Landestheater Detmold zeigt sich von seiner besten Seite:

„Am Strand der weiten Welt“ von Simon Stephens

Eröffnungspremiere zu den NRW-Theatertagen

(alle Fotos: Landestheater)

Der Schluss von Becketts Godot ist einer der Schlüsselmomente moderner Dramatik. Wladimir sagt zu Estragon: Gehen wir? Estragon sagt Ja. Und sie bewegen sich keinen Millimeter. Dieser Moment sagt alles über uns: Wir wissen, dass wir falsch leben. Der Kapitalismus wird uns ruinieren, aber wir tun nichts, um die Dinge zum Besseren zu wenden.

Stephens im ZEIT-Interview

 

 

g.wasa     -     Detmold.     -     Landestheater-Intendant Kay Metzger kann seinen Stolz darüber nicht verhehlen, dass sein Haus das NRW-Theatertreffen 2017 ausrichten darf (Bericht über die Eröffnungsveranstaltung folgt). Traditionellerweise wird die Eröffnungs-Inszenierung (natürlich außerhalb des Wettbewerbs) vom gastgebenden Haus bestritten. 

 

Und klar: da will man sich dem illustren Publikum – von der kleinen, aber treuen Abonnentin über Bürgermeister und Landrat bis zur Kulturministerin – von seiner besten Seite präsentieren!

 

Also wählt man dafür ein anspruchsvolles zeitgenössisches Stück eines angesehenen Verfassers, lässt von der Chef-Ausstatterin Kostüme und Bühne gestalten sowie den Schauspieldirektor Regie führen und stellt schließlich auf die Bühne, was man an guten Schauspielerinnen und Schauspielern so zu bieten hat. Na – wenn da draus nichts wird! Oder?

 

Schau’n wir mal – der Reihe nach:

 

Autor und Stück

Simon Stephens, 1971 geboren, gehört zu den jüngeren englischen Theaterautoren, die mit  sezierendem Blick die sich auflösende englische Gesellschaft untersuchen. In einem ZEIT-Interview (15.05.2008) bekennt er sich als Anhänger Ödon von Horváths, den ich gerne als Großmeister der kleinbürgerlichen Tragödie bezeichne. Ähnlich wie Horváth will auch Stephens „mit aller Wahrhaftigkeit das Chaos beschreiben, in dem wir leben … Wir leben unser schönes Leben in einer apokalyptischen Zeit.“ – Im Hinblick auf die Auswirkungen von Terroranschlägen in Großbritannien klagt der Autor: „Es herrscht ein Klima des Verdachts, des Zweifels, der Dämonisierung, und dieses Klima verseucht die ganze Kultur. … Wir führen Krieg gegen eine Geisterarmee. Aber gegen Geister kann man keinen Krieg gewinnen.“ Doch könnte diese Diagnose auch für die Familie Holmes in seinem Stück „Am Strand der weiten Welt“ zutreffen. Der Titel ist ein Zitat aus einem Sonett John Keats‘ und steht für die Sehnsucht der kleinbürgerlichen Familie Holmes nach sozialem Aufstieg. Diese Familie lebt dort, wo Stephens seine Stoffe sucht: in seiner Heimat, im Speckgürtel der (Ex-?) Industriestadt Manchester, in der Kleinstadt Stockport, von der er im ZEIT-Interview sagt: You hate it and you know you gonna leave. Man hasst sie und man weiß, man wird abhauen.“

 

Die 2006 mit dem Laurence Olivier Award ausgezeichnete Familiensaga bietet – wie es in der Stückeinführung heißt – „wimpernschlag-kurze Einblicke“ und dabei „eine  detaillierte Beobachtung über den Mikrokosmos Familie“ in einer Zeit der allgemeinen Auflösung. Das „Abhauen“ zieht sich wie ein Leitmotiv durch das Stück: vordergründig: als Flucht des einen Sohnes nach London, symbolisch: als allgemeine Flucht aus der Realität, vielleicht sogar endgültig: als Flucht eines Jungen aus dem Leben?

