Tittytainment 4.0

Fotos: Landestheater DT / Marc Lontzek

 

Oh, wonder!

O brave new world,

That has such people in ’t!

 

(Shakespeare: The Tempest, V, 1)

g.wasa     -     Detmold.    -     Am 27. September 1995 trafen sich im Fairmont-Hotel in San Francisco 500 Politiker, Wissenschaftler und Manager. Michail Gorbatschow hatte zu diesem „Global Brain Trust“ eingeladen, um über die Zukunft einer globalisierten und digitalisierten Welt zu sprechen. Aufsehenerregendste Erkenntnis: die „Ein-Fünftel-Gesellschaft“. Der US-Soziologe Jeremy Rifkin prognostizierte, in Zukunft würden 20 % der Bevölkerung ausreichen, um die Weltwirtschaft am Laufen zu halten. Nur: Was sollte man mit dem Rest anfangen? Der US-Außen- und Sicherheits-Politiker Zbigniew Brzezinski hatte die Antwort: Die 80 % Überflüssigen werden mit „Tittytainment“ ruhig gestellt, einer Kombination aus „entertainment“ und „tits“, wobei er bei „Titten“ (auch) an die nährende Funktion der weiblichen Brust gedacht haben soll. „Panem et circensis“ nannten die alten Römer diese Strategie. „Brot und Spiele“.

 

Fast genau 24 Jahre später, bei der Premiere von Sibylle Bergs „Wonderland Ave.“ auf der kleinen Grabbe-Bühne des Landestheaters Detmold, ist man schon einen gewaltigen Schritt weiter:

 

Brave New World: Wonderland Ave.

Die Innenstadt-Immobilien sind (nach Verdoppelung der Mieten von 3000 auf 6000 Pfund) jetzt alle besetzt von hochqualifizierten asiatischen IT-Spezialisten, „die NLP können und Geo-Engineering und kognitiv denken“, während „die Leute aus dem ehemaligen Mittelstand am Bahnhofsvorplatz liegen“. Aber auch „die Supergeeks, die quantenkrypto-graphische Programme schreiben und Roboter bauen, werden gerade ersetzt“ – durch Roboter, was sonst?

 

Immerhin fühlen sich (warum eigentlich?) die Roboter (und die hinter ihnen stehende KI, die Künstliche Intelligenz) noch für ihre Erzeuger verantwortlich; sie holen deshalb die Obdachlosen vom Bahnhof und bringen sie in eine Anlage, die ihnen als Idylle erscheint („stimmungsaufhellende Farben, serotoninfördernd“, mit „Naturdarstellungen – Sonne, Vögel und Zeug“ bis hin zum „lebensechten Kuschelhund“).

 

 

 

In ihrer Regieanweisung schildert die Autorin – die es ja wissen muss – diese „wundervoll normvollstreckende Einrichtung“ etwas anders: „Geschwürhaus, ‚Carceri‘ von Piranesi, Block“. (Auch Auschwitz war in Blöcke eingeteilt.)

 

Der Blockwart ist – natürlich (?) – ein Roboter, in Bergs Text: „ein Chor (Roboter)“. Der sorgt – notfalls mit fürsorglichen Stromstößen – dafür, dass die „Person“ („jetzt hätte ich fast Insasse gesagt“) morgens aufsteht, den Hygieneanforderungen gerecht wird, ihren Brei (inklusive aller lebenswichtigen Mineralstoffe und Hormone) frühstückt, und sich dann der Beschäftigungstherapie unterwirft, die aus einem dubiosen „Wettbewerb“ besteht, bei dem man „den perfekten Zustand“ gewinnen kann. Was das ist, weiß keiner so recht, vielleicht (hofft die Person): „unbegrenztes kostenloses Medienangebot, Computerspiele, Essenlieferservice, eine Putzfrau, in jedem Zimmer einen Flatscreen, Billigshopping, Reisen, vor allem: Flatrates“. Und, immerhin: „mit anderen gegen die Missstände auf der Welt vorgehen“, „online“, wohlgemerkt.

