Marivaux: „ Der Streit“

Tiefschürfendes Puppenspiel auf der Grabbe-Bühne

(Eglé / Johannes Rebers – Azor / Lea S. Geier –Diener / Patrick Hellenbrand - Carise / Ewa Noack // alle Fotos:Marc Lontzek / Landestheater)

„Mann & Frau“ oder „hoch & niedrig“

 

LSGBTDQIXA* - Wer bin ich und wenn ja wieviel von was?

 

(g.wasa   -   Detmold.)     Wie schwierig ist es heutzutage, jemanden (womöglich: sich selbst) auf der breiten Gender-Skala einzuordnen? Da konnte es sich Marivaux einfacher machen, als er anno 1774 seine Komödie „Der Streit“ (La Dispute) veröffentlichte. Da gab es den Mann und die Frau; und deren jeweilige Charakter-(Selbst-)Bilder waren auch ziemlich klar: Die Männer: „verwegen genug, um über nichts mehr zu erröten“; die Frauen: mit „natürlichem Schamgefühl und natürlicher Zurückhaltung“.

 

Gravierender als die Unterschiede zwischen den Geschlechtern waren damals (und nicht nur Sahra Wagenknecht würde sagen: auch heute noch) die sozialen Unterschiede. Im Erscheinungsjahr von „La Dispute“ bestieg Ludwig XVI. den französischen Thron, der letzte absolutistische König vor der großen Revolution von 1789. Der Großteil der Bevölkerung bestand aus armen, weitgehend rechtlosen Untertanen, über die eine dünne, unverschämt reiche Adelsschicht mit kaum beschränkter Willkür herrschte. – Schließlich gab es noch den rassistisch grundierten Unterschied zwischen Freien und Sklaven; erst drei Jahre nach „La Dispute“ hat Ludwig XVI. den Import von Sklaven verboten; doch „im Adel war die Haltung von schwarzen Haussklaven weiterhin üblich“ (mehr).

 

Zurück zum „Streit der Geschlechter“: Eine Frage blieb noch offen: Welches von den beiden Geschlechtern hat „das erste Beispiel für Unbeständigkeit und Untreue in der Liebe gegeben?“ – Womit wir bei dem Streit bzw. der mit „Streit“ betitelten Geschichte wären:

 

Die Geschichte (1)

Prinz / Patrick Hellenbrand – Hermiane / Lea S. Geier

Wir sind am Hof eines nicht näher benannten Fürsten (französisch: „prince“, was gerne – nicht ganz falsch, aber eben auch nicht korrekt - mit „Prinz“ ins Deutsche übersetzt wird). Und dieser Fürst will die Streitfrage endgültig beantworten. Da trifft es sich gut, dass es diesen Disput schon am Hofe des Vaters gab. Und der hat sechs Neugeborene – drei Jungen, drei Mädchen – jedes für sich in völliger Abgeschiedenheit aufziehen lassen. Jetzt sind die Kinder 18, und der Fürst beschließt, sie „aufeinander los zu lassen“. Zusammen mit Hermiane (= wohl seine Geliebte) beobachtet er, wie sich das Zusammen-, insbesondere das Liebesleben seiner Versuchskaninchen entwickelt.

 

Das Ergebnis dürfte den vorurteilsfreien Betrachter von heute nicht überraschen. Der Fürst kommt zum Schluss: „Die beiden Geschlechter haben sich nichts vorzuwerfen. Laster und Tugenden sind gleichmäßig unter ihnen verteilt.

Mesrin / Ewa Noack - Azor / Lea S. Geier

 

 

Auf dem Weg von den einleitenden Szenen bis zu dieser   Erkenntnis in der letzten, der 20. Szene führt uns Marivaux durch ein Kaleidoskop von zwischenmenschlichen Beziehungen, durch ein Panorama menschlicher Schwächen, aber auch durch ein Feuerwerk funkelnder Dialoge in einer „graziös verspielten Sprache“ voll „witziger Tändelei“, für welche die Literaturgeschichte einen eigenen Begriff gefunden hat: die „Marivaudage“. – Hier lohnt sich ein kleiner Seitenblick auf den Autor:

Der Autor

Pierre Carlet de Chamblet de Marivaux (1688 – 1763) gilt als wichtigster französischer Dramatiker des Rokoko. Er gab Zeitschriften heraus, schrieb Romane und über 30 Stücke, die zu seiner Zeit großen Erfolg hatten, nach seinem Tod aber weitgehend in Vergessenheit gerieten. In den 1970er Jahren wurde er – zunächst von Luc Bondy und Patrice Chéreau wiederentdeckt und seither wieder häufiger gespielt.