 

 

Die Bühne

Petra Mollérus hat ein Händchen für einfache und dennoch aussagekräftige Bühnenbilder. Das beweist sie wieder einmal bei diesem Stück, indem sie der ausdrücklichen Vorgabe des Verfassers nachkommt, die Bühne „so offen, so schlicht und so wenig festgelegt wie irgend möglich“ zu gestalten. Der ansonsten schwarz-leere Raum wird beherrscht, von einer riesigen reinweißen Folie, die von hinten herunterfällt und bis nach vorne hin den Boden bedeckt: wie der Hintergundvorhang in einem Fotostudio. Und darauf agieren die Personen; vor diesem Nicht-Hintergrund präsentieren sich die Darsteller den Blicken der Betrachter, wie einer leblos-kalten Fotolinse. Da bleibt kein Rückzugsort, kein Winkel, in welchem man nicht so auffiele, keine Nische, in der man mal für sich wäre.  Da sind nur ein paar einfache schwarze Stühle, auf die man sich setzen kann wie in einen Fokus, auf denen man sich aussetzen kann, den Anmutungen seiner Mitspieler, den mitleidlosen Blicken einer stummen Öffentlichkeit.

                                                                                                                       

Einziges weiteres Requisit: eine Palette voller Sixpacks, die im Laufe des Abends allmählich weg-konsumiert wird (aber warum muss man dafür Krombacher nehmen? Nachdem der Intendant gerade eben noch der örtlichen Brauerei für ihr Sponsoring anlässlich der Theatertage gedankt hat?!).

 

Und dann steht da noch eine Harfe. Die dazugehörige Spielerin (Milena Hoge) erscheint immer zwischen den Akten, um die Einschnitte zwischen den insgesamt vier Phasen des Stücks (das sich insgesamt über neun Monate hinzieht) musikalisch zu akzentuieren.

 

Die Inszenierung

Martin Pfaff lässt auf der übersichtlichen Bühne eine folgerichtige Geschichte sich entwickeln – natürlich mit dem einen oder anderen Fragezeichen, das für dramatische Spannung sorgt und so die Neugierde wach hält. Am Anfang haben wir eine alltägliche, fast langweilige Familie: Peter, ein kleiner Selbständiger; Alice, Hausfrau und Mutter; im Hintergrund Peters Eltern; allenfalls die beiden Söhne – Christopher und Alex, 15 und 18 Jahre – bringen mit ein bisschen Liebesfreud und Liebesleid etwas Abwechslung, aber auch das lässt sich unter „Pubertät, halt“ abtun. Kurz: Menschen wie du und ich. Die vielleicht etwas zu langatmig vorgestellt werden: Hätte Pfaff die eine oder andere Länge herausgenommen, hätte das Stück vielleicht eine halbe Stunde (von dreien) verloren, aber an Gesamtwirkung gewonnen.

 

Aber ganz plötzlich nimmt man überall eine Spannung wahr, eine Gereiztheit, ein gegenseitiges Misstrauen. Da weiß man noch nicht, dass die (so einigermaßen heile) Familie von einem Schicksalsschlag getroffen wurde, wie von einem Blitz. Das erfährt man erst später, wenn der Vater während der Arbeit einer Kundin so en passant vom Unfalltod des jüngeren Sohnes erzählt. Stephens: „Er sucht jemanden, dem er die Schuld am Tod seines Sohnes geben kann. Er verkraftet nicht, dass alles nur Zufall war.“

 

Und jetzt zeigt uns Martin Pfaff den Zerfall einer Familie. Nun zeigen uns wunderbare Darsteller das schreckliche Leben, das Gefangensein in der Einsamkeit in der Gemeinschaft mit den fernen Nächsten. Man sucht Ablenkung vom öden Alltagsleben in öden TV-Events („Wenn Fußball kommt oder Big Brother“). Man weiß schon, wie schädlich Rauchen ist, aber was soll’s?! Alkohol wird zum zerstörerischen Tröster (Willst du’n Bier?“ - „Hör auf zu trinken!“ - „Trinkst du’n Bier in der Sonne, sieht die Welt gleich besser aus“). Umgangsformen und Kleidung werden immer schlampiger. Die Gleichgültigkeit gegenüber den anderen wächst im Gleichschritt mit dem Misstrauen …

