Fast so schön wie’s im Buche steht:
Tom Sawyer und Huckleberry Finn auf der Detmolder Bühne
Damals am Mississippi
g.wasa - Detmold. - In meiner Jugend lebte ich (außer in der richtigen Welt) in drei literarischen Universen: Das größte umfasste die ganze Erde, reichte von den Pueblos der Mescalero-Apachen bis zum Silbersee und von Bagdad über Stambul bis ins Land der Skipetaren und weiter zu Zobeljägern und Kosaken; das kleinste hieß „heimlicher Grund“ und beschränkte sich auf ein verborgenes Gebirgstal in Südtirol, das verfolgten „Höhlenkindern“ Zuflucht bot; das dritte betrachtete ich schon damals als das realste, das lebensechteste: den Mittel- und Unterlauf des Mississippi, mit St. Petersburg und Hannibal als Zentren – die Heimat Tom Sawyers, Huckleberry Finns, ihrer Freunde und Widersacher und ihres Vaters Mark Twain. Als ich 30 Jahre später in die Gegend kam, wusste mein intellektuelles Hirn ganz genau, dass ich dort benzinstinkende Highways und öde Wohn- und Gewerbegebiete mit glitzernden Einkaufs-Malls vorfinden würde. Aber mein Bauchgefühl („mein romantisches Herz“ zu sagen, ist mir doch ein bisschen peinlich) hat immer noch den Ol‘ Man River erwartet, der träge an verschlafenen Käffern vorbeifließt, wo in der Mittagshitze ein Neger (heute würde ich den anders nennen) am Ufer sitzt und wartet, bis die Dampfpfeife die Ankunft des großen Schaufelraddampfers ankündigt …
Kurz: Als 13jähriger wurde ich Fan von Mark Twain und seinen zwei unsterblichen Lausbuben. Und mit 17 wurde ich – über „Dreigroschenoper“ und „Mahagonny“ – Fan von Kurt Weill und seiner Musik. Und viel später lernte ich John von Düffel zwar nicht lieben, aber doch schätzen als Autor von durchaus präsentablen Theaterstücken (vor einiger Zeit war sein „Weltkrieg für alle“ in Detmold zu sehen ).
Da hätte ich eigentlich begeistert jubeln müssen, als ich folgende Ankündigung des Landestheaters las:
Kurt Weill hatte Songs für ein Musical nach „Tom Sawyer und Huckleberry Finn“ geschrieben; und jetzt hat John v. Düffel unter Verwendung dieser Songs eine „behutsame Bühnenfassung“ erstellt und dabei „den Charme des Literaturklassikers bewahrt“.
Aber vielleicht kennen Sie ja schon meinen Abscheu gegenüber Roman-Dramatisierungen! (Dabei nehme ich es v. Düffel noch nicht mal übel, wie gemein er meine geliebten „Buddenbrooks“ gefleddert hat – aus diesem Jahrhundertroman ein aufführbares Bühnenstück zu machen und dabei auch noch „den Charme des Literaturklassikers zu bewahren“ – das schafft nun mal keiner!). Also ging ich mit einer gehörigen Portion Skepsis in dieses „Familienmusical nach Mark Twain“.
… und wurde höchst angenehm enttäuscht!
Natürlich musste eine Menge Text wegfallen – Crux jeder Roman-Dramatisierung! Und damit fehlt – unverzichtbarer!!! – Inhalt! – Gut: die berühmteste Szene ist geblieben, die sogar Eingang in Lehrbücher der Ökonomie und der Psychologie gefunden hat: Wie Tom es schafft, all seine Freunde anstatt seiner die lästige Arbeit des Zaunstreichens erledigen zu lassen, und wie er sich dafür auch noch bezahlen lässt.
Die (an-)gestrichene Glatze: (weg-)gestrichen!