 

Geblieben ist der Begriff der Marivaudage, womit zunächst ein „überspitzter, gezierter, geschraubter“ Stil verspottet wurde, während man später eher eine elegante, selbstironische, durchaus auch tiefschürfende Sprache verstand.

Überhaupt können seine Stücke als (psychologisch) tiefschürfend bezeichnet werden. Während Molière 70 Jahre früher feststehende „Typen“ gestaltet hat, schuf Marivaux sich entwickelnde Charaktere. - Bei Molière müssen die Liebenden (äußere) Hindernisse überwinden, bis endlich das Stück (wie der klassische Hollywoodfilm) mit dem Happy End endet. Bei Marivaux fängt die Beziehung (wie etwa bei Strindberg oder Albee) „nun erst an, schwierig zu werden; er beschäftigt sich mit den langwierigen Umwegen der Gefühle. Er beobachtet, wie die Personen aufeinander wirken und sich dabei entwickeln: seelische Experimente in der Retorte.“ … „Jedes meiner Lustspiele hat den Zweck, die menschliche Eigenliebe aus einem verborgenen Winkel herauszuholen“ (Hensel, 270 ff.)

 

Die Geschichte (2)

„Der Streit“ ist ein Musterbeispiel für diese Marivaux’sche Dramaturgie: Hier wird die Beobachtung der „seelischen“, besser: psychologischen Experimente als „Mise en abyme“, als „Stück im Stück“ in die Handlung integriert, wenn sich der Fürst und Hermiane sozusagen ins Publikum zurückziehen, um das Menschlich-Allzumenschliche ihrer Versuchskaninchen zu beobachten. Dabei mag der Autor seinem Protagonisten zum Schluss zwar in den Mund legen, beide Geschlechter erwiesen sich als charakterlich gleich. Allerdings mag manche Zuschauerin kritisch anmerken, man erkenne schon, dass die Geschichte von einem Mann geschrieben wurde.

Eglé / Johannes Rebers

Wenn die männlichen Versuchsobjekte, Azor und Mesrin, aufeinandertreffen, so merken sie schnell, dass sie beide nicht für eine gemeinsame Liebe geschaffen sind – und schließen eine kumpelhafte Freundschaft; da fehlt nur noch das gemeinsame Bier.

 

Dagegen die Frauen: Die erste, Eglé, bewundert ihr eigenes Bild. An dem ihr zugedachten Partner, Azor, liebt sie allenfalls, dass dieser sie bewundert. Selbst auf die Detmolder Maskenbildnerin wirkt diese selbstgefällige Narzistin offenbar so abstoßend, dass sie der angeblich strahlenden Schönheit eine dicke hässliche Warze verpasst. Und als Eglé erst auf ihre Leidensgenossin Adine trifft, entwickelt sich ganz schnell ein Zickenkrieg vom Feinsten!

 

Adine / Patrick Hellenbrand - Mesrin / Ewa Noack

So treibt Marivaux die vier durch immer wechselnde Konstellationen, wobei die einzelnen bedenkenlos die bisherigen Partner verraten und sich den andern umso lieber an den Hals werfen, als sie damit den Rival*inn*en eins auswischen können.

 

So lange, bis die Zuschauerin Hermiane empört ihren Beobachtungsposten verlässt: „Diese Adine und diese Eglé sind unerträglich; meinem Geschlecht werden wohl kaum hassenswertere Geschöpfe angehören“.

 

Jetzt endlich treten die letzten zwei Versuchskaninchen auf: Dina und Meslis. Und die retten die Ehre der Menschheit, indem sie den Versuchungen der anderen widerstehen und sich treu bleiben. - Und nun gibt’s doch noch ein Happy End: Der Fürst und Hermiane werden künftig für das Wohl dieser beiden sorgen, wohingegen das Schicksal der anderen vier ungewiss bleibt; der Fürst befiehlt lediglich mit diesen „gemäß seiner Befehle“ zu verfahren – was verschiedene Regisseure unterschiedlich interpretiert haben: meist werden die vier einfach „weggebracht“, gelegentlich auch wieder eingesperrt; bei Chéreau (1973) verfallen sie dem Wahnsinn; bei einem Puppenspiel am Bayerischen Staatsschauspiel (2018) wurden die Puppen am Ende auseinandergebaut, ein Kommentator meinte: seziert; in einigen Inszenierungen werden sie gar wie Katzen im Bach ersäuft.

