Der Besuch der jungen Dame:
„Die lustige Witwe“ begeistert am Landestheater Detmold
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g.wasa - Detmold. - Für Karl Kraus, den österreichischen Kritiker-Papst des frühen 20. Jahrhunderts, zählte sie angeblich „zum Schlimmsten“: diese am 30. Dezember 1905 im „Theater an der Wien“ uraufgeführte „lustige Witwe“. Aber erfreulicherweise glauben selbst Katholik_innen kaum mehr an die Unfehlbarkeit von Päpst*innen (so, damit sei für heute genug gegendert). Für Wagner-Trenkwitz zählt sie „zum Besten“, für Klotz ist „dieses Werk nicht nur die erste konsequente Tanzoperette …, es ist auch ihr nie mehr ganz erreichter Höhepunkt“; für Wikipedia einfach „das perfekte Beispiel einer Operette der silbernen Operettenära“.
Ursprünglich sollte Richard Heuberger die „lustige Witwe“ vertonen, doch den Librettisten schien dessen Musik „zu wenig erotisch“. Und so durfte sich der „jüngere und vitalere“ Lehár (geb. 1870) an „den wienerisch gebrochenen Pariser Frivolitäten“ (Klotz) versuchen – mit Erfolg: allein bis 1948, seinem Todesjahr, wurde sie über 300.000 Mal gespielt. (Dass das von jüdischen Librettisten verfasste Werk auch „Hitlers Lieblingsoperette“ gewesen sein soll – das kann man weder Lehár noch dem Werk vorwerfen).
Die Story:
Allein schon die Vorgeschichte hätte eine richtig schöne Operette werden können: Wir sind in Pontevedrino, einem balkanesischen Kleinstaat zu k.-k.-Zeiten (in der Urfassung war es noch Montenegro, doch die Zensur fand die Geschichte zu beleidigend für ein reales unabhängiges Fürstentum). Es lieben sich: Graf Danilo, ein schneidiger Kavallerieoffizier aus altem Adel, und Hanna, ein herzhaftes Mädel aus kleinen Verhältnissen. Doch ein standesbewusster Onkel verhindert ein unstandesgemäßes Happy End. Das Mädel heiratet dann mal eben einen Multimillionär. Der stirbt noch in der Hochzeitsnacht und hinterlässt die lustige da reiche Witwe.
Und jetzt kann’s losgehen, mit der Operette:
Graf Danilo ist inzwischen Gesandtschaftssekretär an der pontevedrinischen Botschaft in Paris, wo er den Großteil seiner Zeit nicht der Diplomatie sondern einer Schar von Grisetten widmet („Da geh ich zu Maxim“), um dabei auch seine immer noch schwelende Liebe zu Hanna zu betäuben. Diese Hanna taucht plötzlich in Paris auf, um „das Pariser Leben“ kennenzulernen. Jetzt ist sie – mit ihren Millionen – eine begehrte Partie, und der Botschafter fürchtet, sie könnte einen Franzosen heiraten, womit ihr Vermögen dem klammen Heimatland entzogen und dieses in den Ruin getrieben würde. Deshalb soll der ausgewiesene Frauenheld Graf Danilo die reiche Witwe erobern und so dem Vaterland die Millionen erhalten.
Auch in der genre-üblichen Parallelhandlung geht’s – wen wundert’s? – um Liebes-Freud und -Leid : Valencienne ist zwar dem Botschafter angetraut, liebt aber den französischen Höfling Rosillon. Auf seinem gewundenen Weg Richtung Finale streift das Buffo-Pärchen die Höhen europäischer Literatur: Schon früh warnt Valencienne mit Schiller vor „des (Liebes-)Feuers Macht | Wenn man sie nicht bezähmt, bewacht“. Dann erinnert ein verräterischer Fächer an Desdemonas Taschentuch und schließlich gibt’s ein heimliches Treffen im Pavillon, fast so, als seien wir im 4. Akt vom „Figaro“.
Nicht nur die Botschafter-Gattin ist „eine Frau, die weiß, was sie will“, auch die anderen Damen der Gesellschaft l(i)eben gern nach dem Motto „Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben?“, ohne Rücksicht auf die krankhafte Eifersucht von Ehemännern. – Da mag der Theoretiker tiefschürfende Analysen anstellen über frühe Emanzipationversuche der ökonomisch und erotisch selbstbestimmten Frau und Parallelen ziehen zu Freuds (ebenfalls 1905 erschienenen) „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ (lesen Sie dazu Stefan Freys Beitrag im Programmheft) – für den Zuschauer ergibt sich daraus so manche vergnügliche Situation – und in der Summe eine rasante, spritzige, vergnügliche Komödie.
Inszenierung und Darsteller:
„Operette ist für mich: Fun, Fun, Fun,
Dance, Dance, Dance, Liebe, Liebe, Liebe,
gesalzen und gepfeffert mit einem Schuss Champagner“.
Eine ganze Seite des Programmheftes wird freigehalten, um dem geneigten Besucher dieses Operetten-Credo des Regisseurs Otto Pichler in Fett-Buchstaben nahezubringen. Wie schön!