Aber schon da wurde brutal gekürzt: Wenn man im Roman die Tauschgüter mal so durchzählt (von der toten Ratte bis zum kaputten Fensterrahmen), dann waren’s wohl ca. 20 Jungs, die für Tom schufteten; der Theaterbesucher wird mit zwei Jungs und einem Mädchen abgespeist; demzufolge kann sich Tom hier mitnichten „in Reichtümern wälzen“ – und damit entfällt dann auch schon die Voraussetzung für eine der bezeichnendsten Szenen des Buchs: Toms spektakulärer Auftritt in der Sonntagsschule. Das sollten Sie unbedingt nachlesen! Ebenso so manchen (gestrichenen) Streich – ob das Opfer nun Tante Pollys Katze ist oder des Lehrers Glatze. Ganze Handlungsstränge fehlen, wie etwa die Schatzsuche, ebenso winzige Gesten, die aber bedeutsame Facetten im Charakter unserer Helden bezeichnen, so wie Toms heimlicher Kuss für die schlafende Tante ...
Authentische Atmosphäre
Aber verschwundene Katze hin, gestrichene Glatze her: Autor, Komponist und – vor allem – das Landestheater Detmold haben es bewundernswerterweise geschafft, die Atmosphäre des Romans erstaunlich authentisch auf die Detmolder Bühne zu verpflanzen!
Da finde ich diese „Ol‘ Man River“-Stimmung genau so wieder, wie ich sie oben zu skizzieren versucht habe, so, wie ich sie mir von den Leseabenteuern meiner Jugend bewahrt habe: herausdestilliert aus „Tom Sawyers Abenteuer und Streiche“, aus „Huckleberry Finns Abenteuer und Fahrten“ und – vielleicht vor allem – aus Mark Twains autobiografischem „Leben auf dem Mississippi“ 1).
Diese Stimmung finde ich in der Musik des grandiosen "Muff Potter Orchestra" (schon dieser Name – ein Geniestreich!), in den von Kurt Weill komponierten Songs ("River Chanty", „Ich bin Huckle-, Huckle-, Huckleberry Finn“), auch wenn die manchmal aufgesetzt wirken, wenig in die Handlung integriert sind (so dass die im Programmheft genannte Gattungsbezeichnung „Schauspiel mit Musik“ besser passt als „Musical“).
Ausstattung
Diese Stimmung finde ich im Bühnenbild wieder, in welchem Petra Mollérus (mal wieder) perfekt die Erfordernis der Reisebühne nach Einfachheit mit dem Anspruch auf stimmige Charakterisierung des Schauplatzes verbunden hat:
Diese dörfliche Bretterwand mit all ihren Möglichkeiten; die sich in der Piratenszene öffnet und den Blick in einen weiten Himmel der Freiheit freigibt, den strahlend-blauen Himmel über dem „unbewegten, glänzenden, einsamen Meer“, als das Mark Twain den gigantischen Fluss beschreibt. – Oder dieser leicht geneigte Plankenboden: seriöse Basis für Schulzimmer und Gerichtssaal, unheimlicher Friedhofsgrund und – mithilfe einiger Klappen – abenteuerlich-beängstigendes Höhlen-Labyrinth …
Und erst die Kostüme, die von den Darstellern angelegt werden, nachdem sie zunächst einmal in ihrem Alltagsdress aufmarschiert sind (in dem sie sich am Ende auch wieder aus der Geschichte verabschieden): ein stimmiges Heraufbeschwören (ohne dass ich das jetzt auf historische Detailgenauigkeit überprüfen wollte) von diesem „God’s own country“ des späten 19. Jahrhundert (siehe Fotos) mit Highlights wie z. B. Hucks Vagabundenkostüm oder dem Ganoven-Outfit des Indianer-Joe …
Die Inszenierung
Und schließlich drückt sich diese Stimmung in zahlreichen herrlichen Regieeinfällen aus! Da sind immer wieder beeindruckende, anrührende Bilder: der Trauermarsch im Stil eines klassichen Jazz-Funeral (fast so schön, wie einst in New Orleans, im Vorspann zu – ich weiß nicht mehr welchem – James-Bond-Film);
War da noch was?