 

Gelegentlich denkt die Person an die Vergangenheit: Arbeit, Konsum, selber Autofahren („Mit diesen selbstfahrenden Scheißautos fing doch der Untergang an“). Und manchmal erinnert sie sich noch an die „Sehnsucht nach Liebe“, womöglich gar an „Geschlechtsverkehr“. Aber eigentlich ist das vorbei: aus dem früheren Mann, der früheren Frau wurde – operativ? durch Chemie? durch Konditionierung? – ein „Es“, ein Neutrum, das nicht mehr weiß, „was es mit seinen geschlechtsneutralen Geschlechtsteilen anstellen soll“. Denn: „Die Erzeugung von Nachwuchs ist nicht notwendig. Der nicht-biologisch geschaffene Verstand hat einen Grad erreicht, der eine Milliarde Mal größer ist als die gesamte menschliche Intelligenz“.

 

Die Gegenwart: Die Autorin und ihr Stück

Noch sind wir nicht so weit. Und Sibylle Berg – 1962 in Weimar geboren, heute in Zürich lebend - scheint zu glauben, dass man den Marsch dorthin noch stoppen kann.

 

Jedenfalls schreibt die Autorin von „Wonderland Ave“ unermüdlich dagegen an: mit ihren Stücken (Wikipedia listet zwei Dutzend auf), mit ihren Büchern (jüngst erschienen: „GRM: Brainfuck“, die Geschichte von vier Kindern, die versuchen, außerhalb eines Systems der perfekten Überwachungsdiktatur zu überleben) und nicht zuletzt in ihren 14täglichen Kolumnen auf SPIEGEL-Online. Die jüngste („Soziale Medien – Das Klick-Vieh, das sind wir“) vom 14.09.2019 liest sich wie ein Prolog zur „Wonderland“-Premiere, elf Tage später. – In Kurzfassung:

 

Es läuft hervorragend. Das größte soziale Experiment der Menschheitsgeschichte. Das alle verbindende, demokratische Netz mit seinen großartigen Erfindungen. Facebook … Twitter … Instagram … Tinder …: Algorithmen und die Idee, Daten zu sammeln, Menschen zu katalogisieren, zu durchleuchten, um sie am Ende zu manipulieren … Die Geheimdienste: "hey" - mochten die gedacht haben - "die Toastbrote legen echt ihre eignen Profile an, was die uns für Arbeit sparen."

 

Ein Konzern, der Werbung verkauft, entscheidet über die bildungsrelevanten Inhalte. Mit Katzen. Und Babys. Die Regeln machen die da oben, bei all den Menschenbeschäftigungs­plattformen, die süchtig machen. Die Menschen, Milliarden, starren in Endgeräte, laufen vor Bäume, geraten unter Autos und es dämmert ihnen langsam, dass sie nicht einzigartig sind, nur Klick-Vieh.

 

Nicht aus der Masse stechen, das wurde belohnt, durch Likes und Herzen und Kommentare. Der Sieg der sozialen Medien ging zusammen mit dem der Populisten, der einfachen Lösungen, der dumpfen Sprache. Im Netz setzt sich durch, wer am lautesten schreit.

 

„Wonderland Ave“ ist also die konsequente Fortschreibung der berühmten Dystopien des 20. Jahrhunderts: „1984“, „Brave New World“ oder auch von Dave Eggers „The Circle“.  Und (?) die konsequente (?) Fortschreibung (?) unserer Gegenwart(?).  

 

Die Detmolder Inszenierung: nüchtern-glaubwürdig

 

 

 

 

Der Kölner Uraufführung wurde attestiert, mit einer „überreichen optischen Ausstattung“ und überhaupt „mit enormem Einsatz und Aufwand die Ödnis der Textwüste aufzupeppen“ (Nachtkritik). Die Detmolder Inszenierung (Ausstattung: Nora Johanna Gromer) hat das nicht nötig. Zwar hat auch sie  – dem Vernehmen nach – anfangs ein opulentes Bühnenbild ins Auge gefasst, hat es aber im Verlauf der Proben immer weiter abgespeckt, mit dem Ergebnis einer gelungen-nüchternen Bühne: links die Steuerzentrale / Überwachungsstation: ein einfacher Tisch mit ein bisschen Elektronik; ansonsten ist der Boden mit einem Dutzend Isomatten ausgelegt; darauf ein Minimum an Möbeln: drei billige Stahlrohr-Stapelstühle (die auch als Schlafgelegenheit herhalten müssen) und ein dazu passender Tisch für die paar alltäglichen Bedarfsgegenstände. Zusammen mit der markanten Bruchsteinmaueroptik des kleinen Saales vermittelt dies eher den Eindruck einer Notunterkunft als einer komfortablen Pensionisten-Residenz.