Die Detmolder Inszenierung

Eglé / Johannes Rebers - Adine / Patrick Hellenbrand

 

 

Angekündigt ist eine „Mischform aus Schau- und Puppenspiel“ – eine am Detmolder Landestheater eher ungewöhnliche Darstellungsform. Passt das? Da ja die Jugendlichen Marionetten des Fürsten seien? – Eben nicht! Denn mit Beginn des Stückes sind sie ja gerade nicht mehr Marionetten, sondern sollen sich vielmehr selbständig entwickeln. Lassen wir die Diskussion, inwieweit die Geschöpfe (!) durch 18 seltsame Entwicklungsjahre geprägt und insofern Marionetten ihrer eigenen Vergangenheit sind …)  

Eglé / Johannes Rebers – Carise / Ewa Noack

Regisseurin Veronika Thieme assoziiert jedenfalls die Versuchskaninchen mit Puppen, denn die anderen – der Fürst, Hermiane sowie das Dienerpaar, welches die Kinder aufzieht – sind „normale“ Schauspieler. Im Originaltext sind die Diener – zu damaligen Zeiten: wohl Sklaven (s. o.) – Schwarze. So sollte den Kindern die Illusion der Einzigartigkeit erhalten bleiben, da die Dunkelhäutigen ja „anders“ seien – eine Lesart, die heute wohl auf Rassismus-Vorwürfe stoßen würde! In Detmold hat man eine kluge Alternative gefunden: die beiden sind durch Outfit (Arzt-Kittel) und Accesoirs (Klemmbrett für (Patienten?-)Akten) als Betreuungs-Personal charakterisiert.

Adine / Patrick Hellenbrand

Auch den Jugendlichen belässt Regisseurin Thieme (studierte Schau- und Puppenspielerin) den Einsatz ihrer eigenen Körper, gibt ihnen nur „Klappmaulköpfe“ in die Hand, die sie „kontrollieren und animieren müssen“. – „Sie machen das auch großartig“, urteilt die Fachfrau, vielleicht nicht ganz unvoreingenommen, doch der umso kritischere Zuschauer-Laie mag ihr hier gerne zustimmen – wie überhaupt die Schauspielerleistung durchweg zu loben ist.  

 

Durch die Kombination von echten Körpern und Kunst-Köpfen entstehen „spannende Mischwesen“, wobei Thieme die „Mischung“ noch sehr viel weiter treibt, indem sie die Männer von Frauen spielen lässt und umgekehrt. Da die Puppengesichter bewusst „androgyn“ gestaltet und da die Kostüme sich ähnlich sind, sind die Personenkombinationen auf der Bühne für den Zuschauer gelegentlich recht verwirrend. Zumal die acht Rollen auf nur vier Darsteller verteilt sind, wobei der Schauspieler Patrick Hellenbrand mal den Fürsten, mal den Diener Mesrou (also Männer und ohne Masken) spielt, mal die junge Frau Adine (mit Maske). Oder: Ewa Noack ist mal Dienerin Carise (ohne Maske), mal der junge Mann Mesrin (mit Maske) usw. (Die Namensähnlichkeit – Mesrou – Mesrin – Meslis – ist auch nicht gerade hilfreich.) 

 

Bei Marivaux ist der Schauplatz eine abgelegene (man möchte meinen: idyllische) Gegend mit einem Bach (der als Spiegel dient).

Eglé / Johannes Rebers – Azor / Lea S. Geier

Auf der kleinen Bühne im Grabbehaus findet sich – neben einer Chaiselongue – lediglich eine Wand aus 13 hellen Rechtecken, die jeweils um ihre vertikale Achse drehbar sind, so dass auch mal die rote Rückseite nach vorne gedreht werden kann.  Vor allem lassen sich die Elemente durch Drehung so öffnen, dass Fenster oder auch Durchgänge in der Wand entstehen. Hinter der Wand können die Jugendlichen im Verborgenen agieren – und man könnte meinen, dass sie sich dort gelegentlich sehr nahe kommen.

Der Schluss

Die Detmolder Inszenierung verweigert ein (offensichtliches) Happy End. Die „guten“ Jugendlichen – Dina und Meslis – tauchen nicht auf. Laut Internet-Vorankündigung sollten sie von Patrick Hellenbrand und Lea Sophia Geier gespielt werden. Im ausgedruckten Programm sind sie bereits gestrichen – also offenbar eine kurzfristige Um-Entscheidung. Warum?

 

Und die anderen vier? 

Mesrin / Ewa Noack - Azor / Lea S. Geier - Diener / Hellenbrand - Eglé / Johannes Rebers

Gegen Ende werden die Wand-Elemente mal so gedreht, dass man meinen könnte, sie bildeten Zellen, in welche die vier (wieder) gesteckt werden.

