Schwaches Stück - starker Darsteller
Vor Ostern: Landestheater zeigt Judas-Monolog in der Christuskirche
WaSa - Detmold. Können Sie sich vorstellen, zu wieviel gefühlter Zeit sich die fünf Minuten zwischen 19:30 und 19:35 Uhr zerdehnen, wenn man auf einem nicht so ganz bequemem Stuhl in der Christuskirche sitzt und sich folgenden Monolog anhören muss:
„[bisschen Blah-Blah]
Ich fange gleich an.
Ich habe ja schon angefangen.
Ich fange gleich richtig an.
[weiteres bisschen Blah-Blah]
Wenn ich dann gleich richtig anfange ....
Ich hab was vergessen
[geht und kommt mit Geldkassette wieder]
Okaaay. Ich fange jetzt an.
[noch ein bisschen Blah-Blah]
Ookaaaaay. Ich fange an. ...
Vielleicht sieht es so aus, als würde ich hier die Zeit totschlagen ...“
Nein! Es sieht nicht so aus! Es IST so! Und es ist meine Zeit! Und ich sollte jetzt aufstehen und gehen! Aber die Autorin, die diesen Mist verzapft hat, bekäme das ja nicht mit. Und gegenüber dem Darsteller wäre es ein Affront. Und der kann ja nix dafür (obwohl – dürfte ein gestandener Schauspieler wie Jürgen Roth nicht mal sagen, dass er sich zu gut ist für so ein leeres Gewäsch?!).
Aber zugegeben: so allmählich wird’s dann besser. Wenn auch nicht richtig gut. Dieser Monolog des Judas bleibt ein Sammelsurium von Geschwätz und Emotionen, von biblischer Mythologie und heutigen Alltagsbanalitäten – so, wenn Judas seine Suada plötzlich (und nicht nur einmal) unterbricht, um den Zuschauern wortreich vorzuwerfen, einer unter ihnen hätte seinen Eintritt nicht bezahlt. Was soll das denn? Den Judas auf seine klassische Rolle als geldgierigen Widerling festlegen? Das kann nicht klappen, da er wenig später glaubwürdig darlegt, es sei ihm bei seinem „Verrat“ nicht um die dreißig Silberlinge gegangen. Soll damit nur Zeit geschunden werden? So wie mit der „Ich fang gleich an“-Leier zu Beginn?
Vor etwa 15 Jahren hatte das Landestheater schon mal einen Judas-Monolog auf dem vorösterlichen Programm, verfasst von Walter Jens. Der meinte damals nicht, die Theaterbesucher unbedingt länger als eine Stunde unterhalten zu müssen; dafür hatte der Tübinger Rhetorik-Professor und bekennende Aufklärer sein Publikum immer wieder zum Denken außerhalb der durch jahrhundertelange Bibelauslegung festgelegten Bahnen gezwungen und war sehr stringent zu seinem logischen Ergebnis gekommen: Ohne Judas kein Verrat. Ohne Verrat keine Passionsgeschichte. Ohne Passionsgeschichte kein Christentum. Aber eben auch: Keine Kirche – kein Papst – keine Inquisition – keine Religionskriege; und ohne den jüdischen Verräter Judas kein Antisemitismus, keine Lager, kein Holocoust.
Natürlich – auch Vekemans‘ Judas kommt zu eben diesem Ergebnis, verkündet „das Gesetz der Dualität: „Kein Licht ohne Schatten ... Kein Jesus ohne Judas“. Er fragt: „Was wäre aus ihm geworden, wenn er weitergelebt hätte“, und natürlich folgt daraus die Frage: „Was wäre aus der Welt geworden?“ – Aber dieser Judas fragt zunächst: „Was wäre aus mir geworden?“ Das passt ins Bild, denn dieser Judas interessiert sich vor allem für sich selbst: seine Geburt, seine Herkunft, dass er ein ganz normales Kind war, das mit Freunden gespielt hatte („Ich weiß nicht, ob das wichtig ist. - Ist das alles wichtig?“, stellt er selbstkritisch seine langatmigen Ausführungen in Frage. Immerhin!) Er erzählt Anekdoten (wie er einmal auf Geheiß des Meisters einen Tag lang einen Stein angeschaut hat), was ein bisschen an die süßlichen Jesus-Legenden erinnert, mit denen im 19. Jahrhundert die irdischen Schäfchen verblödet wurden; doch hier fehlt sogar die Moral, die jene Geschichtchen aufzutischen pflegten.
