Ein zeitlos-zeitgenössisches Musical

Landestheater feiert Triumphe mit "West Side Story"

 

WaSa   (Detmold).     -     Die West Side Story ist eines der bedeutendsten und anspruchsvollsten Musicals“ – so hatte Intendant und Regisseur Kay Metzger schon bei der Vorstellung des Spielplans das Stück gepriesen, mit dem er jetzt die Saison 2013/2014 eröffnet hat. Und wir konnten damals nicht anders, als seinem Urteil zuzustimmen. So, wie wir auch Elisabeth Wirtz und Matthias Wegele zustimmen, wenn sie nunmehr die musikalische Begründung für dieses hohe Lob nachliefern:

 

Die Musik:

Leonard Bernsteins Musik aus den 1950er Jahren sei nämlich „eine Synthese aus allen für jene Zeit typischen musikalischen Elementen“; und diese Synthese sei – so Wegele, der musikalische Leiter der Detmolder Inszenierung – „in ihrem Formenreichtum und in ihrer Qualität einzigartig – ein Gesamtkunstwerk“. .Und selbst wenn Wegele von der „Herausforderung“ spricht, die dieses Musical für das Orchester bedeutet („Jazz statt Wagner“ mit orchesterfremden Instrumenten wie dem Saxofon), so lässt er doch keinen Zweifel daran, dass er mit Lust und Leidenschaft an diese Aufgabe herangeht. Und mit Lust und Leidenschaft dirigiert er denn auch ein Orchester, das die mitreißende Musik Bernsteins mit Freude und Hingabe spielt – ein paar Mal vielleicht sogar gar zu kraftvoll: zumindest in der ersten Hälfte (und zumindest wenn man am Rand der 8. Reihe unter einem Lautsprecher saß) wurde manche Singstimme von den Instrumenten übertönt.

Die Ausstattung:

Nicht nur die Musik – auch das Bühnenbild ist eine Herausforderung gerade für ein Landestheater: sind doch 24 Bilder zu gestalten (und auf die Abstecher mitzunehmen!): von dem Romeo-und-Julia-Balkon aus der Shakespearschen Vorlage bis zum ur-amerikanischen Drugstore als Treffpunkt der Straßenkinder. Dabei verbietet der stetige Fluss der Handlung lange Umbaupausen. Natürlich findet Chefausstatterin Petra Mollérus mal wieder die perfekte Lösung: mit mobilen, vielseitig einsetzbaren übermannshohen Wand-Elementen, die – sozusagen im Takt der Musik – hurtig hin und her geschoben und zu immer neuen Schauplätzen zusammengefügt werden (wobei die Darsteller eifrig mit Hand anlegen dürfen).

Auch mit ihren Kostümen überzeugt Mollérus: die beiden Gangs sind durchaus an ihrer Kleidung zu erkennen, wobei durch phantasievoll-unterschiedliche Gestaltung der Eindruck von Uniformen vermieden wird – trotz des militärischen Tarnmusters, das die „Jets“ in Verbindung mit einem grünstichigen Blau tragen, wohingegen schwarz-rot für die Puerto-Ricaner steht.

Bei Tony und Maria reduzieren sich diese Kennungen auf angedeutete blaugrüne Schulterklappen und einen roten Gürtel – ansonsten trägt das Liebespaar unschuldiges (unschuldiges?) Weiß. Und auch die Traumsequenz, die Vision einer besseren Welt, ist ganz in Weiß gehalten.

Zeitgenössisch oder zeitlos? - Die Story:

Apropos „bessere Welt“: die Story von der West Side dürfte weitgehend bekannt sein. Deshalb nur kurz: Vorlage war Shakespeares Tragödie von Romeo und Julia, deren Liebesgeschichte angesichts „der Eltern grimmem Hass“ notgedrungen tödlich enden musste. Bernstein versetzt diese Geschichte aus dem Verona der Renaissance an die New Yorker West-Side der 1950er Jahre. An die Stelle der edlen, „in Ansehn gleichen“ Adelshäuser treten zwei Jugendbanden aus dem Prekariat: die Jets: „an anthology of what is called American“: Sprösslinge arm gebliebener Einwanderer aus (vorwiegend wohl: Ost-) Europa, und die Sharks, die erst kürzlich aus Puerto Rico immigriert sind.

 

Mit der Geschichte aus diesem Milieu wird „West Side Story“ zum ersten modernen Musical, das (im Gegensatz zum herkömmlichen rein unterhaltenden Musical) nicht nur ein zeitgenössisches Problem aufgreift, sondern auch noch tragisch endet. – bis dahin unvorstellbar in der „amerikanischen Operette“ (ja, ja, ich teile die Vorbehalte gegen diesen Begriff). Kay Metzgers eingangs zitiertes Lob kann sicherlich mit dieser Pionierleistung Bernsteins & Co. begründet werden. Aber damit nicht genug: Der damals zeitgenössische Stoff hat sich inzwischen (traurigerweise) als zeitlos erwiesen. Was damals eine New Yorker Tragödie war, ist heute Problem vieler Großstädte – man denke nur an einen Pariser Emporkömmling mit ungarischem Migrationshintergrund und seinen erklärten Wunsch, die heruntergekommenen Banlieus „mit dem Kärcher“ vom jugendlich-arabischen Abschaum zu säubern ...