Und ob da noch was war! Die Darsteller-innen! Natürlich tragen die – alle! – ihr gerüttelt Maß zu dieser wundersamen Mark-Twain-Stimmung bei! Einzig Toms Cousin und Adoptivbruder Sid ist nun wirklich gar zu drastisch als Trottel überzeichnet! Deutlich weniger wäre deutlich besser gewesen! Aber sonst: Nicola Schubert: ein bezaubernd-pubertierender Teenie. Karoline Stegemann als jung-ver- und -geliebte Becky: man mag kaum glauben, dass die sich im „spießigen Detmold“ derart unglücklich fühlt. Natascha Mamier als altjüngferliche Tante Polly und autoritäre Lehrerin: köstlich! Robert Oschmann: welch gruseliger Indianer Joe! Markus Hottgenroth als phrasendreschender kugelbäuchiger Richter und als bärtige Matrone: grotesk-gut! Stephan Clemens als schwafelnder Pfarrer, flotter Sheriff und vor allem als größter Mississippi-Dampfer aller Zeiten: herrlich-vielseitig!
Und schließlich: Christoph Gummert (Tom) und Roman Weltzien (Huck): Lausebengel wie aus dem Buch! Die umjubelten Stars des Stücks und des Abends! Angesichts dieses Huckleberry kommt kaum einer auf die Idee, dass das Leben eines eltern- und obdachlosen, von der guten Gesellschaft verachteten Jungen in der Realität sicherlich nicht nur Freiheit und Abenteuer bedeutet(e).
Ebensowenig, wie man sich in dieser Inszenierung daran stört, dass das Roman-Ende hier in sein Gegenteil verkehrt wird – eher ist man versucht, mal wieder Marx zu paraphrasieren und zu sagen: Dieser Schluss wurde vom Kopf auf die Füße gestellt.
- Eigentlich wollte ich Ihnen als leicht greifbare Quelle für Twains "Leben auf dem Mississippi" die Veröffentlichung im „Projekt Gutenberg“ empfehlen; doch steht dort (wohl aus Lizenzgründen) eine Übersetzung von Robert Lutz aus dem Jahr 1900 – leider eine sehr behäbige, ja unbeholfene Übertragung. Deshalb: leisten Sie sich die paar Euro und schaffen sich lieber eine neuere an, etwa von Lore Krüger im Aufbau-Verlag.
Landestheater Detmold:
Tom Sawyer und Hucklebery Finn
Schauspiel mit Musik nach Mark Twain
Musik von Kurt Weill
Buch und Gesangstexte von John von Düffel
Originalliedtexte von Maxwell Anderson
Musikalische Leitung: David Behnke
Musikalische Einrichtung: Wolfgang Böhmer
Regie: Rainer Holzapfel
Ausstattung: Petra Mollérus
Dramaturgie: Christian Katzschmann
Tom: Christoph Gummert
Huck: Roman Weltzien
Lehrer / Tante Polly: Natascha Mamier
Amy: Nicola Schubert
Becky: Karoline Stegemann
Ben / Sheriff / Pfarrer: Stephan Clemens
Richter Thatcher / Mrs. Harper: Markus Hottgenroth
Sid / Dr. Robbins: Hartmut Jonas
Pit / Indiana Joe: Robert Oschmann
Muff Potter / Witwe Douglas: Joachim Ruczynski
Extrachor: Inga Fortanier / Julia Hinze / Kuntaek Hong / Doris Maria Ritter
Muff Potter Orchestra:
E-Piano, Orgel: David Behnke
Drums, Vibraphon, Xylophon: Konstantinos Argyropoulos
E-Gitarre, Banjo: Tim Büchsenschütz / Steffen Kegel
Saxophon, Klarinette: Thorsten Floth / Thomas Krause
Bassklarinette, Klarinette, Flöte, Piccoloflöte: Anja Heix / Thomas Krause
Kontrabass, Tuba: Ingo Otte
Trompete: Matteo Scurci