Denn die einen sind im Dunkeln ….

"Licht frei Haus"

Melles „Farce über vier verlorene Gestalten“ auf der Grabbe-Bühne

alle Fotos: Landestheater Detmold

g.WaSa     -     Detmold     -     Eine ferne Erinnerung: 70er Jahre in Tübingen; Solidaritätsdemo für die streikenden Daimler-Arbeiter. Den Tübinger Spießbürgern (zu einem Drittel amüsiert, zu zwei Dritteln verärgert über die „scho wieder demonschdrierende Schdudenda“) schleuderten wir unser „Hóch die ínternátionále Sólidárität“ entgegen; zum Abschluss sangen wir inbrünstig die „Internationale“. Die dritte Stophe konnte ich nicht mehr mitsingen, da ich eiligst zu Prof. Hoffmann ins Faust-II-Hauptseminar musste, um – ebenso inbrünstig – meine Hausarbeit über „Homunculus im Kontext des Philosophen-Streites Thales/Anaxagoras“ vorzustellen.

 

An den naiven Glauben von Germanistik-/Theologie-/Soziologie-Studenten, sie könnten der Arbeiterklasse zum Sieg verhelfen, indem sie rote Tücher an langen Stangen durch die Straßen tragen, muss ich denken, wenn ich folgenden Einleitungstext des Dramaturgen Katzschmann zu „Licht frei Haus“ lese:

 

„Es gibt Theatertexte, die setzen der verächtlichen Sicht auf die Depravierten, die ‚Arbeitsscheuen‘, eine Perspektive des Widerstands entgegen. Thomas Melle, der besonders konsequent den Blick auf die Unterschicht richtet, schaut dabei nicht aus sicherem Abstand von oben nach unten, sondern er betrachtet die gnadenlose Welt im gesellschaftlichen Abseits aus der Nahsicht. ‚Leiden und Krankheit werden oft weggeblendet, aber für mich [… liegt] die Betonung auf den Personen, die verstummt sind und ausgegrenzt werden‘, beschreibt der Autor seine Motivation. Dabei verklärt er die ‚Sozialfälle‘ aber nicht romantisierend zu unschuldigen Opfern.“

 

Autor und Stück

Thomas Melle, geboren 1975 in Bonn, studierte Vergleichende Literaturwissenschaft und Philosophie in Tübingen, Austin (Texas) und Berlin. Da mag man sich lebhaft vorstellen, wie er während des Philosophiestudiums in Austin (Texas) seine Nahsicht auf „die gnadenlose Welt im gesellschaftlichen Abseits“ entwickelt hat, die er uns dann in seiner 2007 uraufgeführten „Farce über die Existenz vier verlorener Gestalten“ präsentiert:

 

Agnes (N. Schubert)

Da stoßen rund um einen verkommenen Hinterhof vier dieser „Depravierten“ aufeinander: Agnes hatte mal Ambitionen als Malerin, jetzt ist sie vor allem damit beschäftigt, das Kind eines nicht mehr präsenten Erzeugers auszutragen, ohne dass sie deshalb ihren Nikotin- und Schnapskonsum einschränken möchte. Moritz, verbummelter Student, erforscht(e) „das Schöne“, dichtet noch manchmal und ist fest entschlossen, Vaterstelle an Agnes‘ Kind zu vertreten. Dazu zwei Ältere: Heinz, mit vermutlich „schwieriger Biografie“, spielt ein bisschen Hausmeister und wäre gerne „Hausverwaltung“.

Margot (N. Mamier)

Und schließlich Margot: in Outfit und Benehmen das Musterbild (die perfekte Karikatur?) der Prekariaten: ein schrill-keifendes „Spatzenhirn“; „asozial“ ist ihr zur fixen Idee geworden: immer hat sie Angst, als asozial zu gelten, aber manchmal scheint sie auch ein bisschen stolz darauf zu sein …

 

Später kommt dann noch ein Sozialarbeiter mit dem sprechenden Namen „Stempel“ dazu, der den Verdammten dieses Hinterhofes zu helfen verspricht, aber zunächst mal Bier, Würstchen und Zigaretten schnorrt und sich (vermutlich) – „als Mensch, nicht als Vertreter des Staates“ - von Agnes in seiner „Schwäche für schwangere, asoziale Frauen“ helfen lässt.