 

Ein Fest für Schauspieler

Das Stück wird in all seiner Trostlosigkeit zu einem Fest für die Schauspieler, deren Charaktere von Petra Mollérus feinfühlig durch die passenden Kleider unterstrichen werden.

 

Allen voran begeistern Natascha Mamier als Mutter Alice und Stephan Clemens als Vater Peter. Wunderbar! Jede(r) für sich (Clemens‘ kleiner Monolog über seine Vaterrolle – beeindruckend; wie Mamier Alices Innerstes in Mimik übersetzt: sensationell), und erst recht beide zusammen: ist das Hassliebe zwischen ihnen? Oder doch wahre Liebe, die sich nur nicht zu artikulieren weiß? – So ähnlich auch das Verhältnis zwischen Peter und seinem Vater Charlie: ein Erlebnis, wie sich die beiden aneinander aufreiben und dabei ja nur keine Emotionen zu zeigen bereit sind!

Beeindruckend auch das ältere Ehepaar – kein Wunder: wenn Kerstin und Henry Klinder als Paar auftreten, ist der Erfolg sozusagen vorprogrammiert! – Die jüngeren Darsteller können da durchaus mithalten: ein Kabinettstückchen ist die erste ungeschickte, schüchterne Annäherung von Alex und Sarah (Lukas Schrenk / Wenja Imtau). Thomas Ehrlichmann nimmt man seine Rolle als pubertierender kleiner Bruder ohne weiteres ab. Selbst die (angesichts der kurzen Auftritte recht undankbaren) Nebenrollen sind hochkarätig besetzt mit Markus Hottgenroth und Nicola Schubert; allein Alex‘ Freund Paul (Adrian Thomser) wirkt etwas zu exaltiert.

 

Das Publikum ...

… hat am Ende lange und begeistert applaudiert, was sich alle Beteiligten auch redlich verdient hatten!

 

Dem „verehrten Publikums“ bleibt es am Ende dann überlassen, wie es das Stück interpretiert. Gibt man Sartre recht, mit seinem „Die Hölle sind die anderen“, gerade die Familienhölle, der man am schwersten entrinnen kann? Oder „muss, muss, muss“ da doch ein „guter Schluss“ sein? Ist es eben doch die Familie, die letzten Endes Geborgenheit bietet, durch die - wie es in der Stück-Einführung heißt - „tröstende und erlösende Kraft der Liebe“?

 

Ihnen hat’s gefallen. – Von links: Landrat Axel Lehmann, Kulturministerin Christina Kampmann, Intendant Kay Metzger, Verwaltungsdirektor Stefan Dörr, Bürgermeister Rainer Heller, Landesverbands-Vorsteherin Anke Peithmann, Festredner John von Düffel (Foto:

 

 

 

 

Landestheater Detmold:

 

Am Strand der weiten Welt (On the Shore of the Wide World)

 

Schauspiel von Simon Stephens

Deutsch von Barbara Christ

 

Inszenierung:                    Martin Pfaff

Ausstattung:                     Petra Mollérus

Dramaturgie:                     Marie Johannsen

 

Alice Holmes:                    Natascha Mamier

Peter Holmes:                   Stephan Clemens

Alex HoImes:                    Lukas Schrenk

Christopher Holmes:          Thomas Ehrlichmann

Ellen Holmes:                    Kerstin Klinder

Charlie HoImes:                Henry Klinder

Sarah Black:                     Wenja Imtau

Susan Reynolds:               Nicola Schubert

John Robinson:                 Markus Hottgenroth

Paul Danziger:                  Adrian Thomser

 

Harfe:                               Milena Hoge