 

Und dazu ertönt das zutiefst pessimistisch-zynische „Gelernt“ von „Käptn Peng & Die Tentakel von Delphi“:  

 

„….  Sie füttern dich mit einem Bild von der Welt
Bis du es irgendwann selbst für die Wirklichkeit hältst

Und was du brauchst, wird dir niemand geben
Wer du bist, kann dir nie jemand nehmen
Und was du suchst, wird dir nie jemand zeigen
Und was du glaubst, wird dir niemand beweisen
Denn was wir sind, hat noch niemand verstanden
Und was du fühlst, passt in keinen Gedanken
Und wer du bist, wirst du niemals ergründen“

 

Was das zu bedeuten hat? – Das mag jeder für sich interpretieren.

 

Nochmal: „Mann ./. Frau“ und „hoch ./. niedrig“ oder:

Der Streit“ = ein „Gender-Stück“?

Carise / Ewa Noack – Diener / Patrick Hellenbrand

Was will uns die Regisseurin mit ihrer Inszenierung sagen? Die Frage sei diesmal erlaubt, da sie von Thieme im Programmheft ausdrücklich beantwortet wird: „… dass unsere Zuschauer*innen sich mit Leichtigkeit, Lust und Humor der Frage nähern, ob man nicht seine männlichen und weiblichen Anteile freier ausleben könnte“. Durch die „spannenden Mischwesen … verwischen die Grenzen“. Nicht mehr Männer und Frauen begegnen sich, „sondern menschliche Wesen“.

 

Damit stellt sie die ursprüngliche Intention des Stücks auf den Kopf, die gerade darauf gerichtet war, Unterschiede zwischen Männern und Frauen herauszustellen (ganz klar etwa in den Ausführungen Hermianes oder in Szene 13 wo es den zwei Männern schnell klar wird, dass es zwischen ihnen keine Liebe geben kann).

 

Aber egal. Natürlich darf das Regietheater ein in seiner Zeit (vor 280 Jahren) verwurzeltes Stück mit der geänderten Realität unserer Gegenwart konfrontieren. Und die LSGBTDQIXA*-Thematik ist derzeit nun mal en vogue. Zwar scheinen gerade die TIQ-Menschen – um die es hier vor allem geht – nur eine winzige Minderheit darzustellen (nach ZEIT; Ärzteblatt). Doch führt ihre mediale Präsenz wohl dazu, dass auch Theaterleute gerne auf diesen Zug aufspringen – so auch Thieme, wenn sie dekretiert:

 

„… die Gesellschaft hat sich daran zu gewöhnen, dass das (= nichtbinäre Geschlechtsidentitäten) jetzt immer häufiger vorkommen wird und muss“.

 

Warum muss ich dabei schon wieder an Sahra Wagenknecht denken? An ihre Philippika gegen die „Lifestyle-Linken“, die sich heftig und intolerant für „Diversität“ und „Cancel Culture“ einsetzen, sich aber kaum mehr für „die Klassenfrage“ (ich würde eher sagen: die soziale Frage) interessieren? In diesem Fall: Für den unsäglichen Vorgang, dass ein absolut(istisch)er Fürst sechs unschuldige Kinder und Jugendliche über zwei Jahrzehnte hinweg isolieren, für ein Menschenexperiment gebrauchen und sie in netter Gesellschaft dabei voyeuristisch begaffen darf, nur um eine (akademische) Streitfrage zwischen adeligen Nichtsnutzen zu klären?  

 

Lange her seit 1774. 15 Jahre später erwuchs aus diesen Verhältnissen die Revolution mit den Prinzipien „Liberté,  Égalité, Fraternité“. Doch die konnten sich damals schon nicht durchsetzen. Und heute?

 

 

 

 

Landestheater Detmold – Bühne im Grabbe-Haus:

 

Der Streit

Komödie von Pierre Carlet Chamblain de Marivaux

Aus dem Französischen von Peter Stein

 

Besetzung

 

Inszenierung    Veronika Thieme

Ausstattung    Ulrike Langenbein

Dramaturgie    Sophia Lungwitz

Maske    Kerstin Steinke

Licht    Patrick Pilarski Dirk Pysall

 

Schauspiel:           Hermiane     Lea Sophia Geier

Schauspiel:           Prinz/ Mesrou, Diener    Patrick Hellenbrand

Schauspiel:           Carise      Ewa Noack

Puppenspiel:         Eglè      Johannes Rebers

Puppenspiel:         Azor, Meslis      Lea Sophia Geier

Puppenspiel:         Adine, Dina      Patrick Hellenbrand

Puppenspiel:         Mesrin      Ewa Noack

 

 

weitere Aufführungen:

 

jeweils 19:30 Uhr im Grabbehaus:

 

Sa, 12.02.22

Di,  22.02.22

Do, 24.02.22

Fr. 25.02.22

Sa, 09.04.22

 

Zum letzten Mal

So, 10.04.22, 18:00 Uhr