 

So erleben wir nun Melles „Nahsicht“ auf diese Figuren, in vier Episoden, die mit „Winter“, „Frühling“, „Sommer“ und „Herbst“ überschrieben sind;  und man staunt zunächst über die Sprache: Gut, die Metapher von „den Krampfadern im blaugemaserten Marmor ihrer Waden“ traut man dem dichtenden Studenten schon noch zu; aber man wundert sich, dass der dumpfe Heinz geläufig mit der „Fontanelle“ argumentiert, und dem „Spatzenhirn“ Margot glaubt man einfach keine derart expressionistisch-poetische Formulierung wie: „Hämisch leuchten die Wischstreifen auf vom letzten Putz, und der Pollenstaub gleißt wie irr“!  

Heinz (M. Hottgenroth)

Gelinde gesagt verwirrend ist auch manches an der Handlung. Etwa der überraschend schnelle körperliche Abbau von Heinz, dem im „Winter“ noch nichts anzumerken war, der im „Frühling“ plötzlich „mit Halskrause und Krücken“ auftaucht und im „Sommer“ ziemlich dement im Rollstuhl sitzt.  Oder Margots Sexualpraktiken, die so genau nicht nachvollziehbar, aber sicherlich irgendwie … nennen wir’s: ungewöhnlich sind („Zieh den Stöpsel Zieh!“). Jedenfalls spielt dabei ein „Gestell“ eine Rolle, womit mal (anscheinend) der tote (?), mumifizierte (?) Ehemann Hans gemeint ist, mal (vielleicht) der Rollstuhlfahrer Heinz ….

 

Zum Ende hin wird die Geschichte immer absurder, tendiert in Richtung Grand Guignol, wenn eine Szene gleichzeitig zur „Geisterstunde“ und in der „Dämmerung“ spielt, wenn die fragwürdigen Helden in skurrilen Verkleidungen auftauchen und Heinz zunächst tot ist und dann mit dem unverständlichen Schlachtruf „Katung! Katung!“ die Revolte gegen den „übergriffigen“ Sozialarbeiter anführt.

Margot, Heinz (N. Mamier, M. Hottgenroth)

Dann folgt nochmal ein Schlenker ins Realistische, wo die vier Hausbewohner, als der Sozialarbeiter in die Flucht geschlagen ist, zur Solidargemeinschaft mutieren:

 

„Das ist unser Hinterhof.

Die werden zurückkommen.

Und uns alle mitnehmen.

Mit Blaulicht.

Was machen wir.

Feiern, bis sie kommen.

Und dann?

Zusammenbleiben. Oder?

Ja. Zusammenbleiben.

Familie?

Familie.                                          

Dann los.“

 

Nun ja – wahrscheinlich ist ja dieses „Happy End“ das eigentlich Absurde.

 

Die Ausstattung

Agnes (N. Schubert)

Ein Lob für Fabian Wendling, der den Darstellern ihre Kostüme geradezu perfekt auf den Leib geschneidert hat (s. Fotos) – vielleicht mit der kleinen Ausnahme von Moritz‘ Shorts, die in diesem Ambiente doch ein bisschen arg extravagant wirken. -  Und die Frisuren - ein Erlebnis für sich!

 

Und das abbruchreife Mietshaus, den verkommenen Hinterhof hat Wendling auf beeindruckende Weise symbolisiert, indem er die kleine Bühne im Grabbehaus mit einem ordinären Baugerüst zugestellt hat, auf dessen verschiedenen Ebenen die Darsteller simultan agieren können. Gelungen!

Die Inszenierung

Wenn sich beim Lesen des Stücktextes jede Menge Fragen auftun, so tut Kathrin Mayrs Inszenierung nichts, diese Fragen zu beantworten. Wenn Agnes und Moritz parallel telefonieren / schreiben, so ist schon beim Lesen schwer zu verstehen, wer gerade mit wem kommuniziert; auf der Detmolder Bühne wird das erst recht völlig unübersichtlich.