Die Inszenierung

Dramaturgin Elisabeth Wirtz hat deshalb sicherlich Recht, wenn sie sagt: „Die aktuelle Problematik berechtigt – neben der Musik, natürlich – zur Aufführung“. Allerdings will Regisseur Metzger die Geschichte ausdrücklich nicht ins Heute versetzen – etwa nach Berlin-Neukölln ins Milieu von Türken und Deutsch-Russen. Im Pressegespräch vor der Premiere geht er sogar so weit, jeden Eingriff in die Vorlage abzulehnen. Schließlich sei „Bernstein und seinen Mitstreitern die genialste Adaption dieser wunderbaren Shakespearschen Liebesgeschichte gelungen“, und die sei „in ihrer Dramaturgie so perfekt, dass sie 1 : 1 umgesetzt werden“ könne, so dass „Regietheater in diesem Fall überflüssig“ sei.

 

Das ist im Prinzip – natürlich! - Unsinn, Herr Intendant („halten zu Gnaden“) – dann bräuchte auch Goethes Adaption von Euripides‘ „Iphigenie“ kein Regietheater; ebensowenig wie all die Opern Verdis von „Macbeth“ bis „Luisa Miller“.

 

Aber – ebenso natürlich! – prägt der leidenschaftliche Regisseur Metzger seiner Inszenierung eben doch seine Handschrift ein, gibt ihr manchen Regieeinfall mit auf den Weg. Das beginnt mit der Ouvertüre, die Metzger – wie er es scheint’s gerne tut – nutzt, um ein Leitmotiv der Stücks schon mal pantomimisch anklingen zu lassen: die allmähliche Eskalation der Gewalt, die harmlos mit dem kindlichen Streit um einen Luftballon beginnt, und die dann – mit zunehmendem Alter der Protagonisten – immer weiter aufrüstet: von der Kette über den Baseballschläger bis zum Messer.

 

Eine deutliche Regiehandschrift trägt auch die Sehnsuchtsszene, in der sich das Liebespaar eine heile Welt erträumt: „ohne gegnerische Seiten, ohne Feindschaft; nur Freude, Wohlbefinden und Wärme“. Während der Originaltext das „There’s a place for us“ aus dem Off singen lässt, hat hier Brigitta Bauma einen bezaubernden Live-Auftritt mit dem ergreifenden Song. Aber ach – auch sie kann’s nicht wenden; und die heile Welt gibt’s nur als Video-Einspielung, die denn auch abrupt abgebrochen wird ...

 

Im Nachhinein bekennt sich Metzger dann auch dazu, diese zeitlose Geschichte aus den 1950ern „behutsam in eine allgemeine Heutigkeit gezogen“ zu haben – und das gekonnt, überzeugend, anrührend – mit all seinem Regie-Talent eben.

 

Eine Kritik muss trotzdem sein: Natürlich bietet das Landestheater seinen Besuchern eine deutschsprachige Inszenierung. Bis auf die Songs – die bleiben im englischen Original. Begründung: Man wolle nicht, dass die ganz eigene, mit der Musik harmonierende Sprachmelodie durch eine Übersetzung zerstört würde. So ein Blödsinn („halten zu Gnaden“)! Dann dürfte auch die ganze besondere Sprachkunst Shakespeares nur noch im Original dargeboten werden. Oder Rilke nicht mehr ins Japanische übersetzt werden ...

 

Zugegeben: wenn man „Maria“ oder „Tonight“ zwischendurch mal im Radio hört, dann mag man sich gut und gerne allein an Bernsteins toller Musik ergötzen (von mir aus auch an der wunderbaren englischen Sprachmelodie). Aber auf der Bühne haben die Songs teilweise konstitutive Bedeutung für die Handlung, illustrieren zumindest deren Hintergründe..

 

So ist der „Sergeant Krupke“-Song nicht nur eine herrliche komödiantische Nummer (hier übrigens wunderbar dargeboten in Slapstick-Manier als Kontrast zur vorangehenden tragisch-elegischen Traumsequenz) – diese verzweifelt-parodistische Anklage liefert auch die grundlegende Charakterisierung von sozialer Herkunft und bürokratisch-autoritärem Umfeld der Jets.

Ebenso ist „America“ nicht nur begeisternder Ohrwurm, sondern zeigt vor allem das Hin-und-Her-gerissen-Sein der kürzlich eingewanderte Puerto-Ricaner: zwischen der „lieblichen Insel“ einerseits, wo Hunderte Blumen blühen und sich Hunderte Menschen auf engstem Raum drängeln, und zwischen Manhattan/den USA andererseits, wo es Autos, Waschmaschinen und TV gibt (wenn auch nicht für die Immigrantenkinder).

