"Hair: Im Central-Park da kann ma gut lustig sein

Umjubelte Operetten-Premiere am Landestheater Detmold

(Foto: Landestheater Detmold)

WaSa. Detmold.  -  Wie heil ist die Welt, in der wir leben? Wie heil darf die Welt sein, von der wir träumen?

Auf der Bühne des Landestheaters Detmold hat Chef-Ausstatterin Petra Mollérus eine wunderschöne Landschaft aufgebaut, die den New Yorker Central-Park darstellen soll: die stattlichen Bäume sind gesund wie der Schwarzwald zu Leon Jessels Zeiten, der Rasen ist sattgrün wie eine Almwiese im Salzkammergut, dabei aber so penibel geschnitten wie der Schnurrbart des Zarewitsch; darüber schwingt sich anmutig eine filigrane Brücke wie in Venedig, und ein paar zierliche Gitterchen stehen bereit, um mit romantisch-kitschigen Blumenkränzen geschmückt zu werden. Eine bürgerfreundliche Stadtverwaltung erlaubt die Nutzung für private Feiern und per Gestattungsvertrag darf sogar die Parkstromversorgung angezapft werden, damit Shrimps-Cocktail und Prosecco auch hübsch-prickelnd-frisch gehalten werden können.  In diesem Arkadien des 21. Jahrhunderts schläft selbstverständlich kein Junkie hinter einer Bank seinen Drogenrausch aus, kein Obdachloser schnorrt („Haste mal  ’n Doller?“) für seine Tagesration Fusel (das besorgt dann während der Pause vor dem Theater-Tor ein bärtiger „Wanderer“), kein Afghanistan-Veteran trägt seine körperlichen und seelischen Blessuren spazieren. Ja, noch nicht einmal eine Dollar-Prinzessin aus dem Investment-Gewerbe hastet mit der Styropor-Packung Sushi-ToGo in die knappe Mittagspause und jammert, dass sie wegen der Finanzkrise den Dritt-Porsche abstoßen musste.

Stattdessen tritt auf: Jenny Berg (herrlich hektisch-effektiv: Ewa Rataj), Event-Managerin mit dem einzigen Problem, dass sie gar zu viele Events zu managen hat. Und jetzt soll sie hier auch noch den Geburtstag von Mrs. Berg, ihrer Mutter, ausrichten. Diese müsste, wenn man die Jahre so zusammenrechnet, ungefähr 62 sein; wir sehen aber eine 10 – 20 Jahre jüngere attraktive Frau, wunderbar gespielt von Kerstin Klinder, die in ihrem schicken Hosenanzug und mit Perlenkette sichtlich in der Upper-Middle-Class angekommen ist, die aber zu ihrer Vergangenheit steht und sich gerne in ihre Hippie-Zeit zurückversetzen lässt.

Denn diese Mrs. Berg ist niemand anders als jene Sheila, die in den wilden 60ern ihrem spießig-wohlhabenden Elternhaus entfloh, um mit langhaarigen Hippies gegen den Vietnamkrieg zu protestieren, um mit Hilfe von Drogen das Bewusstsein zu erweitern und um die Welt mittels Toleranz, Freundschaft und freier Liebe zu einem Paradies auf Erden zu machen.

Und das ist der Clou von Dirk Böhlings Detmolder „Hair“-Inszenierung: Er siedelt sie im Heute an und lässt seine Protagonistin erzählen, wie das damals so war. Sheila senior begibt sich also auf eine Zeitreise und versucht dabei, der skeptischen Tochter („Du mit deiner blöden Nostalgie“) sowie dem eine müde Null-Bock-Aura ausstrahlenden Enkel (und somit auch dem nachgeborenen Publikum) den damaligen Zeitgeist zu erläutern. Dadurch, dass Böhling das damalige Kult -Stück in den   f o r m a l e n   Rahmen der Zeitreise packt, erspart er sich die mühsame (aber für das Regietheater wichtigste und spannendste!) Aufgabe, das Protest-und-Aufbruch-Musical der 60er Jahre in einen aktuellen   i n h a l t l i c h e n   Rahmen einzupassen. Dass es anno 2012 genügend Ansätze für aktuelle Anspielungen gegeben hätte, darauf haben wir schon in unserer Vorankündigung hingewiesen.