 

Immerhin entfallen einige Fragezeichen automatisch, da die entsprechenden Textstellen einfach weggelassen wurden! - So auch die oben zitierte Szene gegen Ende des Textes. Allerdings wird durch diese Streichung der Schluss des Stückes auch nicht verständlicher, auch nicht, wenn Heinz in seinem Rollstuhl mit BOWIEs „Life on mars“ – womöglich – eine Interpretation der Ereignisse liefert:

 

… Oh man look at those cavemen go
It's the freakiest show
Take a look at the lawman
Beating up the wrong guy ….

 

Anstatt in Nachthemd und mit Strapsen (wie bei MELLE) agiert Margot hier mit Totenmaske; anstatt den Sozialarbeiter in die Flucht zu schlagen, bringen sie ihn auf der Detmolder Bühne um – so habe ich mir wenigstens von Seiten des Theaters sagen lassen, eindeutig erkennen konnte ich das nicht, auch weil sich die Szene im Dunkeln abspielte.

 

Frau mit Buch (D. Krönung)

Und schließlich fügt die Detmolder Inszenierung all den Rätseln noch ein ganz dickes eigenes hinzu: Auf der obersten Ebene des Baugerüstes befindet sich ein Kind, zunächst flach ausgestreckt, so dass nur sehr aufmerksame Beobachter es entdecken. Später hebt es den Kopf, um anscheinend ein E-Book zu lesen, dann setzt es sich auf … - wird also immer deutlicher wahrnehmbar – ungefähr parallel  zum wachsenden Bauch der schwangeren Agnes. Hat das was zu bedeuten? Am Ende – als der Bauch weg ist und immerhin mal ein Baby schreit - trägt das Kind dann Engelsflügel … Der naheliegenden Interpretation widerspricht die Bezeichnung „Frau mit Buch“ im Personenverzeichnis …

Fazit - Lob der Darsteller

Ein alles andere als perfekt gebautes Stück also. Dazuhin in einer verrätselten Inszenierung. Und trotzdem: unbedingt sehenswert!

 

Wegen der plastisch-bunten Schilderung dieses Prekariat-Biotops!

 

Und vor allem:

 

Wegen der lebendigen, differenzierten, glaubwürdigen Verkörperung dieser (aus der Fernsicht des durchschnittlichen Theaterabonnenten) doch so abseitigen Figuren durch die Darsteller!

 

Markus Hottgenroth gefällt als brummiger Hausmeister und begeistert als Rollstuhlinsasse kurz vor oder knapp jenseits der Grenze zur Demenz. –

Moritz (Chr. Gummert)

Christoph Gummert spielt gleichermaßen überzeugend all die unterschiedlichen Nuancen des Studenten zwischen Perspektivlosigkeit und Sozialengagement aus. - Und die Sprache des Behördenvertreters, die sich beim Lesen als ziemlich plumpe Karikatur öden Bürokraten-Sprechs darstellt, entpuppt sich bei Roman Weltzien als humorig verbrämtes effizienz-orientiertes Geplauder des Sozialarbeiters, dem man sogar die Behauptung abnehmen möchte, er sei „einer von denen“. – Die beiden Darstellerinnen sind neu in Detmold und waren bisher im „Faust“ zu sehen. Natascha Mammier, hier die asoziale Margot, war dort die Kupplerin Marthe – hier wie dort eine Schlampe, hier wie dort ein Erlebnis! Und wer Nicola Schubert dort als arbeitsam-züchtiges Gretchen bewundert hat, wird sich hier vielleicht über ihren ganz anderen Charakter als promiske Leistungsverweigerin wundern – be-wundern wird er sie nicht weniger.

 

 

 

 

 

Landestheater Detmold – Grabbebühne:

 

Licht frei Haus

von Thomas Melle

 

 

 

Regie:                               Kathrin Mayr
Ausstattung:                     Fabian Wendling
Dramaturgie:                     Christian Katzschmann

 

Margot Röhele:                Natascha Mamier
Agnes Reitscheuer:          Nicola Schubert
Moritz Kanz:                     Christoph Gummert
Heinz Zorsch:                   Markus Hottgenroth
Stempel:                           Roman Weltzien

Frau mit Buch:                  Deborah Krönung

 

 

Weitere Vorstellungen:

Di, 8.12./ Mi, 9.12./ Fr, 18.12./ Sa, 19.12.2015/ Mo, 1.2./ Di, 2.2./ Do, 4.2./ Sa, 6.2./ Di, 9.2./ So, 14.2./ Sa, 27.2.2016