Allerdings hält er sich nicht immer an sein Rezept.
Das geht bei den Getränken los: Anstatt mit der üblichen edlen Operetten-Brause aus der Champagne stoßen die Herren mit ordinären Bierdosen an, die sie aus einem Kühlschrank angeln, den man nicht in hochherrschaftlichen Ballsälen sondern in muffigen Bahnhofs-Buffets erwartet.- Dies bleibt nicht die einzige Irritation: Warum muss der überspannt-eifersüchtige Kromow wie ein wildgewordener Räuberhauptmann (fast glaubwürdig: Torsten Lück) mit der Pistole rumballern? Warum ist die Festgesellschaft mit Besen bewaffnet? Und dieses russische Schlaflied, Bajuschki baju, was hat das hier zu suchen? (Oder hab ich mich da irgendwie verhört?)
Ja, die Erotik ...
Dagegen: Muss der Botschafter wirklich so ein alberner Trottel sein (was Dieter Goffing übrigens gut rüberbringt!)? Und vor allem: Warum kurvt er im Minipanzer zwischen seinen Gästen rum? Etwa, um so seine jeweilige Stimmung im mal heftig erigierten, mal schlapp abgesunkenen Kanonenrohr spiegeln zu können? Soll sich darin die vielbeschworene „Erotik“ dieser Operette ausdrücken? Oder doch eher im Männerchor in Unterhosen? (Mein Problem, wenn ich mich nicht entscheiden kann, ob ich Männer in Unterhosen - soweit nicht dramaturgisch geboten - nun albern, peinlich oder geschmacklos finden soll. - Zugegeben: Das Publikum hat das schwierige „Studium der Weiber“ des Unterhosen-Chors mit begeistertem Zwischenapplaus belohnt! - Armes Detmold!)
Da lob ich mir dagegen den Auftritt des Grisetten-Balletts im berüchtigt-verruchten CanCan – hier gar angeführt von Nando Zickgraf, der vom humoristischen Faktotum Njegus zur aufregenden Drag Queen mutiert.
Und: Die Erotik, die einzelne Darsteller einbringen, ist von ganz anderem Kaliber als die Unterhosen-Peinlichkeit.
Allen voran: Adréana Kraschewski als Hanna: nicht nur jeder verliebte Blick, auch jede hochmütig-abwehrende Pose lässt es knistern! Dazu passend: Jakob Kunath als Danilo – eine gelungene Mischung aus draufgängerischem Womanizer und romantisch-unglücklich Verliebtem.
Auch dem Buffo-Paar sind ein paar erotische Highlights zu verdanken, vor allem Valencienne (Xenia Cumento), die gekonnt hin und her mäandriert zwischen der Sehnsucht nach einer gemeinsamen „stillen Häuslichkeit“ mit dem Liebhaber, gelegentlichem leidenschaftlichem Auflodern („Du hast mich um den Verstand gebracht!“) und dem braven Anspruch „Ich bin eine anständige (Ehe-)Frau“. Dagegen steht Hyunsik Shin für einen feurigen Latin Lover ziemlich steif auf der Bühne herum, legt dafür alle Leidenschaft in seine formidable Singstimme („Es wird Dich mir erringen | Der Liebe Allgewalt“).
Die Musik:
„Die lustige Witwe“ gilt (auch) musikalisch als ein Höhepunkt im Operetten-Repertoire („blendende Fülle glänzender musikalischer Einfälle“, Reclams Operettenführer, 91962). Das Landestheater Detmold gibt sein Bestes, dem daraus erwachsenen hohen Anspruch gerecht zu werden: Diese Inszenierung begeistert auch musikalisch – vom Chor über die Solisten mit ihren durchweg passablen bis hervorragenden Stimmen (auch wenn man sich hier und da eine deutlichere Artikulation gewünscht hätte) bis zum Orchester, das Hye Ryung Lee mit dem richtigen „Schmiss“ durch die komplizierten Liebesgeschichten führt, ohne dabei jemals die Sänger zu übertönen. – Chapeau!
Ausstattung
Nur der Vollständigkeit halber: Jan Freeses Bühne wird beherrscht von der Fluggasttreppe, die nicht nur Hanna Raum für effektvolle Auftritte bietet. Ansonsten bildet das Bühnenbild den passenden Rahmen für das bunt-turbulente Geschehen. – Auch Falk Bauers Kostüme sind angemessen vielfältig-phantasievoll-glitzrig-bunt.
Happy End! und Happy End?
Erinnern wir uns: Der Regisseur propagiert „Fun, Fun, Fun“! Da wundert man sich über die düster-elegische Szene gleich zu Beginn, bevor die lebhaft-muntere Ouvertüre einsetzt: Hanna sitzt an einem Totenbett. OK, ein kurzer Rückblick auf die Vorgeschichte, auf den Tod ihres millionenschweren Kurzzeit-Ehemannes. Allerdings erklingt dazu DIE Liebeshymne: „Lippen schweigen, ‘s flüstern Geigen: hab mich lieb!“ Wer ist damit gemeint? Trauert sie um den Verflossenen? Oder denkt sie nach vorne und schon (wieder) an den Früh-Geliebten Danilo?