So betrachten wir also aus dem bequemen Theatersessel das bunte Treiben von damals: das fröhliche In-den-Tag- hinein-Leben der Hippies, die folkloristisch-bunt gekleidet sind wie Zigeuner (nur dass sich der Anführer nicht Baron nennt, sondern Berger); die Haare sind zwar lang, aber frisch gewaschene (Standard-Dialog von damals: Spießer: „Diese schrecklichen langen Haare!!!“ – Jugendlicher: „Aber Schiller und Hölderlin hatten doch auch lange Haare.“ – Spießer: „Ja, gegen lange Haare habe ich ja auch nichts – aber sauber müssen sie sein“). Da spielt (!) also wieder der Protest gegen den Vietnamkrieg, das Aufbegehrens gegen die althergebrachten  Autoritäten in Wirtschaft, Politik, Bildungswesen und Kultur, da wird also wieder die neue (Sexual-)Moral mit Toleranz und freier Liebe verherrlicht …  Wie gerne würden „wir alten 68er“ gemeinsam mit Sheila in diesen Erinnerungen schwelgen!

Aber dem kritischen Geist drängt sich unweigerlich die entscheidende Frage auf, die Böhling vorhergeahnt hat, und die er deshalb schon auf der Bühne der pragmatischen Tochter in den Mund legt: „Was ist daraus geworden?“  Die erwachsene Sheila hat keine Mühe, die einschlägigen Vokabeln fast wie eine Litanei herzubeten. Aber sie kann damit nicht überzeugen!  Toleranz – sind wir Fremden und Außenseitern gegenüber wirklich so viel toleranter? Oder nur gleichgültiger? Freie Liebe – die trieb auch nur eine kurze Blüte, nachdem die Pille die Angst vor Schwangerschaft beseitigt hatte, bis die Angst vor  Aids zu neuer Verklemmtheit führte - eine Verklemmtheit, vor der auch die Detmolder Rückblende nicht verschont bleibt: Bezeichnenderweise ist die Figur der Margaret Mead gestrichen, deren Vorbild einst als Anthropologie-Professorin die Idee der freien Liebe von ihren Südsee-Forschungsreisen an amerikanische Universitäten mitbrachte. Bis in die 90er Jahre hinein war es gang und gäbe, dass sich die Darsteller irgendwann im Laufe eines „Hair“-Abends sämtlicher Kleider entledigten; in Böhlings Version darf gerade mal eine Schauspielerin ein paar Minuten lang ihren hübschen Busen herzeigen. Die Gruppensex-Szene findet unter einer Folie statt, die immerhin so durchsichtig ist, dass man deutlich sieht, dass es nichts zu sehen gibt. (Oder sollte das nur provinzielle Spießigkeit sein? Eine Londoner Inszenierung huldigte noch vor wenigen Jahren der lustvoll-nackten Tradition – versäumte allerdings nicht, prüde Zeitgenossen durch ein fettgedrucktes „Warnig – Nudity“ vom Besuch abzuhalten).

Und dann der bejubelte Beginn des „Age of Aquarius“:  Dieses „Zeitalter des Wassermanns“ sollte der Menschheit für die nächsten 2000 Jahre Nächstenliebe, Freundschaft, Offenheit und Weltbürgertum bescheren; doch anstelle des Wassermanns regiert heute Pluto, nicht nur Herr der Unterwelt, sondern auch Gott des (schnell zusammengerafften und bis ins Extreme ungleich verteilten) Reichtums.

Ach so, ja: Weltfrieden. … wenn man 1968 noch uneingeschränkt gegen den Vietnamkrieg sein konnte, so ist die Situation 2012 differenzierter zu betrachten. Werden in Afghanistan die westlichen Ölquellen verteidigt? Oder das Recht der Frauen auf Schulbesuch? Und das Einschreiten des Westens in Libyen?  

