enkhzorig Narmandakh

Tanzbodenkönig               Felipe Dos Santos Vasques / Mario Martello Panno

Gemeinschaft                   Veronika Jungblut / Leony Rafael Boni / Alexander Diedler / Marilena Dolgetta / Josefine Kaus / Aidan Cole Grierson / Caio Amaral / Enkhzorig Narmandakh / Felipe Dos Santos Vasques / Mario Martello Panno / Erica Pinangé / Mirea Mauriello / Madoka Sato / Giulia Spinelli

Ballett des Landestheaters Detmold

 

Weitere Termine (jeweils im Sommertheater Detmold):

 

So, 18.12.22,   18:00 Uhr

Sa, 14.01.23,   19:30

Do, 19.01.23,   19:30

Fr, 20.01.23,   19:30

 

(ohne Gewähr – s. Spielplan Landestheater  https://www.landestheater-detmold.de/de/programm   )