Dem Rätsel am Anfang entspricht ein Rätsel am Ende.
Aber zunächst gibt’s noch ein erfreuliches Happy End für das Buffo-Paar: Valencienne verlässt ihren trotteligen Ehemann und entschwindet mit ihrem Liebhaber Rossillon. Gönnen wir ihnen den ersehnten „Zauber der stillen Häuslichkeit“ (womöglich gar mit baldigem Nachwuchs?)! – Zu Lehárs Zeiten wäre eine derart unmoralische Lösung natürlich undenkbar gewesen. Da musste der gehörnte Ehemann getäuscht und die Ehe aufrechterhalten werden (ob das moralischer war?).
Nach diesem Neben-Happy End hat’s die Regie plötzlich sehr eilig, zum Ende zu kommen. Die Klärung von Hannas künftigen Vermögensverhältnissen ist gestrichen, so dass Danilos „Ich liebe dich“ recht unmotiviert und überraschend kommt. Auch das üblich-opulente Operettenfinale mit dem kompletten Personal auf der Bühne wird uns vorenthalten! Stattdessen ein kleiner Pas-de-deux: Hanna hält (fast pietà-mäßig?) Danilo im Schoß. Muss der Graf (einmal mehr) einfach nur seinen Schwips ausschlafen? Oder ist er (wir leben in Pandemie-Zeiten!) ernsthaft zusammengebrochen? Sollte man womöglich das Totenbett-Bild des Anfangs gar nicht als Rückblick interpretieren? Sondern als Vorschau? – Aber den Gedanken wollen wir gleich wieder verdrängen. Wir sind schließlich in einer Operette und nicht in einer Puccini-Oper (wie war das – gemäß Tucholsky - nochmal, mit Puccini und Lehár?).
Als das Orchester später, inmitten des (verdienten) Beifallsturms, doch noch ein oder zwei Takte aus dem Finale spielt – da steht Danilo (wieder) ganz lebendig auf der Bühne.
Landestheater Detmold:
Die lustige Witwe
Operette in drei Akten von Franz Lehár
Libretto von Victor Léon und Leo Stein
Nach Henri Meilhacs Lustspiel „L’attache d’ambassade“
Musikalische Leitung Hye Ryung Lee
Inszenierung Otto Pichler
Choreografie Otto Pichler
Bühne Jan Freese
Kostüme Falk Bauer
Dramaturgie Anna Neudert
Chor Francesco Damiani
Baron Mirko Zeta Dieter Goffing / Andreas Jören
Valencienne Xenia Cumento / Penelope Kendros
Graf Danilo Jakob Kunath / Todd Boyce
Hanna Glawari Adréana Kraschewski / Emily Dorn
Camille de Rossillon Hyunsik Shin / Stephen Chambers
Vicomte Cascada Florian Zanger Andreas Elias Post
Raoul de St. Brioche Ji-Woon Kim / Hyunsik Shin
Bogdanowitsch Seungweon Lee / Irakli Atanelishvili
Sylviane Brigitte Bauma
Kromow Torsten Lück
Olga Laura Zeiger / Tatjana Yang
Pritschitsch Felix Schmidt / Lifan Yang
Praskowia Eunyoung Kim / Irina Meierding
Njegus Nando Zickgraf / Jens Krause
Grisetten Iaçanã Castro Laura Zeiger Giulia Spinelli Erica Pinangé Veronika Jungblut Andrea Drabben
Saxophonistin Anja Heix Britta Jones
Symphonisches Orchester
Opernchor des Landestheaters Detmold
Ballett des Landestheaters Detmold
Premiere:
Freitag, 03.12.2021 – verschoben auf Sonntag, 05.12.2021
Die nächsten Termine in Detmold:
Freitag, 17.12.21, 19:30
Freitag, 31.12.21, 17:30
Freitag, 31.12.21, 21:30
Mittwoch, 19.01.22, 15:00
Mittwoch, 19.01.22, 19:30
Samstag, 26.02.22, 19:30
Sonntag, 20.03.22, 19:30
Donnerstag, 07.04.22, 19:30
Samstag, 30.04.22, 19:30
Freitag, 27.05.22, 19:30
Samstag, 11.06.22, 19:30
Weitere Termine:
Sonntag, 19.12.21, 16:00, Stadttheater Lippstadt
Freitag, 21.01.22, 19:30, Wolfsburg
Freitag, 28.01.22, 19:30, Hameln
Freitag, 04.02.22, 19:30, Marl
Sonntag, 06.02.22, 19:00, Iserlohn
Freitag, 11.02.22, 19:30, Paderhalle Paderborn
Donnerstag, 24.02.22, 19:30, Coesfeld
Sonntag, 27.03.22, 16:00, Wolfenbüttel
Donnerstag, 31.03.22, 19:30, Bad Oeynhausen
Freitag, 17.06.22, 19:30, Solingen
Samstag, 18.06.22, 19:30, Solingen
Mittwoch, 22.06.22, 19:30, Remscheid