Aber all diese Entwicklungen bleiben ja ausgeblendet, und so wird das Detmolder „Hair“ zur erinnerungsseligen Operette, die es nach wie vor vermag, ihr Publikum zu begeistern. Schließlich kommt hier einiges zusammen: keine störende Handlung, dafür eine swingende Musik und eine  munter aufspielende Band ; Mollérus‘ ansprechende Ausstattung; Böhlings Geschick, eine furiose Show zu inszenieren; und eine lebensfreudig-muntere junge Schauspieltruppe, die bereit und fähig ist, sich auf diese Show aus einer anderen Zeit einzulassen. Ein paar von ihnen können sogar singen, so etwa Fenja Schneider als junge Sheila und David Jacobs als Claude. Das ist um so erfreulicher, als die Songs nun einmal das Rückgrat dieses Stücks ausmachen (wobei man das eine oder andere dieser einst revolutionären Lieder heutzutage auch auf einem evangelischen Kirchentag hören könnte). Auch in Detmold tun die zahlreichen Ohrwürmer ihre Wirkung. Bereits nach wenigen Minuten wird  „Aquarius“ begeistert beklatscht; das setzt sich fort bei „Donna“.  Bei „Sodomie“ (mit seiner Verherrlichung von Masturbation, Fellatio & Co) hält sich das wohlanständige Publikum etwas zurück; aber dann geht’s weiter mit Szenenapplaus, die ganze lange Song-Reihe entlang über das ekstatische „I got live“ bis hin zum lyrischen „Good Morning Sunshine“ das endlich im jubelnden „Let the sunshine in“ gipfelt, in das dann sogar die nüchterne Tochter lauthals mit einstimmt. 

Natürlich wussten die erfahrenen Theaterleute, dass sie mit diesem aufwühlenden Schlusschoral nicht aufhören durften, und so hatten sie für das begeistert applaudiernde  Publikum ein ganzes Potpourri von Zugaben vorbereitet, bis sich schließlich – spätestens zum nochmals abschließenden „Sunshine“ – auch der trägste Premierenbesucher zur stehenden Ovation von seinem Sitz erhoben hatte.

 

 

(mehr Fotos: www.kulturinfo-lippe.de)

 

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Hair – The American Tribal Love –
Rockmusical in deutscher Dialogfassung


Buch und Texte: Gerome Ragni / James Rado
Musik: Galt MacDermot
Deutsch von Frank Tannhäuser, Nico Rabenald, Walter Brandin
 
Musikalische Leitung: Tobias Richter
Inszenierung: Dirk Böhling
Choreografie: Ricardo Fernando
Ausstattung: Petra Mollérus
Dramaturgie: Elisabeth Wirtz
 
Berger: Stephan Clemens
Claude: David Jakobs
Woof: Martin Krah
Hud: Fernando Spengler
Sheila: Fenja Schneider
Mrs. Berg: Kerstin Klinder
Jenny Berg, ihre Tochter: Ewa Rataj
Oliver Berg, ihr Sohn: Vladimir Karadjov / Sebastian Koerdt
Jeannie: Jenny-Ellen Riemann
Chris/Vater: Robert Augustin
Dionne: Marta Hornik
Ensemble: Julia Bielinski, Julia Hinze, Kathrin Horstkötter, Dorothee Möller, Sebastian Sohn, Jakob Warlich
Ballett des Landestheaters Detmold
Musiker:
Reed 1 (Flöte, Klarinette, Tenor-, Alt-, Bariton-Sax): Anja Heix / Thomas Krause
Trompete: Daniel Reichert / Matteo Scurci
Posaune: Dominik Hummel / Shawn Grocott
1. Gitarre: Manuel Lauterbach
2. Gitarre: Niklas Kopp
E-Bass: Mario Lauterbach
Drumset: Michael Peiler
Percussion: Julian Buhe