 

Wer „West Side Story“ für seine bis dahin unerhörte drastisch-lebensnahe Zeit- und Gesellschaftsschilderung preist (Wirtz: „künstlerische Vision der Wirklichkeit“), der darf diese Inhalte dem Publikum nicht einfach unterschlagen! - Die Ankündigung, dass die Songs englisch bleiben, hat Metzger mit „der Hoffnung auf ein junges Publikum“ verknüpft. Welche Arroganz („halten zu Gnaden“) ! Arroganz gegenüber einer Generation, die nun mal nicht mit Englisch ab der Grundschule und Schüleraustausch mit Amerika aufgewachsen ist. Arroganz aber auch gegenüber einer erklecklichen Schar dieser so hofierten Jugendlichen (fragen Sie doch mal die Englischlehrer, die nicht im Leistungskurs am Gymnasium unterrichten ....).

 

Vielseitige Darsteller:

 

Musik und Ausstattung wurden vorhin als „Herausforderung“ für das Landestheater bezeichnet. Man fragt sich, was wohl der Kaufmännische Geschäftsführer zum Personal-Etat der „West Side Story“ gesagt hat. Sind doch zwei komplette Jugend-Gangs zu besetzen. Plus die Freundinnen. Plus ein paar Erwachsene, die auch noch mitspielen! 33 Rollen stehen im Personenverzeichnis (nur eine weniger als bei der Uraufführung, 1958, an Her Majesty’s Theatre in London). Und da bei einer Produktion dieser Größe die wichtigeren Rollen doppelt zu besetzen sind, sind an der Detmolder „West Side Story“ 45 Darsteller/innen beteiligt!

 

Das kann das Landestheater natürlich nicht mit Stammpersonal bewältigen. So bestehen die Jugendbanden zum großen Teil aus Gästen. Angesichts der Bedeutung der Tanzszenen in „West Side Story“ wurde beim Casting auf entsprechende Fähigkeiten besonderen Wert gelegt. „Wer mich nicht überzeugt hat, wurde erst gar nicht zum Vorsingen zugelassen“, berichtet denn auch Tanz-Chef Richard Lowe mit unübersehbarer Genugtuung. Und man siehts! Was diese junge, frisch zusammengewürfelte Truppe auf die Bühne bringt ist wahrlich sehenswert!

 

Deshalb – ohne jemanden besonders herauszugreifen – ein kurzes aber überzeugtes, ein pauschales aber ein verdientes Lob an das ganze Ensemble – ausdrücklich unter Einschluss der „Erwachsenen“, die aus dem Haus (oder doch mit altbekannten Detmoldern) besetzt sind.

 

Die Zuschauer:

Ist‘s nötig zu erwähnen? Das Premierenpublikum war begeistert. Nach einzelnem Szenenapplaus wurden am Ende Darsteller und Leitungsteam mit ausgiebigem Beifall bedacht.

West Side Story

Nach einer Idee von Jerome Robbins

Buch von Arthur Laurents

Musik von Leonard Bernstein

Gesangstexte von Stephen Sondheim

Deutsche Fassung von Frank Thannhäuser und Nico Rabenald

 

Musikalische Leitung:   Matthias Wegele

Inszenierung:   Kay Metzger

Choreografie:   Richard Lowe

Ausstattung:   Petra Mollérus

Dramaturgie:   Elisabeth Wirtz

Fight Coordinator:   Martin Kluntke

 

 

Die Jets:

Riff:   Raphael Dörr / Sascha Stead

Tony:   Kai-Ingo Rudolph / Patrick Schenk

Action:   Raphael Dörr / Sven Niemeyer

Arab:   Jörn Ortmann

Baby John:   Fabian Kaiser / Stephan Luethy

Snowboy:   Keegan Raven May

Professor:   Gaëtan Chailly

Diesel:   Fabian Kaiser / Robin Koger

Graziella:   Caroline Lusken

Velma:   Charline Dujardin

Anybodys:   Stevie Taylor

Betsy:   Mireia Facal

Sandy:   Isabella Heymann

Jessi:   Alexia Anderson Koutzis

Mary Lou:   Karina Campos Sabas

 

Die Sharks:

Bernardo:   Martin Kiuntke / Robin Koger

Maria:   Katharina Ajyba / Catalina Bertucci

Anita:   Ico Benayga Andrzejewski / Andrea Sánchez del Solar

Chino:   Adonai Luna

Pepe:   Egid Mináč

Indio:   Narcís Subatella Sánchez

Luis:   Jérôme Peytour

Juano:   Stephan Carluccio / Vladimir Karadjov / Patrick Zimmermann

Rosalia:   Sorina Kiefer

Consuelo:   Janina Moser

Francisca:   Julia Bielinski

Teresita:   Gisela Fontarnau i Galea

 

Die Erwachsenen:

Doc:   Joachim Ruczynski / Wolfgang von der Burg

Schrank:   Johannes-Paul Kindler / Henry Klinder

Krupke:   Manfred Ohnoutka / Jürgen Roth

Gladhand:   Marco Struffolino

Eine Frau:   Brigitte Bauma / Milena Stefanski / Anna Werle

Eine Pennerin:   Guta G. N. Rau