Der „Meister“ ist dauernd präsent: in Form einer verwitterten schmalen Holzplanke mit düsterem Christusporträt, das so aussieht als sei es von einem Expressionisten nach dem Vorbild des Schweißtuches der Veronika oder auch nach einer alten Ikone gemalt worden.
Vekemans Judas macht allerdings klar, dass er Christus nicht als Gottes Sohn und Religionsstifter sah, sondern als irdischen Revolutionär, welchem er helfen wollte, die Herrschaft der Römer zu brechen. Deshalb wollte er ihn eigentlich auch nicht verraten, vielmehr hatte er „einen Plan“, wenn auch nicht so recht klar wird, worin dieser Plan nun eigentlich bestand ...
Es ist dann Jürgen Roth, der diesen Abend rettet. Im imposanten Ambiente des Chors der Christuskirche agiert er als ein Getriebener, als Mensch wie du und ich, der so ganz anders ist als wir anderen ... Er beginnt tatsächlich wie ein Pastor, der die eintrudelnden Theater/Kirchen-Besucher persönlich begrüßt. Dieser Rolle entspricht sein Outfit: dezent-schicker Anzug (mit Landestheater-Emblem auf der Brust). Aber irgendwann legt er seine modisch-rote Krawatte ab und hüllt sich in einen hellen Mantel, der ein bisschen an ein Prister-Ornat erinnert, aufgrund der groben Webweise aber auch die Assoziation „hären“ und damit „Büßerkleid“ weckt. Natürlich gehen die Detmolder nicht so weit wie Johan Simons in München, der bei der deutschen Erstaufführung seinen Judas-Darsteller nackt und bloß dem Publikum aussetzte. Das wäre ja auch kaum das passende Outfit für die Kirche gewesen ...
Obwohl ... gibt es einen schlimmeren Tabubruch, als in der Kirche das grundlegende christliche Dogma zu widerrufen – dass nämlich Jesus für uns alle gestorben sei! Genau dem widerspricht Judas, dazuhin noch von der Kanzel herab: „Er ist nicht für eure Sünden gestorben“ – ein Paukenschlag, dem allerdings (wiederum) die nachvollziehbare Begründung fehlt, denn die (wiederum selbstorientierte) Behauptung Judas‘, „Ich bin das, der alle Schuld auf sich genommen hat“ ist allenfalls auf den ersten Blick logisch.
Sei’s drum! – Jürgen Roth überzeugt mit einem breiten Spektrum von Empfindungen, die er uns glaubhaft vermittelt: Die eitle Arroganz nicht nur „Eines der Zwölf“, sondern des Wichtigsten der Apostel; der fragende Zweifel („hat er mir verziehen?“); der heilige Zorn, zum Beispiel auf all die falschen Propheten im Verlauf der Kirchengeschichte (vor allem auf die, welche den dummen Gläubigen Duldsamkeit im Diesseits abverlangen und ihnen dafür die Seligkeit im Jenseits versprechen); oder der tiefe, geradezu anrührende Schmerz über Christi traurige Reaktion auf den Verrat.
Den überzeugten, anhaltenden Schlussapplaus kann wohl zum wesentlichen Teil der Darsteller auf seinem Konto verbuchen.
Landestheater Detmold – Christuskirche:
Lot Vekemans: Judas
Übersetzt von Eva M. Pieper und Christine Bais
Regie: Stephan Wolf-Schönburg
Ausstattung: Torsten Rauer
Dramaturgie: Christian Katzschmann
Judas: Jürgen Roth