 

Aber das passt sehr wohl zum Text, zum Inhalt des Stückes (s. oben).

 

Ebenso dazu passend: das in Detmold aufgebotene Personal. Das Personenverzeichnis in meiner Textausgabe sieht so aus:

 

„Person(en) unklaren Geschlechts

Und Chor (Roboter – Obacht:

Sie sollten nicht zu intelligent sein, sonst …),

 

wobei ich mich gefragt habe, wer mit diesem „Sie“ gemeint ist: „sie“, die Roboter, oder „Sie“, der Leser/Zuschauer?

 

Dass mit den „Person(en) unklaren Geschlechts“ geschlechtslose (geschlechtslos gemachte) Wesen gemeint sind, geht aus dem Stücktext deutlich hervor (s. o.). In der Kölner Uraufführung hat man sich mit zwei Darstellern beholfen, wobei zwei überdimensionale Abbilder ihrer nackten Körper keinen Zweifel daran ließen, dass es sich dabei um Mann und Frau handelte. 

Regisseur Jakob Arnold und sein Dramaturg Arne Bloch sind da in ihrer Detmolder Inszenierung einfallsreicher, viel dichter am Text:

 

Man muss schon richtig hingucken, um das Geschlecht der Schauspieler zu erkennen, welche die drei androgynen, in Unisex-Anstaltskluft steckenden Personen darstellen (Ewa Noack, Heiner Junghans, Emanuel Weber). Und welche uns die psychisch-intellektuell reduzierten Rest-Menschen glaubwürdig und überzeugend vorführen.

 

Ganz im Gegensatz dazu besteht der „Chor (Roboter)“ gerade nicht aus „Anweisungen gebenden Blechbüchsen“, sondern aus einem einzigen Individuum als dem Avatar der Künstlichen Intelligenz, welche die Menschen / die Anstalt / die Welt steuert und unter Kontrolle hält.

 

Ja, über die schablonenhaften Menschen herrscht ein Individuum, eine Persönlichkeit: hier in Detmold zurechtgemacht als bunt-schickes Partygirl mit Sex-Appeal (beeindruckend: Jorida Sorra).

 

Während die „Bio-Personen“ stumpfsinnig ihren (ernährungs-physiologisch optimierten) Brei löffeln, genießt die KI ihren Kaffee (Becheraufschrift: „Ich bin der Boss“). - Während die Insassen ihren beschäftigungtherapeutischen Wettbewerb absolvieren, plaudert die Maschine am Telefon mit ihrer Freundin …

 

Und all das in einer nüchtern-realistischen Atmosphäre glaubwürdig dargeboten. Beängstigend!

 

In dem kräftigen und wohlverdienten Schlussbeifall für alle Beteiligten schwingt womöglich auch ein Stück Erleichterung mit: Dass das alles „nur“ Theater war und jetzt, nach nur einer Stunde, vorbei ist.

 

Die Endlösung?

Ganz am Schluss gibt’s noch eine Überraschung: Die ganze Zeit musste die KI warnen, unsere Personen lägen im „Wettbewerb“ weit zurück. Doch jetzt kommt „die gute Nachricht, dass die gesamte Gruppe den Wettbewerb als SiegerInnen verlassen“ wird. Damit haben alle Anrecht auf den „perfekten Zustand gewonnen“. Man erinnert sich – jenen perfekten Zustand, von dem keiner weiß, wie er aussieht. Doch jetzt stehen die selbstfahrenden Transportmittel bereit, um die Sieger dorthin zu bringen:

 

Es gibt nichts, was Sie noch brauchen. Es wird alles gut werden. Schlaf jetzt und stör nicht. Die Welt wird besser werden.“

 

 

 

 

Landestheater Detmold – Kleine Bühne im Grabbehaus:

 

WONDERLAND AVE.

 

Schauspiel von Sibylle Berg

 

Premiere: 25. September 2019

 

Inszenierung:              Jakob Arnold
Ausstattung:               Nora Johanna Gromer
Dramaturgie:              Arne Bloch

Chor der Roboter:      Jorida Sorra
Person:                        Ewa Noack
Person:                        Heiner Junghans
Person:                        Emanuel Weber